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»Die ganze Altstadt wird von Wasser umspült, und nirgendwo gibt es einen Zaun?« Ben stand vor der Altstadtschule und starrte in die braunen Fluten, die sich ungeniert über den Innkai durch den kleinen Torbogen beim Schaiblingsturm wälzten. Das Flussbett war bereits zu klein geworden, das Wasser nutzte seine Kraft und breitete sich aus, wo es die kleinste Möglichkeit dazu gab. »Da kann doch jedes Kind, jeder Besoffene reinfallen.«
Markus konnte Bens Befremden nicht nachvollziehen. Für ihn als Passauer waren die zaunlosen Ufer normal. Unglücksfälle, wie Ben sie beschrieb, waren selten. Dass Sara versehentlich in den Fluss gestürzt sein könnte, daran hatte Markus keine Sekunde lang geglaubt. Allerdings war von allen Anwohnern rund um das »Schloss Ort«, die sie bislang befragt hatten, niemandem etwas aufgefallen, das mit Saras Tod zu tun haben könnte – und eine Bestätigung dessen, was Nina und Tim behauptet hatten, gab es schon gar nicht. Die Menschen waren zu sehr damit beschäftigt, sich auf das angekündigte Hochwasser einzustellen: Sandsäcke und Alupaneele wurden bereitgelegt, Keller ausgeräumt, Urlaube abgesagt.
Markus war froh, dass sein Vater ihm erlaubt hatte, Ben bei der Befragung zu begleiten – nicht als Polizist, sondern als Ortskundiger, sozusagen als Bens Guide. Obwohl Markus sich seinen Urlaub anders vorgestellt hatte und er seinen Dienst in München erst wieder in zwei Wochen antreten musste, lag ihm viel daran, bei der Aufklärung von Saras Tod behilflich zu sein.
»Normalerweise liegt der Wasserpegel deutlich tiefer. Dann ragen entlang des Ufers auch Felsbrocken aus dem Wasser.« Jetzt waren Gehweg und Wasseroberfläche auf einer Höhe, der Innkai war am Schaiblingsturm und in Höhe Waisenhaus bereits überflutet, alle Zugänge zwischen Ortsspitze und Marienbrücke waren gesperrt. Bens und Markus’ Füße steckten in Gummistiefeln, überall standen Gaffer und fotografierten. Markus zwinkerte Ben zu. Ortsfremden wurde beim Anblick der Naturgewalten ausnahmslos mulmig zumute. Bei Ben war das nicht anders. »Kann gut sein, dass am Mittwochabend die Felsen noch aus dem Wasser geragt haben.«
»Wer sagt, dass sie hier ins Wasser gefallen ist?«
»Das wäre am naheliegendsten, oder etwa nicht?«
Ben watete ein paar Meter weiter Richtung Ortsspitze. »Das schließt dann allerdings nahezu aus, dass es Suizid war, und wenn du nicht an ein Unglück glaubst, bleibt nur noch die andere Möglichkeit.«
Markus nickte schweigend. Die Vorstellung, dass Sara einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, befremdete ihn. Er wollte nicht wahrhaben, dass so etwas in seinem persönlichen Umfeld passiert sein konnte. Sie mussten unbedingt mit Laurenz sprechen. Hoffentlich hatte er sich mittlerweile auf dem Kommissariat gemeldet.
Auf einmal blitzte die Sonne zwischen den Wolken hindurch und tauchte die Szenerie in ein bizarres Licht. Vor der weiß getünchten Steinmauer des »Ateliercafé Andreß« saßen zwei Damen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, und beobachteten die steigenden Wassermassen: Die ältere im cremefarbenen Kaschmirmantel und mit überdimensionaler weißrandiger Brille sah mit ihren rot geschminkten Lippen und dem grauen Haaransatz aus wie Glenn Close in »101 Dalmatiner« – sehr glamourös. An der jüngeren war alles schlicht, die personifizierte Natürlichkeit, auf ihre eigene Art hinreißend, trotzdem sah sie, fand Ben, etwas verlottert aus.
Die Damen lachten, als sie die beiden jungen Männer kommen sahen, und prosteten ihnen mit ihren Aperol Spritz’ zu.
»Das ist Vallis Mum«, raunte Markus Ben zu, ehe sie die Damen erreichten.
