Montag, 3. Juni
Um 20 Uhr erreicht die Donau die Rekordmarke von 12,80 Metern – höchster Donaupegel in Passau seit 500 Jahren
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Kroner war an diesem Montag saugrantig, was sonst ausgesprochen selten vorkam. Nicht nur, dass er wegen des Hochwassers sogar mit dem Rad kaum von der Innstadt bis zur Altstadt durchgekommen war, nein, dieser Laurenz Osterby hatte sich noch immer nicht bei der Polizei gemeldet und schien wie vom Erdboden verschluckt. Bei der Morgenbesprechung hatte Kroner deshalb lieber den Mantel des Schweigens darüber gebreitet, dass Valli – im Kommissariat als sein störrisches Ziehkind durchaus bekannt – sich mit Laurenz getroffen hatte, ohne ihm Bescheid zu geben. Nur Wendlandt hatte er in einem Gespräch unter vier Augen eingeweiht – in modifiziert verharmlosender Form – und ihm kurz geschildert, was Valli erzählt hatte, nachdem Ben sie am Freitagabend im Hause Kroner wie eine Hauptverdächtige vorgeführt hatte. Wenn Valli den Burschen wenigstens gefragt hätte, was passiert war, nachdem er mit Sara das Lokal verlassen hatte. Aber nein, sie wollte sich einfach mit Laurenz unterhalten haben. Nur so. Wie dämlich war das denn?
Kroner biss die Zähne zusammen, als er bei Schlegel und Reischl reinschaute – sie knirschten. Ausgerechnet jetzt mussten die drei Flüsse sich dermaßen aufmandeln. Fast die Hälfte seiner Mannschaft war heute nicht zum Dienst erschienen, alle kämpften zu Hause, bei Verwandten oder Bekannten gegen das Hochwasser an. Paulus hatte es besonders schlimm erwischt. Er und seine Frau wohnten in der Ferdinand-Wagner-Straße in der Ilzstadt und konnten das Haus nicht mehr verlassen: eingeschlossen vom Wasser, ohne Strom und Trinkwasser. Wenigstens hatten sie ein Notstromaggregat, mit dem sie abwechselnd Heizlüfter und Kühlschrank am Laufen hielten.
»Laurenz Osterby ist morgen zweiundzwanzig Uhr dreißig auf eine Maschine nach Toronto gebucht. Er war der Letzte, der mit Sara gesehen wurde, und schickt sich an, das Land zu verlassen. Jetzt müssen wir davon ausgehen, dass er Dreck am Stecken hat. Informiert die Staatsanwaltschaft und verständigt die Kollegen in München. Ich will, dass einer von euch vor Ort ist, verstanden?« Erst vor wenigen Minuten hatte Ligeia Kroner die brandheiße Information zugespielt. Im Grunde konnte es nur eines bedeuten, wenn Laurenz sich aus dem Staub machte, und das gefiel Kroner überhaupt nicht.
»Geht klar, Chef.« Reischl griff bereits nach dem Hörer.
Kroner schloss die Bürotür und entspannte den Kiefer. Das mochte er an seinem Team: Wenige Worte genügten.
Draußen auf dem Gang wartete Ben. Leo Weissenbeck war heute Morgen ebenfalls nicht zur Arbeit erschienen. Ihre Wohnung in der Lederergasse soff ab, sie konnte unmöglich weg. Beim Gedanken daran machte sich bei Kroner prompt das schlechte Gewissen bemerkbar. Hätte er Leo nicht seine Hilfe anbieten sollen, ja sogar müssen? Aber was wäre dann mit dem Fall Sara? Die ersten Tage einer Ermittlung, auch nach der magischen Achtundvierzig-Stunden-Grenze, waren entscheidend, das wusste jeder bessere »Tatort«-Fan.
Kroner schüttelte sich, machte sich von seinen Bedenken frei und legte Ben eine Hand auf die Schulter. Wegen Leos Abwesenheit sollte Bruhan mit Marlis Osterby sprechen, die seit über einer Stunde im Vernehmungszimmer wartete. Kroner hatte sich gewundert, dass Laurenz’ Mutter überhaupt aufgetaucht war. Er hätte gedacht, sie würde das Hochwasser als Entschuldigung dafür vorschieben, nicht zu kommen. Die Rechtsbelehrung hatte sie jedenfalls nur widerwillig über sich ergehen lassen.
