15
»Stimmt es?« Laurenz’ Stimme zitterte. »Das mit Sara?«
Valli nickte. Sie saß hinter der blitzblanken Glasfront des »Oberhauses« und hatte lange durch den Regen auf die Altstadt hinuntergeschaut. Die unterschiedlichen Farben der drei Flüsse zeigten sich im anschwellenden Wasser nicht mehr ganz so deutlich wie sonst: Die Ilz im dunklen Moormantel kam von links, der grüne Inn aus den Alpen von rechts, und die gewaltige blaue Donau floss in der Mitte. Von hier oben sah man, wie der mächtige Inn die Donau beiseitedrängte, sie regelrecht aufstaute.
Laurenz fiel Valli gegenüber auf einen Stuhl. Die Wirtschaft war gerammelt voll, Stimmen überschlugen sich. Touristen. Ausflügler. Schaulustige. Von ihnen kamen viele nach Passau, wenn Hochwasser die Stadt heimsuchte, und außerdem ließ sich so nebenbei das neueste Ausflugslokal testen. Das »Oberhaus« hatte erst vor ein paar Tagen eröffnet.
Valli vermisste ein bisschen das Flair des alten, heruntergekommenen »Burg Cafés«, das vor dem »Oberhaus« hier oben beheimatet gewesen war, obwohl die Einrichtung, die Aussicht und das Essen im neuen Etablissement phantastisch waren. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Unter Laurenz’ Augen lagen schwarze Schatten, seine sonst olivfarbene Haut wirkte fahl, die dunklen Haare klebten an seinem Kopf. Nur das Muttermal, das wie bei Cindy Crawford neben dem linken Mundwinkel prangte, hauchte seinem Gesicht etwas Leben ein, ließ ihn aber umso verletzlicher wirken.
»Am Donnerstagmorgen … in Jochenstein …«
Laurenz ließ den Kopf hängen, blinzelte. »Also ist sie deshalb nicht gekommen. Und ich dachte …«
Valli griff über den Tisch nach seiner Hand. Sie war froh gewesen, dass Laurenz, nachdem sie bei dessen Großeltern kurz am Telefon mit ihm gesprochen hatte, zu dem Treffen bereit gewesen war. Doch je länger sie auf ihn gewartet hatte, desto mulmiger war ihr zumute geworden. »Es tut mir leid, Laurenz, aber … du warst vielleicht der Letzte, der Sara lebend gesehen hat. Du musst dich bei der Polizei melden. Geh zu Hauptkommissar Kroner, der ist in Ordnung.«
Laurenz starrte auf Vallis Hände, fühlte deren Wärme wie Feuer auf seiner kalten Haut. Wie lang schon hatte er sich das gewünscht!
»Hörst du mir überhaupt zu? Du musst zur Polizei gehen. Sie suchen nach dir.«
Ihre Haut war so glatt, so weich, so makellos. Laurenz’ Herz begann, wild zu schlagen. Von dieser Berührung hatte er jahrelang geträumt.
»Laurenz! Was ist los?« Valli wollte sich aus Laurenz’ Griff befreien, doch er ließ nicht locker. Valli riss ihre Hand mit Gewalt weg, sprang auf. »Was ist mit dir?«
Allmählich erwachte Laurenz aus seiner Starre und sah Valli aus glasigen Augen an. »Tut mir leid«, stammelte er. »Ich … ich kann das nicht glauben. Sara und ich, wir …«
Valli setzte sich wieder, musterte Laurenz. »Was war mit Sara und dir?« Ein feiner Schleier des Misstrauens schlich sich in ihre Gedanken wie Nebel an einem kühlen Morgen.
»Ich hab dir doch von der Watzmannüberschreitung erzählt?«
Valli nickte.
»Sara wollte mitkommen. Ganz spontan.«
»Direkt nach dem Klassentreffen? Ich dachte, das war ein Scherz. Du warst total zugedröhnt, Sara war auch nicht gerade nüchtern, und da wolltet ihr so eine schwere Tour gehen?«
Laurenz lachte zynisch. »Ab und an im Leben sucht man nach Grenzerfahrungen, und wir konnten beide eine solche gebrauchen, verstehst du?«
»Warum?«
»Warum?« Er raufte sich die Haare. »Mein Gott, Sara hat einen Haufen Scheiße hinter sich, und ich …« Laurenz brach ab, als die Bedienung auftauchte und nach ihrer Bestellung fragte.