Die Messi-Mum!
Bens Blick pendelte zwischen den Frauen hin und her. Es konnte nur die jüngere sein. Ein bisschen Make-up und weniger Bio, und sie wäre eine Schönheit, dachte er überrascht.
»Hi, Joja!« Markus nickte der jüngeren Frau zu. »Josefa.« Vor Glenn Close verbeugte er sich und hauchte einen Kuss auf deren Handrücken. »Küss die Hand«, sagte er in reinstem wienerischen Dialekt. »Alles im Griff?« In einer weitläufigen Bewegung umfasste er den reißenden Inn hinter sich.
Die Damen nickten und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. »Wir sind vorbereitet«, sagte die Ältere abgeklärt.
Ben wunderte sich ob der Entspanntheit. Ihn machte das Tosen im Rücken definitiv nervös.
Markus blieb locker. »Das ist der neue Mann meines Vaters. Ben Bruhan.«
»Ah!« Joja reichte Ben die Hand und lachte. »Freut mich. Meine Tochter hat mir bereits einiges von Ihnen erzählt.«
»Sicher nichts Gutes«, erwiderte Ben. Jojas Lachen war ansteckend. Er mochte sie auf Anhieb, konnte sich kaum von ihrem Anblick losreißen, obwohl er normalerweise nicht das Geringste für Alternativtusneldas übrighatte.
»Wir sind wegen Sara hier.« Markus killte mit einem Schlag jede Fröhlichkeit und wandte sich an Josefa Andreß. »Ist dir in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag etwas aufgefallen? Nach Mitternacht?«
Joja stand auf. »Ich lass euch dann mal lieber einen Augenblick allein.« Als sie im Garten des Cafés verschwand, sah Ben ihr bewundernd nach. Von hinten hätte niemand ahnen können, dass die Frau mindestens vierzig Jahre alt war.
»Joja hat mir schon erzählt, was passiert ist«, begann Josefa Andreß. »Einfach schrecklich.« Sie bot Ben den freien Platz neben sich an. »Wissen Sie, mein Atelier liegt hier im Parterre zur Innseite hinaus. Am liebsten arbeite ich bei offenen Fenstern, das Rauschen des Wassers inspiriert mich. Manchmal bis spät in die Nacht, obwohl natürliches Licht freilich besser ist.«
»Und in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag haben Sie auch gearbeitet?« Ben hätte gern ein Gläschen mitgetrunken, die Sonne protzte kurz mit ihrer Kraft, zeigte den schweren Regenwolken um sie herum eine lange Nase.
Die Andreß nickte. »Die mondhellen Nächte sind mir die liebsten. Die Spiegelungen auf dem Wasser … Wissen Sie, wie das Wasser, so spiegeln sich auch meine Hinterglasbilder.« Sie lachte perlend, als sie die Ungeduld in den Gesichtern der jungen Männer bemerkte. »Nachts flanieren viele Pärchen am Innkai entlang. Wenn ich jedem hinterhersehen würde, käme ich nie zum Arbeiten. Aber in dieser Nacht ist mir tatsächlich etwas aufgefallen: Kurz nach zwölf flogen zwei Vöglein auf der Balz in meinen Garten. Das passiert öfter, und normalerweise bin ich recht kulant, aber diese beiden Turteltäubchen trieben es mir wahrlich zu bunt. Das junge Gefieder, präpotent, so würde ich sagen.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Als das Tische- und Stühlerücken zu laut wurde, war ich so frei, mich bemerkbar zu machen. Da sind die Vögel in Richtung Schaiblingsturm weitergeflogen.«
»Konnten Sie jemanden erkennen?« Ben sah Josefa Andreß an wie ein junger Hund, der darauf wartet, dass Frauchen endlich den Futternapf vor ihm abstellt.
»Der Mond schien hell, aber nein, nur Silhouetten. Das Mädchen war gut einen halben Kopf größer als der junge Mann, mehr konnte ich nicht sehen.«
Markus nickte Ben zu, was so viel hieß wie: Das müssen Laurenz und Sara gewesen sein, und das wiederum würde die Aussagen von Nina und Tim bestätigen.