»Die Frau hat eine steile Karriere hingelegt.« Kroner hielt es für angemessen, Ben die Eckpunkte von Marlis Osterbys Werdegang darzulegen, bevor er ihn in die Höhle des Löwen schickte. Ganz wohl war ihm nicht dabei, aber er musste den Jungen einfach testen und dabei, quasi als Zugabe, die Osterby reizen.
»Nach dem Jurastudium in Passau war sie sieben Jahre lang Anklägerin in Wirtschaftsstrafsachen in München, danach Staatsanwältin beim Landgericht München, von dort Abordnung als wissenschaftliche Mitarbeiterin nach Karlsruhe. Laurenz war zu dieser Zeit längst geboren, keine Ahnung, wie sie das als alleinerziehende Mutter geschafft hat. Nach ein paar Zwischenstationen ist sie schließlich bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gelandet. Sie kommt nur alle paar Wochen nach Passau, eigentlich lebt und arbeitet sie in Karlsruhe, auch wenn ihre Wohnung dort als Zweitwohnsitz angemeldet ist.«
Ben wusste das meiste davon bereits, er hatte seine Hausaufgaben gemacht, Marlis Osterby gegoogelt und durchs polizeiinterne System gejagt. Er ahnte, dass Kroner ihm den Vorzug vor anderen, deutlich routinierteren Kollegen gab, weil er die Osterby mit einem Jungspund wie ihm provozieren wollte. Als er die Tür zum Vernehmungszimmer öffnete, war auf den ersten Blick klar, dass Kroners Rechnung aufging.
»Erst lässt mich der Herr Kriminalhauptkommissar warten, obwohl die Sache, ach, so dringlich ist, und jetzt schickt er mir seinen jüngsten Welpen?« Sie sah Ben nicht an, stand direkt vor dem venezianischen Spiegel, den sie natürlich als solchen erkannte. Sie und Kroner trennten – abgesehen vom Spiegelglas – nur wenige Zentimeter. Ben konnte sich nur allzu gut vorstellen, mit welch schelmischem Vergnügen der Chef in diesem Moment die Osterby beobachtete. Aber auch ihm gefiel die Situation: Es war selten ein Nachteil, vom Gegner unterschätzt zu werden.
Ben bemühte sein harmlosestes Lächeln. »Guten Tag, Frau Osterby. Würden Sie sich bitte zu mir setzen?« Kurze Pause, dann räusperte er sich scheinbar verlegen. »Sie haben doch nichts dagegen, dass wir das Gespräch aufzeichnen?« Ganz Gentleman zog er für sie den Stuhl hervor und wies ihr galant mit einer Hand den Weg. Sein jungenhafter Charme verfehlte auch bei Laurenz’ stacheliger Mutter seine Wirkung nicht. Sie setzte sich.
»Möchten Sie einen Kaffee, Cappuccino, Wasser?«
»Einen Cappuccino, bitte.« Sie war wieder ganz die tadellose Geschäftsfrau. Die Zornesfalten auf ihrer Stirn verschwanden.
Ben gab ihren Wunsch auf den Flur weiter, nahm ihr gegenüber Platz und legte seine Hände auf den Tisch. Es war alles andere als üblich, eine Befragung wie diese im Vernehmungszimmer durchzuführen und aufzuzeichnen. Ben vermutete, dass auch das eine gewollte Provokation Kroners sein sollte. »Sie müssen entschuldigen, aber Sara Rieß’ Tod hält uns im Moment alle in Atem – und dazu das Hochwasser. Die anderen Räume sind belegt, und wir wollten Ihnen den regen Parteiverkehr auf den Gängen und in den Büros ersparen.« Eine dreiste Lüge. Die KPI war an diesem Morgen wie ausgestorben – leere Gänge, wohin man schaute. Wer nicht unbedingt hier sein musste, kämpfte draußen gegen die Fluten.
Maurer brachte den Cappuccino. Zog Kroner die junge Kollegin absichtlich für Kaffeeautomatendienste heran, oder war ihm gar nicht bewusst, dass er sie öfter als die anderen zum Kaffeeholen schickte? Ben glaubte, in den wenigen Tagen, seit er dabei war, diesbezüglich ein Muster erkannt zu haben.
»Haben Sie etwas von Ihrem Sohn gehört, Frau Osterby?«
»Das sagte ich doch bereits. Ich weiß nicht, wo er ist.« Gelangweilt kramte sie in ihrer Handtasche, natürlich ein Designerstück.
