Dienstag, 4. Juni
50.000 Passauer müssen mit Trinkwasser versorgt werden
25
Vierundzwanzig Stunden später saß Valli im Atelier Andreß auf einem Barhocker – völlig erschöpft. Die letzten Tage steckten ihr in den Knochen. Wie viele Stunden hatte sie seit Sonntag geschlafen? Vier, maximal fünf? So gesehen war das Hochwasser ein Segen: Sie hatte keine Zeit zu schlafen, keine Zeit nachzudenken, es gab immer etwas zu tun, um sich abzulenken, um nicht verrückt zu werden. Dennoch machten Saras Tod und Laurenz’ Abtauchen Valli schwer zu schaffen. Hoffentlich gelang es Kroner bald, Licht ins Dunkel zu bringen. Die Ungewissheit war kaum zu ertragen.
»Willst du einen Kaffee?« Seufzend stieg Joja neben Valli auf einen Barhocker. Seit mehr als achtundvierzig Stunden half sie ihrer Freundin Josefa und deren Mann im Kampf gegen das Hochwasser. Sie hatten das meiste aus Keller und Erdgeschoss in den ersten Stock geräumt und versucht, den Schlamm draußen zu halten, doch irgendwann gestern Abend, als der Scheitelpunkt fast erreicht und der Druck zu groß geworden war, hatten die Schlammbarrieren nachgegeben und Wasser und Dreck hereingebeten.
In den Räumen im Erdgeschoss stand das Wasser noch immer hüfthoch. Möbel, Bilder und Kleidungsstücke schwammen in der braunen Brühe. Josefas Atelier war völlig zerstört. Immerhin lagen die Kunstwerke sicher verstaut in der oberen Etage, obwohl auch dort, in den Wohnräumen, das Wasser knöchelhoch gestanden hatte.
Jetzt mussten sie warten, bis sich das Wasser wieder zurückzog. Doch dann ging es erst richtig los, dann folgte das große Aufräumen. Josefa Andreß hatte es in den vergangenen Jahren oft schlimm erwischt, ihr Atelier lag direkt am Innkai, aber so katastrophal war bisher noch keine Überschwemmung gewesen. Ihre Existenz stand auf dem Spiel.
»Kaffee wäre super, Mumsi.« Der Strom war erst seit wenigen Minuten wieder da, und Valli plagte das schlechte Gewissen. Statt im »Scharfrichterhaus« zu schuften, hätte sie besser der Freundin ihrer Mutter helfen sollen. Jetzt war es dafür zu spät, die Räume waren versaut, vieles hätte man vielleicht retten können. Oder. Auch. Nicht.
Besonders unangenehm war, dass sie nicht einmal aufs Klo konnten. Viele Häuser wie dieses hatten noch alte Systeme ohne Rückstauklappen, da kam die ganze Scheiße im wahrsten Sinne des Wortes einfach wieder hoch. Also mussten sie auf einem Eimer Platz nehmen und die Lurre anschließend zum Fenster hinauskippen. Pfui Teufel!
Die Andreß kam die Treppe herunter, ihre Beine steckten in einer Fliegenfischergummihose, die ihr bis zur Brust reichte, die Haare hatte sie mit einem rosa karierten Tuch zurückgebunden. Sie wirkte fröhlich, geradezu unbeschwert, als wolle sie aller Welt entgegenschreien: Was hilft es zu jammern, anpacken, das ist das Mittel der Stunde!
Valli fand diese Gelassenheit unerträglich. Sie war nicht für stilles Aushalten gemacht, sie musste ihrem Ärger immer sofort Luft machen. Pur und ungefiltert. Gerade ihr direktes Umfeld kam häufig in den Genuss ihrer erschreckend weitläufigen Gefühlspalette. Aber gegenüber Josefa ließ sie sich nichts anmerken.
»Gut, dass du noch da bist, Valli.« Josefa Andreß watete durch das Wasser zum etwas höheren Schanktisch und machte sich am Kaffeeautomaten zu schaffen. Die Theke war zu schwer für den ersten Stock gewesen, die hatten sie den Fluten überlassen müssen. Das Holz war massiv, es würden mit Sicherheit Flecken bleiben, aber kein Furnier würde sich aufdrehen und unansehnlich werden. Gute alte Handarbeit. »Mir ist da noch was eingefallen, das solltest du dem Herrn Kroner sagen, wenn du ihn siehst.«
»Das kannst du Hannes auch selber sagen, Josefa«, mischte sich Joja ein.