»Haben Sie die beiden später noch einmal gesehen?«
»Nein. Ich bin dann gleich ins Bad und hab mich für die Nacht gerichtet.«
Ben stand auf und zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche. Da seine eigenen noch nicht gedruckt waren, überreichte er der Andreß eine von Kroners. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns.«
»Sehr gern, junger Mann.« Josefa Andreß lächelte majestätisch, die österreichische Einfärbung ihrer Sprache passte perfekt zu ihrer Person. »Und Markus, grüß mir den Herrn Papa.«
Als sie außer Sichtweite waren, stieß Markus Ben in die Seite. »Also hatten Tim und Nina recht. Laurenz und Sara haben hinter der Pappel … Direkt am Innkai, unglaublich!«
Ben nickte, konnte aber Markus’ Aufruhr nicht nachvollziehen. Etwas anderes beschäftigte ihn. »Wer kauft denn in unserer Zeit noch Hinterglasbilder? Das hört sich total spießig an.«
Markus lachte. »Das habe ich auch immer gedacht, aber die Andreß macht nicht diese stereotypen Heiligenbildchen, an die wir bei Hinterglasmalerei sonst denken. Ihre Werke sind modern, gegenständlich, witzig und karikierend, manchmal auch zynisch, und es stimmt, was sie sagt: Das Spiegelnde macht aufmerksam, lässt den Betrachter immer neue Seiten ihrer Werke entdecken.«
Ben blieb stehen und sah seinen Freund von der Seite ungläubig an. »Was ist denn mit dir los?«
»Was denn?« Eros zuckte mit den Schultern.
»Dass du ein Kunstkenner bist, ist mir bislang entgangen.«
»Bin ich auch nicht wirklich.« Es klang entschuldigend. »Aber Vallis Mum ist Josefas beste Freundin und hat Malerei und Bildhauerei an der Kunstakademie in München studiert. Da schnappt man einiges auf.«
»Sie sieht nicht aus, als ob …«
Markus blieb stehen. »Als ob was?«
»Als könne sie ihr Chaos nicht beherrschen.« Ben kratzte sich verlegen am Kopf.
»Du meinst Joja?« Markus grinste. »Sie gefällt dir, was?«
»Sie ist schön, ja, aber …« Ben hatte sich vor Valli nichts anmerken lassen, aber der Gedanke, dass Menschen nicht fähig waren, in ihrem Leben aufzuräumen, stieß ihn ab. »Wovon leben sie eigentlich?«
»Die Andreß lebt gut von ihrer Kunst, sie hat –«
»Ich meinte Joja und Valli«, unterbrach Ben.
»Ach so. Joja ist gut in dem, was sie tut, aber sie hat kein Händchen fürs Geschäft. Sie kann nur selten Bilder oder Skulpturen verkaufen, und wenn, dann hat meist ihre Freundin Josefa die Finger im Spiel.«
»Und wovon leben sie dann?«
»Valli jobbt, seit ich denken kann, und Joja verkauft stundenweise auf der Veste Oberhaus Eintrittskarten für den Aussichtsturm. Trotzdem reicht es hinten und vorn nicht. Wenn jemand nicht monatlich zweihundert Euro in Jojas Briefkasten stecken würde, müssten sie vermutlich Hartz IV beantragen.«
»Jemand legt Geld in ihren Briefkasten?« Ben war fassungslos. »Anonym?«
»Klar anonym, sonst wüsste ich ja, von wem es kommt. Ich habe die Andreß in Verdacht, aber die gibt es nicht zu. Es könnte natürlich auch Vallis Erzeuger sein. Joja macht ein Riesengeheimnis um ihn. Keine Ahnung.«
Sie gingen weiter. Das Rauschen der Wassermassen machte eine Unterhaltung fast unmöglich.
»Joja macht außerdem in mittelalterlicher Robe Stadtführungen. Die Touristen lieben sie, davon könnte sie leben, aber ihr Herz gehört der Malerei. Sie macht höchstens zehn oder zwölf solcher Führungen im Jahr, obwohl sie dreimal so viele Anfragen hat.«
Ben nickte, fummelte sein Handy aus der Hosentasche. »Ich rufe jetzt im Kommissariat an. Vielleicht hat sich dieser Laurenz ja endlich gemeldet. Solange wir mit ihm nicht gesprochen haben, macht alles Weitere keinen Sinn.«