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»Raus! Frauen und Kinder zuerst!«
Vallis Rücken schmerzte. Nachdem sie am Samstagabend im Wimmerhaus alles abgedichtet und den heutigen Vormittag über in der Stadt Sandsäcke geschleppt hatten, waren sie nach einer kurzen Pause in Bens Wohnung ins »Scharfrichterhaus« hinübergewatet, um dort ihre Hilfe anzubieten. Im hinteren, tiefer liegenden Gewölbekeller drückte das Grundwasser bereits herein. Es sah aus, als würde die Steinmauer schwitzen wie ein Leistungssportler unter Maximalbelastung. In einer Höhe von knapp einem halben Meter drang Wasser aus jeder Pore des Mauerwerks. Der vordere Bereich des Lokals war dank einer Doppelschleuse bisher fast vollständig vom Wasser verschont geblieben. Das wenige Grundwasser, das unter der Treppe hereindrückte, schoben Valli, Markus und Ben mit Wischern Richtung Pumpe, die es auf die Straße hinausbeförderte. In der Milchgasse stand das Wasser jetzt ungefähr so hoch wie beim Katastrophenhochwasser 2002. Damals war das »Scharfrichterhaus« als einziges Lokal in der Altstadt nicht vollgelaufen, war mit einem Riss im Mauerwerk davongekommen. Blieb zu hoffen, dass die Pegel nun stagnierten, dann könnten »die Scharfrichter« womöglich auch diesmal Glück haben. Allerdings verhießen die aktuellen Warnungen eher das Gegenteil.
»Raus hier! Frauen und Kinder zuerst!«, schrie der Feuerwehrmann lauter und wies mit einer Hand auf die hintere Wand im Gewölbe. Dann schwang er sein Beil und durchschlug die Stromversorgung von Küche und Kaffeeautomaten. Zack.
Ben und Markus starrten einander an. Valli begann zu schreien – völlig entgegen ihrer sonst recht entspannten Art. Sie war restlos erschöpft, hatte viel zu wenig geschlafen. Ohne Kaffee würden ihr die Augen auf der Stelle zufallen.
Obwohl Ben, Valli und Markus das Anliegen des Feuerwehrmannes nicht nachvollziehen konnten, folgten sie ihm wie die anderen hinaus auf die Gasse.
»Im ›Hotel Residenz‹ hat’s die Bodenfliesen an die Decke gesprengt, so stark hat das Grundwasser nach oben gedrückt. Jetzt fluten sie mit klarem Wasser gegen. Das solltet ihr hier auch tun – und zwar schleunigst«, sagte der Feuerwehrler zu den Wirtsleuten des »Scharfrichterhauses«.
Beide sahen von dem Vorschlag wenig angetan aus, obwohl auch ihnen klar sein musste, dass es besser war, die Keller mit klarem Wasser volllaufen zu lassen, als zu riskieren, dass die dreckigen Fluten sich doch ihren Weg bahnten und Unmengen Schlamm mit hereinbrachten. Ganz abgesehen davon konnte niemand garantieren, dass die Mauern dem Druck von unten standhielten. Trotzdem.
Gerade als der Feuerwehrmann in Richtung Römerplatz davonstapfte, durchschnitt Motorenlärm die gespenstische Stille. Durch den kleinen Ausschnitt, den Valli, Markus und Ben von ihrem Standpunkt aus vom Rathausplatz erhaschen konnten, rauschte ein voll besetztes Motorboot. Bierflaschen klackten aneinander. Lachen. Dann war es verschwunden – wie eine Illusion. Kaum drei Atemzüge später durchkreuzte das Boot erneut ihr Blickfeld, anscheinend war es in der Fischmarktgasse nicht weitergekommen.
»Habt ihr das auch gesehen?« Markus rieb sich die Augen, seine Glieder fühlten sich bleischwer an.
»Vor zwei Stunden haben sie die Brenninger von gegenüber der Pferdemetzgerei Breu mit einer Zille aus dem Haus geholt«, sagte Bens neuer Nachbar Mike, der vor einigen Stunden ebenfalls zur Rettung vom »Scharfrichterhaus« ausgerückt war, und fischte ein Bier aus einer seiner hinteren Hosentaschen. »Schwächeanfall, musste zum Doktor gebracht werden. Die aufgebauten Planken stehen längst unter Wasser.«
Zillenfährdienst in der Höllgasse, schoss es Valli durch den Kopf. Genau wie damals beim 54er-Hochwasser. Da hatten die Häuser tagelang unter Wasser gestanden. Gut, dass manche Fischer in Passau auch heute noch die schmalen Holzboote für den Fischfang einsetzten.
Valli musste an Opa Kroner denken, der in seiner Schulzeit jeden Tag mit der Seilfähre von der Innstadt zur höheren Schule in der Altstadt geschippert war und noch immer gern davon erzählte. Zehn Pfennig hatte damals die einfache Fahrt bis zur Anlegestelle Schaiblingsturm gekostet. Das war immer ein Spaß gewesen, nur einmal, das Fährboot war schon mitten auf dem Inn, war das Stahlseil gerissen und das Boot in der starken Strömung abgetrieben. Die Geschichte war glimpflich ausgegangen, und Valli hatte sie bestimmt schon tausendmal gehört. Die Nähe von Ilz, Inn und Donau hatte sie bisher nie als bedrohlich empfunden. In dieser Nacht war das anders. Die glatte dunkle Oberfläche des Wassers machte ihr Angst.
»Beim letzten Hochwasser hat jemand aus seiner Gefriertruhe eine halbe Sau entsorgt«, erzählte Mike weiter, »die blieb dann irgendwo im Kehrwasser liegen. Kein schöner Anblick.«
Valli hörte ihm nicht zu. Wie hypnotisiert starrte sie auf die stinkende braune Brühe. Das Wasser stand den Passauern buchstäblich bis zum Hals. Valli hatte kein gutes Gefühl. Gar kein gutes.