»Papperlapapp«, wischte die Andreß den Einwand beiseite, »ich kann jetzt hier nicht weg, und wenn der Herr Kriminaler meint, die Sache sei wichtig, kann er sich ja bei mir melden.«
Joja verdrehte die Augen. Ihr eigenes Verhältnis zu Hannes Kroner war – untertrieben ausgedrückt – etwas unterkühlt. Sie nahm es ihm übel, dass er ihrer Tochter Heimat und Familie gab, weil sie dazu nicht in der Lage war. Eigentlich müsste sie ihm dankbar sein, das wusste sie wohl, aber aus Gründen, die niemand wirklich nachvollziehen konnte, fiel ihr gerade das unendlich schwer. Nur Josefa verstand ihre Freundin, deshalb fand sie es normal, Valli vorzuschicken, nicht Joja.
»In der Nacht, in der Sara getötet wurde …« Josefa stutzte kurz. »Steht mittlerweile eigentlich fest, dass sie getötet wurde?«
Valli zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht.
»Egal«, fuhr die Andreß fort, »jedenfalls habe ich dem Herrn Kroner junior und seinem charmanten Begleiter berichtet, dass ich kurz nach Mitternacht ein Pärchen aus meinem Garten gescheucht hätte.«
Valli wurde hellhörig. »Und?«
»Danach bin ich ins Bad und anschließend ins Bett. Aber jetzt ist mir eingefallen, dass ich vor dem Zubettgehen noch im Atelier nach dem Rechten gesehen habe. Manchmal vergesse ich, die Kerzen zu löschen oder die Fenster zu schließen …« Zerstreut wedelte sie mit ihren Händen vor dem Kaffeeautomaten herum, als wäre ihr entfallen, was als Nächstes zu tun war, um an eine Tasse Kaffee zu kommen. Valli glaubte, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. Anscheinend ging ihr die Zerstörung ihrer Werkstatt doch stärker an die Nieren, als sie alle glauben ließ. Irgendwie beruhigend.
»Ein Fenster stand tatsächlich offen, und direkt unter ihm haben sich ein paar Leute gestritten. Ich konnte nicht viel erkennen, aber ich glaube, es waren drei oder vier Personen.« Sie drehte sich um und lehnte sich an die Theke. »Ich meine, es waren das leidenschaftliche Pärchen aus meinem Garten und ein anderer Mann oder eine andere Frau. Ich kann mich natürlich täuschen, aber bei dem Pärchen bin ich mir ziemlich sicher.«
»Und?« Valli beugte sich nach vorn, Josefa entgegen. »Konntest du sie verstehen? Du sagtest, sie hätten gestritten?«
»Es war ein ziemliches Durcheinander, sie haben sich bemüht, leise zu sein, aber …« Josefa Andreß überlegte. »Das war kein kleiner, unbedeutender Streit, sie waren sehr erregt.«
»Hast du mitbekommen, worum es ging?« Joja übernahm den Posten an der Kaffeemaschine, legte Filterpapier ein, löffelte Pulver in die kleine Pfanne und drehte sie anschließend in die Verankerung.
»Nein, nur die Stimme des Mannes war etwas lauter, ihn konnte ich ab und an verstehen.«
»Und?«, fragten Valli und Joja gleichzeitig. »Was hat er gesagt?«
Josefa wehrte mit erhobenen Händen ab, schien sich angesichts des steigenden Interesses unwohl zu fühlen. »Ich habe nur zusammenhanglose Fetzen aufgeschnappt.«
Joja packte ihre Freundin am Arm. »Jetzt raus damit. Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Na schön.« Josefa Andreß setzte sich neben Valli an die Theke. »Der Mann hat sich darüber aufgeregt, dass jemand ihn anlügen würde.«
»Wer?«
Josefa verdrehte die Augen. »Das weiß ich doch nicht, aber was ich gehört habe, war sinngemäß etwa Folgendes: ›Du lügst, wenn du den Mund aufmachst. Niemand glaubt dir. Alles hätte ich getan … Und jetzt das! Dass du … Ich fasse es nicht, das ist so billig.‹ Etwas in der Art.«
»Mehr nicht?« Valli senkte die Stirn auf den Tresen herab. Wow!