»Eine Cola, bitte.«
»Für mich nichts mehr. Danke«, sagte Valli schnell und hätte der jungen Kellnerin am liebsten in ihren entzückenden, kleinen Arsch getreten. »Was wolltest du sagen?«
»Ach, egal.« Er winkte ab. »Sara kam jedenfalls nicht zum Treffpunkt. Sie sollte mich am Burgparkplatz abholen, um fünf. Ich hab bis halb sechs gewartet, bin dann heim, hab mir das Auto geschnappt und bin nach Landshut gefahren. Ich dachte, sie hätte es sich anders überlegt, wäre lieber ins Bett gegangen oder was auch immer …« Er starrte durch die Glasfront in den Regen.
»Aber dann hat sie sich nie und nimmer umgebracht«, sagte Valli mehr zu sich selbst als zu Laurenz.
»Die Polizei geht von Selbstmord aus?«
Valli schüttelte den Kopf. »Sie erwägen nur alle Möglichkeiten.« Sie überlegte. »Warum bist du überhaupt nach Landshut gefahren? So früh?«
»Allein hatte ich keine Lust mehr auf die Tour, und falls du es vergessen hast: Ich studiere in Landshut, und in vier Wochen beginnen die Prüfungen.«
Stimmt. Valli nickte. Sie schwänzte gerade selbst ihre Vorlesungen, konnte auf keinen Fall nach allem, was gestern passiert war, in irgendeinem Hörsaal sitzen und so tun, als wäre nichts geschehen. »Du musst dich bei den Bullen melden, sonst denken die noch, du bist abgehauen, weil –«
»Aber bis vorhin wusste ich doch nicht einmal, dass Sara tot ist.« Er stockte, begann mit dem Oberkörper zu schaukeln, lachte dann auf. »Klar. Nicht nur die Bullen verdächtigen mich, du auch! Wie beschränkt ich doch bin.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Arschloch!«, fuhr Valli ihn an. »Ich wäre wohl kaum hier, allein mit dir, wenn ich dich verdächtigen würde, aber du musst zugeben, dass …«
Laurenz’ Augen wurden groß, glänzten fiebrig.
»Bunny, hör mir nur einen Augenblick zu.« Schon wieder griff Valli über den Tisch nach seiner Hand, doch Laurenz schlug sie weg, sprang auf. Sein Stuhl kippte um, alle Hälse ruckten in seine Richtung, es wurde mucksmäuschenstill im »Oberhaus«.
»Bunny«, äffte er Valli nach, »anfangs fand ich den Namen ja noch witzig, aber als ich verstand, was dahintersteckte, da –«
Valli war um den Tisch herumgekommen, bückte sich nach dem Stuhl, schob ihn Laurenz unter den Hintern und zwang ihn, sich wieder hinzusetzen. »Tut mir leid. Ich weiß, dass du den Spitznamen nicht magst, ist mir rausgerutscht. Entschuldige.«
»Alle dachten, ich wäre schwul.« Er verdrehte die Augen. Irr. Irgendwie.
Valli stutze. Allmählich wurde ihr das Gespräch unangenehm. Laurenz war vollkommen von der Rolle. Trotzdem. Sie musste es wissen. »Hattest du mit Sara hinter der Pappel bei der Gablergasse Sex?«
Laurenz blieben die Worte im Hals stecken. Er starrte Valli an. »Was sagst du da?«
»Ich frage dich, ob du mit Sara gepoppt hast. Die Polizei wird das wissen wollen. Tim behauptet, er hätte euch gesehen. Hinter der Pappel. Sei also drauf gefasst.«
»Spinnst du? Glaubst du, ich lasse fünf Minuten nach dem Klassentreffen die Hosen runter? Denkst du vielleicht, Sara war so drauf?« Der Bedienung, die gerade die Cola brachte, blieb ihr für einen kurzen Moment der Mund offen stehen, dann lächelte sie einigermaßen professionell und verschwand.
»Wer hat denn gesagt, dass ihr es gleich anschließend gemacht habt?« Valli bemerkte, dass Laurenz zunehmend nervöser wurde, sich wand wie ein Regenwurm in der Sonne. Langsam bereute sie, Kroner von dem Treffen nichts gesagt zu haben. Oder Ben. Diesem Vollidioten.