»Kommt es Ihnen nicht komisch vor, dass er just nach Sara Rieß’ Tod von der Bildfläche verschwindet?«
»Vielleicht ist er mit Freunden ein paar Tage weggefahren? Mit dem Fall Sara Rieß hat er garantiert nichts zu tun.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Mein Sohn kann keiner Fliege etwas zuleide tun, leider.«
»Leider?« Ben zog die Brauen hoch.
»Ja, leider. Er hat kein Rückgrat.«
»Im Gegensatz zu Ihnen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Was ist Ihr Sohn für ein Mensch?«
»Fällt Ihnen nichts Dümmeres ein?« Sie lächelte gönnerhaft, legte ihr Filofax vor sich auf den Tisch und blätterte darin.
Ben wunderte sich, dass Marlis Osterby ihre Termine anscheinend noch handschriftlich verwaltete. »Bitte beantworten Sie die Frage. Was ist Ihr Sohn für ein Mensch?«
Die Staatsanwältin hob den Blick, blinzelte Ben mit getuschten Wimpern an, antwortete nicht – demonstrativ.
Ben gönnte ihr den kleinen Sieg. »Haben Sie schon bei seinen Freunden nachgefragt, wo er sein könnte?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Erneut überhebliches Schweigen.
»Weil Sie seine Freunde nicht kennen?«
»Kann sein. Außerdem ist das Ihre Aufgabe.«
»Na ja, meine Mutter würde nachfragen, wenn sie nicht wüsste, wo ich wäre.« Das war eine weitere Lüge, aber das musste Ben Marlis Osterby ja nicht auf die Nase binden.
»Ach, wissen Sie …« Sie schlug die Beine übereinander, und Ben musste an die legendäre Szene mit Sharon Stone in »Basic Instinct« denken. Ihm wurde heiß. »Ich bin eine viel beschäftigte Frau, und es war nie eines meiner Lebensziele, eine Glucke zu sein.« Jetzt lächelte sie herablassend. »Eine Frau muss doppelt so hart für den Erfolg arbeiten wie ein Mann, aber das ist nicht schwer.« Sie rührte in ihrem Cappuccino. Gelassenheit pur – nicht die schlechteste Charaktereigenschaft für eine Staatsanwältin. Sehr wahrscheinlich hatte sie genau diese Kaltschnäuzigkeit auf der Karriereleiter so weit nach oben gebracht.
»Ihr Vorbild ist also Ex-Generalbundesanwältin Monika Harms?«, bemerkte Ben beiläufig.
Marlis Osterby kam für einen kurzen Moment lang aus dem Takt. Das Zitat, es sei nicht schwer, doppelt so hart zu arbeiten wie ein Mann, gab sie gern für ihr eigenes aus, und nicht einmal in Karlsruher Kreisen hatte das bislang jemand bemerkt. »Glauben Sie ja nicht, dass Sie mich damit beeindrucken können, Herr … Wie war noch mal Ihr Name?«
»Bruhan, Frau Osterby, norddeutsch für Brauknecht, falls Sie sich für Namensursprünge interessieren.«
»Lassen Sie das Geplänkel!«
»Gern.« Ben beugte sich nach vorn. »Also, wo könnte Ihr Sohn sein, wenn er – wie Sie behaupten – für ein paar Tage weggefahren ist? Und das auch noch mitten im Semester, kurz vor den Prüfungen.«
»Wird das jetzt ein Ratequiz à la Jauch oder Pilawa?«
»Antworten Sie, Frau Osterby. Bitte. Sie wollen doch auch wissen, ob es Ihrem Sohn gut geht.«
»Wieso sollte es Laurenz nicht gut gehen?«
Ben stutzte. Eine junge Frau war getötet worden, Laurenz Osterby war vermutlich der Letzte, der sie lebend gesehen hatte, und seine Mutter machte sich keine Sorgen? Gar keine? »Antworten Sie.«
»Italien, Österreich … Was weiß ich denn?«
»Kanada?«
Marlis Osterby stellte die Tasse auf den Tisch. Für Bens Empfinden einen Tick zu hastig. Wusste sie am Ende doch etwas? Bisher hatten er und Kroner sie für gleichgültig gehalten, aber jetzt? Deckte Marlis Osterby vielleicht sogar ihren Sohn?
»Toronto, um es genau zu sagen. Ihr Sohn ist für morgen Abend auf einen Flug nach Toronto gebucht. Haben Sie eine Ahnung, was er dort will? Ehrlich gesagt sieht das für uns nach Flucht aus. Was meinen Sie?«