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Ben versuchte sich abzulenken. Es war nicht seine erste Obduktion. Der typische Y-Schnitt, die Organentnahme, das Auseinandergepflücke war keine schöne Sache, aber damit kam er klar. Sein Problem war dieser scheinbar luftdicht abgeschlossene Raum: Alle Luken waren zu, die Türen geschlossen, kein Lüftchen drang herein. Es war kalt, keine Frage. Allein die Kacheln strahlten genug Frostigkeit aus, um ihm einen Schauer über den Rücken zu jagen. Und dennoch meinte Ben, jeden Moment ersticken zu müssen. Er fühlte sich ein bisschen wie Jean-Baptiste Grenouille in »Das Parfum«. Die Aromen des Todes strömten unverdünnt in seine Nase, überfluteten seine Zellen mit ihrem aufdringlichen Odeur, doch leider wusste Ben – im Vergleich zu Grenouille – nichts damit anzufangen. Sie lösten keins der Rätsel, die mit diesem Mädchen vor ihm lagen. Er hätte kotzen können und bereute, dass er die Nasenklammer, die ihm der Sektionsassistent angeboten hatte, großkotzig abgelehnt hatte. Wahrscheinlich hätte er sie genommen, wären da nicht die beiden bildhübschen Studentinnen gewesen, die der Sektion beiwohnen durften.

Bisher hatte der Obduzent lediglich alle äußerlichen Auffälligkeiten, vom Kopf beginnend, in sein Aufnahmegerät diktiert. Schon vor Bens Eintreffen war das tote Mädchen mittels postmortaler Mehrschichten-Computertomografie, kurz pmMSCT, gescannt worden. Damit lagen submillimetergenaue, dreidimensionale und dauerhafte Befunde vor, die – falls nötig – später mit neuen Erkenntnissen abgeglichen werden konnten. Sogar mögliche Tatwaffen konnten gescannt werden, um deren Profile mit Vorbefunden zu vergleichen. Ben hatte sich über die neueste Technik schlaugemacht.

Nachdem der Obduzent lange den leeren Brust- und Bauchraum der Toten betrachtet hatte, setzte er schließlich sein Messer an einem Ohr an, führte es quer über den Schädel zum anderen, zog geschickt die Kopfschwarte nach vorn und schlug sie schließlich über das Gesicht. Das Sirren der Oszillationssäge erinnerte Ben an den fiesesten Bohrer beim Zahnarzt. Seine Augen sogen sich an den Zehen des Mädchens fest, wanderten weiter zu den beiden anderen Stahltischen, die ebenfalls mit Kundschaft belegt waren, und von dort zu den hautfarbenen Gummihandschuhen, die an einem Holzgestell baumelten. Er musste nicht sehen, wie der Gerichtsmediziner die Schädeldecke anhob und Sehnerven, Arterien und Rückenmark durchtrennte, bevor er das Gehirn herausholte. Nicht unbedingt.

»Wie ich es mir gedacht habe.« Der Obduzent legte das Geschlingsel in eine Aluschale und stellte alles auf eine Art Küchenwaage. »Sehen Sie sich das an.«

Ben schluckte und trat einen Schritt näher. Seine Knie fühlten sich an wie das wabblige Etwas in der Schüssel. Das vor ihm liegende Gehirn kam ihm irgendwie zu klein und zu trocken vor, aber was wusste er schon? Es war schließlich das Gehirn eines Mädchens.

»Dieses Kind ist nicht erst vorgestern ermordet worden. Sehen Sie?« Der Professor fuhr mit seinem Messer in die Gehirnschlingen. »Es ist zusammengeschrumpft, beinahe ausgetrocknet.«

»Aber ihre Haut, ich meine, alles andere sieht frisch und rosig aus.«

»Die Leiche wurde wohl lange Zeit kühl gelagert, und …« Der Gerichtsmediziner drehte sich um, beugte sich über die Leiche und schnupperte. »Genau, riechen Sie mal. Das hat mich schon die ganze Zeit gestört.«

Ben beugte sich über die Tote, sog etwas Luft ein.

»Was riechen Sie?«

Ben überlegte. Den Tod, wollte er sagen, entschied sich aber im letzten Moment dagegen.

»Würzig.« Der Obduzent fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. »Surfleisch.«

»Surfleisch?«

»Ach, ich vergaß, Sie kommen nicht von hier.« Der Rechtsmediziner schien amüsiert. »Die Tote riecht nach Pökelfleisch. Deshalb auch die Rotfärbung der Haut. Soviel ich weiß, nennt man das im Fachjargon Umröten. Das Nitrit verbindet sich mit dem Muskelfarbstoff zu Nitrosomyoglobin, deshalb die Rötung der Haut. Ich denke, eine entsprechende Gewebeprobe wird meine Vermutung bestätigen.«

Ben zog die Brauen hoch, verstand nur Bahnhof.