Laurenz bemerkte die Veränderung in Vallis Gesichtsausdruck, und sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze. »Jetzt glaubst du, ich hätte mich verraten, was? Aber weißt du was? Das ist mir so was von egal. Lass Tim seine Geschichten erzählen, das hat er schließlich schon früher getan. Außerdem bin ich doch schwul, schon vergessen?«
Irgendwo an Laurenz’ Körper erklang der Innstadt-Brauerei-Jingle. Fahrig fischte er nach seinem Handy, verzog beim Anblick des Displays verächtlich den Mund, ging aber ran. »Was willst du?« Er wandte sich zum Panoramafenster. »Es ist mir scheißegal, was du dir zusammenspinnst. Es interessiert mich nicht. – Damit kannst du mir nicht kommen! Es interessiert mich einfach nicht, hast du kapiert?«
Valli verdrückte sich, sie wollte das Gespräch nicht mithören, kam sich vor wie eine Spannerin, wie eine Voyeurin. Sie quetschte sich durch die Tischreihen, um auf die Terrasse hinauszugehen. Trotz der vielen Gäste konnte sie Laurenz’ Stimme noch immer hören: »Das werde ich nicht tun! Ist nicht mein Problem. – Zur Abwechslung könntest du wirklich mal die Wahrheit sagen. So viele Jahre, und …«
Valli schloss die Tür hinter sich, lehnte sich ans Geländer, atmete durch und sah hinunter auf die Stadt. Jedes Mal, wenn sie sich umsah, telefonierte Laurenz noch immer. Er sah wütend aus. Nach ungefähr zehn Minuten hielt Valli es nicht länger aus und ging zurück.
»Das werde ich nicht tun, und denk daran: Ich lasse mich nicht mehr mit Halbwahrheiten abspeisen. Wenn du es mir nicht sagst, finde ich es eben selbst heraus.« Laurenz kramte einen Kugelschreiber aus seinem Rucksack und kritzelte etwas auf den Kassenbon, den die Kellnerin inzwischen auf den Tisch gelegt hatte. Fasziniert betrachtete Valli die geschwungenen Schnörkel seiner Handschrift. Sie hätten perfekt zum Baron oder zur Baronin gepasst. Vererbte sich eine aristokratische Herkunft vielleicht im Schreibstil? Konnte gut sein. Jedenfalls endete das Gespräch endlich, und zwar genauso, wie es begonnen hatte: grußlos.
Laurenz schnaubte. »Meine Mutter.« Er hielt Valli den Bon unter die Nase. »Nie höre ich auch nur ein nettes Wort von ihr, und jetzt soll ich mich darum kümmern, dass die lieben Tierchen nicht absaufen. Dafür bin ich gut genug.« Er stopfte den Zettel in die Hosentasche. »Lieber hätte ich mich um Sara kümmern sollen. Vielleicht wäre sie dann noch am Leben. Sie war betrunken, womöglich ist sie gestolpert und gestürzt.«
»Sie war Leistungssportlerin! Da stürzt man nicht in einen Fluss, den man von Kindesbeinen an kennt, egal, wie viele Caipi man intus hat.«
»Warum bist du dir so sicher?«
Valli zuckte mit den Schultern. Sie konnte ihr Bauchgefühl nicht begründen. »Was wollte deine Mum noch?«
Laurenz schnaubte. »Sie sorgt sich um ihren Ruf. Die Bullen haben bei ihr nachgefragt, wo ich bin … und du.« Er grinste kurz. »Gerade dein Engagement hat ihr nicht sonderlich zugesagt, und sie fürchtet wohl, ihr kleiner, missratener Sohn könnte ihr mühsam herausgeputztes Nest beschmutzen.«
Valli lächelte zurück, die Stimmung entspannte sich etwas. »Kein angenehmer Mensch, deine Mutter. Ganz im Gegensatz zu deinen Großeltern.«
»Ach, hör doch auf. Die haben mich genauso verarscht wie Marlis.«
»Wie meinst du das?«
»Mein Vater …« Laurenz’ Stimme stockte, seine Augen wurden glasig. Schon in der Schule hatte er sich einen Namen als Heulsuse gemacht. »Eines Tages war er einfach weg. Ohne ein Wort. Ohne Abschied. Ich war sechs Jahre alt.«
Valli sah Laurenz wie versteinert an. Das Thema Vater spielte auch in ihrem Leben eine besondere Rolle. Seit sie denken konnte, sehnte sie sich danach, einen Vater zu haben.