»Doch, da war noch mehr, aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern, und dann rief jemand den Mann zur Räson und mahnte ihn, leiser zu sein. Es war eine Frau, glaube ich. Danach sind sie weiter Richtung Ortsspitze gegangen, und bald darauf hat das Rauschen des Wassers jedes weitere Wort verschluckt.«
Na toll!, dachte Valli enttäuscht. Dennoch holte sie ihr Handy heraus und wählte Markus’ Nummer.
»Du kommst nicht mit?«, fragte Markus Ben entgeistert. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr. Das Wasser hatte sich weiter zurückgezogen, stand aber nach wie vor in den Gassen, sodass der jüngste Kroner-Spross dieses Mal über eine Leiter vom Balkon ins Boot vor Bens Wohnung stieg. Valli hockte noch im Kajak, sie war sitzen geblieben, hatte sich strikt geweigert, schnell mit hereinzukommen.
Sie war stinksauer auf die beiden Deppen – vor allem auf Ben. Ewig hatte sie im Ateliercafé Andreß auf Ben und Markus warten müssen, nachdem Josefa ihre Kurzzeitamnesie überwunden hatte. Als Markus endlich da war, musste er Valli zum Bleiben überreden, bis auch Kriminaloberkommissar Bruhan sich endlich dazu herabließ, aufzutauchen und seinen Pflichten nachzukommen. Als Entschuldigung für sein deutlich verspätetes Eintreffen hatte Ben die gute Angela und ihren bayerischen Ministerpräsidenten bemüht. Zu Bens großer Überraschung war er ihnen in der Altstadt plötzlich gegenübergestanden und hatte natürlich daraufhin zusehen müssen, wie beide von Kameras umringt den Leuten Mut zusprachen. Na bravo.
Josefas Aussage war schnell aufgenommen gewesen. Ben hatte keine große Sache daraus gemacht und Valli nicht einmal gedankt, das ärgerte sie am meisten. Jetzt wollte Markus unbedingt zu einem spontanen Helferfest ein paar Gassen weiter – ein oder zwei Bierchen kippen. Das hätten sie sich verdient, nur Ben zierte sich, der feine Pinkel.
»Ich kann nicht«, sagte Ben entschieden. »Ligeia hat mich eben angerufen. Wenn sie Laurenz am Münchner Flughafen schnappen, will er mir Bescheid geben. Außerdem muss ich noch ein paar Akten durcharbeiten und irgendwann ein bisschen Schlaf nachholen.«
»Jetzt komm schon, Ben«, drängte Markus. »Auf ein Bier. Eins nur. Das dauert doch nicht lange.«
»Wer nicht will, hat schon«, knurrte Valli und zog Markus ins Kajak. Sie hatte selbst keine große Lust zu feiern, aber zu Hause oder gar in Bens Wohnung an die Decke zu starren, das waren auch keine echten Alternativen.
Ben stopfte seine Fäuste in die Hosentaschen, kramte nach dem Wohnungsschlüssel und warf ihn Markus zu. »Falls ihr später bei mir übernachten wollt, könnt ihr gern wiederkommen. Das Fenster ist zwar sowieso offen, aber …« Er grinste.
Markus sah auf den Schlüssel in seiner Hand. Seit zwei Tagen waren er und Valli nicht zu Hause gewesen. Jetzt wurde es langsam Zeit, wieder den Heimathafen anzulaufen, wieder mal im eigenen Bett zu schlafen. »Ich glaube, den brauchen wir nicht«, sagte er deshalb und wollte den Schlüssel schon zurückwerfen, doch Ben winkte ab.
»Behalt ihn. Ich habe sowieso einen zweiten, und man weiß ja nie.«
Das überzeugte Markus. Eine Schlafgelegenheit in der Altstadt war nie verkehrt.
Vallis Handy klingelte, sie fischte es aus ihrer Hosentasche. »Ja. – Ah, es tut mir … – Nein. – Was? – Nein, sie hat nichts gesagt. Das ist ja schrecklich! – Wissen Sie, wer …?« Aufgelegt.
Bum, bum, bum … Vallis Herz schrie, sie konnte nicht atmen. Es war, als schlüge ein Dutzend Fäuste auf ihren Körper ein.
Saras Mutter hatte angerufen. Die Zachlerin. Sara hätte doch wohl ihrer besten Freundin das Herz ausgeschüttet, hätte ihr von der Vergewaltigung erzählt? Wieso Valli nichts bemerkt hätte? Wieso. Niemand. Sara. Geholfen. Hätte.