»Fangen wir also von vorn an.« Der Mediziner schob die Schale mit dem Gehirn seinem Assistenten zu, der sofort zu sezieren begann. »Das Mädchen wurde sehr wahrscheinlich mit einem Schussapparat getötet. Mittels Treibladung wurde der Bolzen ins Gehirn eingebracht und danach sofort zurückgezogen, deshalb keine Austrittsstelle am Hinterkopf und keine Kugel im Kopf. Wundkanal und Imprimat sind auf den pmMSCT-Scans wunderbar zu erkennen. Vermutlich kann man den Typ des verwendeten Schussapparates feststellen, allerdings hat sich an den Dingern seit dem Zweiten Weltkrieg nicht viel verändert, wenn ich richtig informiert bin. Das wird also wenig aufschlussreich sein.« Der Obduzent wies auf den Bereich des Schädels, in dem sich das kleine Loch befand, das aber im Moment von der Kopfhaut verdeckt wurde, und deutete dann mit seinem Messer auf den Hals. »Der Mörder ließ sein Opfer ausbluten. Sie können mir folgen, ja? Bolzenschuss, Ausbluten …« Er sah Ben an wie einen Siebenjährigen, der nicht begreifen will, dass im Alphabet immer B auf A folgt. »Auf mich wirkt das wie eine Art Schlachtung.« Der Arzt hielt seine Hände über Brust- und Bauchraum der Toten. »Der Mörder hat dem Mädchen die Organe entnommen, hat sie ausgeweidet wie Caligula seine Schwester Drusilla und sie dann eingepökelt und kalt gestellt, damit sie nicht zu stinken anfängt und er sie aufbewahren kann. Deshalb auch der komische Geruch. Er hat das Mädchen getötet, eingesalzen und aufgehoben, verstehen Sie? Warum er sie nun entsorgt hat, wo er sich doch solche Mühe mit ihr gegeben hat, das zu ermitteln ist Ihre Aufgabe.«

Bens Stirn und das dahinterliegende Gewebe schmerzten.

Bolzenschuss. Geschlachtet. Eingepökelt. Und wer, bitte schön, waren Caligula und Drusilla?

Bislang hatte er mit keinem Rechtsmediziner Bekanntschaft gemacht, der erstens derart viel in verständlichem Deutsch zu ihm gesprochen hatte und der zweitens über eine solch blühende Phantasie verfügte. Natürlich, oft kam es auf kleinste Details an. Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden, oder umgekehrt ausgedrückt: Die Lebenden lernen von den Toten. In diesem Fall ging Ben die Lernfreudigkeit des Professors allerdings etwas zu weit. Andererseits besaß der Mann einen ausgezeichneten Ruf, das war sogar Ben schon zu Ohren gekommen. »Sind Sie sich da sicher?«

»Wer kann schon sicher sein? Die bloßen Fakten können Sie später in meinem Bericht nachlesen, aber ich müsste mich doch sehr täuschen, wenn –«

»Schon gut«, versuchte Ben zurückzurudern. »Ihnen eilt ein exzellenter Ruf voraus, Professor Kammerlocher. Ich wollte Ihre Schlussfolgerungen auch nicht anzweifeln, im Gegenteil, ich bin ausgesprochen froh, dass Sie persönlich diese Sektion durchgeführt haben.«

»Lassen Sie die Beweihräucherung. Das liegt Ihnen nicht.« Er schnippte mit dem Finger gegen das Mikro, das über dem Mädchen baumelte. »Wer ist die Tote?«

Ben zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir noch nicht.«

Der Professor zog die Brauen hoch. »Sie kennen die Möglichkeiten einer Isotopenanalyse?«

Ben nickte, obwohl es für ihn nach wie vor ein Rätsel war, dass sich anhand einer Gewebeprobe und deren Gehalt an Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel sowie Strontium und Blei Rückschlüsse auf die Ernährungsweise und somit den Geburts- und Aufenthaltsort einer Person anstellen ließen.

»In unserer Datenbank sind um die vierhundert Isotopendatensätze von weltweit gesammelten Referenz-Haarproben gespeichert, die mit unbekannten Körpergewebeproben verglichen und so einer geografischen Region zugeordnet werden können.«

»Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen, Herr Professor. Ich denke, alles wird sich sehr schnell aufklären.«

Professor Kammerlocher nickte. »Na, Sie wissen ja, wo Sie uns finden.« Damit verabschiedete er sich und verschwand Sekunden später durch die Schwingtür.

Ben blieb mit einem unguten Gefühl neben der Leiche zurück.

»Der ist immer so, keine Sorge«, sagte der Assistent, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Wie dringend ist denn der Bericht?«

Ben atmete tief durch, ignorierte den Geruch nach Pökelfleisch. »Heute Abend?«

Jetzt sah der Assi doch auf. »Da kann ich nichts versprechen. Der Professor hat jetzt noch einen Außentermin, ich weiß nicht, ob er später noch mal im Institut vorbeischaut.«

Ben legte Kroners Visitenkarte auf den Sektionsnebentisch zwischen Waage und Säge. »Schicken Sie den Bericht bitte direkt an meinen Chef.«

»Natürlich, aber für heute kann ich wirklich nichts versprechen. Beim besten Willen nicht.«

»Schon gut.« Ben versuchte, freundlich zu lächeln. »Und bis wann können wir mit den anderen Ergebnissen rechnen?«

»Anfang nächster Woche. DNA dauert länger, aber das wissen Sie ja, nehme ich an?«

Ja, das wusste Ben. Leider. »Könnte es sich denn um eine sexuell motivierte Tat handeln?«

Der Assi unterbrach seine Arbeit und sah Ben über die Ränder seiner Brille hinweg an. »Ich will dem Gutachten ja nicht vorgreifen, aber die Dilatation des Afterschließmuskels könnte ein Hinweis darauf sein. Ja.«

Dilatation? Ben glaubte, das Wort schon einmal gehört zu haben. Hieß das nicht Ausdehnung? Ihm ging die Luft aus. Endgültig.

»Allerdings gehört dies zu den Befunden ohne Beweiswert, wie Sie vielleicht wissen.«

Das wusste er, ja. Ben verließ fluchtartig den Raum.