»Meine Mutter hat mir damals gesagt, er hätte eine andere Frau kennengelernt und sich entschieden, mit ihr ein neues Leben anzufangen. Darin wäre kein Platz für mich gewesen.«
Joja hielt die Identität von Vallis Erzeuger bis heute geheim. Es gäbe triftige Gründe, betonte sie immer wieder, und mit der Zeit hatte Valli aufgehört, danach zu fragen. An Sturheit übertraf Joja ihre Tochter mit Leichtigkeit. Doch nie einen Vater gehabt zu haben war vermutlich einfacher, als einen zu haben, ihn einige Jahre lang zu lieben und ihn dann zu verlieren.
»Ich habe Marlis den ganzen Dreck geglaubt, bis vor ein paar Tagen dieser Brief kam. Von meinem Vater.« Laurenz schluckte schwer, wischte über seine Augen. »Darin fragt er immer wieder, wieso ich mich all die Jahre nie bei ihm gemeldet habe. Erst verstand ich nicht, aber dann hab ich meine Schlüssel genommen und Mutters Haus durchsucht, als sie nicht da war. Durch Zufall bin ich auf die Kombination für den alten Tresor gestoßen, um den sie seit jeher so ein Geheimnis macht, und da habe ich sie gefunden: so viele Briefe. Er hat mir geschrieben. Anfangs jede Woche. Erst aus Landshut, wo er professionell Eishockey gespielt hat, später aus Kanada. Er hat sogar ein Video gedreht, in dem er mir alles erklärte.« Laurenz konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Er wollte den Kontakt mit mir … Und ich dachte, er hätte mich einfach aus seinem Leben gestrichen, dabei … hat meine Mutter alle Briefe abgefangen … Jetzt verstehe ich auch, wieso wir all die Jahre diese bescheuerte Geheimnummer haben mussten. Marlis hat mir weisgemacht, es wäre wegen ihres Jobs beim Bundesgerichtshof, aber das war eine Lüge. Sie hat meinen Vater von mir fernhalten wollen! Wie kann eine Mutter ihrem Kind das nur antun? Und dann weigert sie sich auch noch, mit mir darüber zu sprechen. Kannst du dir das vorstellen?«
Valli schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht.
»Und meine Großeltern, sie haben nur Gutes über meinen Papa erzählt und dass er mich liebhaben würde, wo immer er auch sei … Bla, bla, bla … Alles nur heiße Luft. Sie müssen von den Briefen gewusst haben, sonst wäre schon viel früher irgendwann einer bei mir angekommen.« Laurenz sah auf seine Uhr, stand auf, packte seine Sachen zusammen und zog die Jacke an. »Ich muss gehen, Valli. Trotzdem danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
Valli fischte Kroners Karte aus der Tasche. »Versprichst du mir, ihn anzurufen?« Sie versuchte zu lächeln. »Jetzt gleich?«
Laurenz nahm die Karte und sah sie sich an. »Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, wie’s aussieht. Auch wenn ich dafür im Moment keinen Kopf habe.«
»Tu’s für Sara. Bitte. Je länger du nichts von dir hören lässt, umso mehr Hirngespinste brauen sich in den Köpfen der Bullen zusammen. Und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Sie verdrehte die Augen.
»Eros!« Ein kehliges Lachen platzte aus Laurenz’ Mund. »Bis vorgestern wusste ich gar nicht, dass er tatsächlich zur Polizei gegangen ist. Kannst ihm ausrichten, dass ich nichts mit Saras Tod zu tun habe, sorry.«
»Das wird nichts bringen. Markus ist in Saras Fall nicht involviert. Er arbeitet in München.«
Laurenz ließ ihm trotzdem Grüße ausrichten.
»Klar«, antwortete Valli, obwohl beide wussten, dass Markus und Laurenz nie enge Freunde gewesen waren. »Wir sehen uns auf Saras Beerdigung, nehme ich an?«
»Beerdigung? Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Er nickte.