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»Du meine Güte, wie sehen Sie denn aus?« Cathrin Schauer schob ihre Sonnenbrille ins Haar, um sich Valli genauer anzusehen. »Ich sagte doch, es ist gefährlich. Und Sie sind Herr Bruhan?«

Ben nickte zur Begrüßung und zog für Cathrin Schauer einen Stuhl heran. Sie quittierte die Geste mit einem breiten Lächeln.

Valli war wie ein Baby eingeschlafen, als Ben das Gespräch mit Kroner beendet hatte. Danach war er mit einem Taxi in besagtes Waldstück, das ganz und gar nicht in der Nähe von Passau lag, zurückgekehrt, um den demolierten Benz zu holen, und hatte bei der Gelegenheit noch einmal mit Cathrin Schauer telefoniert. Sie hatten sich zu einem späten Frühstück in einem Straßencafé am Klostermarkt in Plauen verabredet.

Ben hielt Cathrin Schauer gegenüber nichts zurück, schonte Valli kein bisschen. Im Gegenteil, er betonte immer wieder, wie hirnrissig er die ganze Aktion fand und dass nichts davon im Einverständnis mit den Behörden geschehen war.

Cathrin Schauer hörte aufmerksam zu und bestellte bei der Kellnerin ein kleines Bio-Frühstück. »Wissen Sie, was ich mich schon die ganze Zeit frage? Wie kommen Sie auf uns? Auf KARO e. V.? Sie sagten doch, Sie hätten früher bei der Drogenfahndung in München gearbeitet. Kennen Sie uns von Ihrer Arbeit dort?«

Ben verstand nicht, blickte Valli an. Diese zuckte mit den Schultern. Die Sportbrille über ihren zugeschwollenen Augen sah albern aus. Ben musste lächeln. Das geschah ihr ganz recht. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Entlang der Grenze ist KARO bekannt, aber ich bezweifle, dass Ermittler wie Sie je mit uns in Kontakt kommen.« Es klang wie ein Vorwurf. »Die Polizei arbeitet mit den Behörden zusammen, nur selten mit uns.«

Die Bedienung brachte Orangensaft und ein Körbchen mit Vollkorngebäck.

»In Passau wird eine Frauenleiche angeschwemmt«, fuhr Cathrin Schauer fort, »ihre Identität kann nicht geklärt werden. Woher kommt da die Verbindung zu uns?«

Ben runzelte die Stirn.

»Die Tätowierung.« Valli richtete sich etwas auf, wies auf die entsprechende Stelle an ihrem eigenen Handgelenk. »Ich habe Ihnen davon in meiner Mail geschrieben.«

»Eine Tätowierung?« Cathrin Schauer rollte ihr Besteck aus der Serviette und sah Valli irritiert an. »Ich habe Ihre Nachricht überflogen, lediglich die ersten paar Sätze gelesen, zu mehr reichte die Zeit nicht.«

Ben verstand allmählich. Schauer wusste gar nichts von der Tätowierung. »Das tote Mädchen hatte ein Tattoo am Handgelenk«, erklärte er. »Selbst beigebracht, in Großbuchstaben: ›KARO‹. Ihr Ernährungszustand ließ auf einen geringen sozioökonomischen Status schließen, deshalb –«

Cathrin Schauer sah von Ben zu Valli, ihre Augen weiteten sich. »Oh mein Gott!«

»Du glaubst also nicht, dass es eine Verbindung gibt?« Kroner saß auf dem Beifahrersitz von Leo Weissenbecks nagelneuem Mini in Hot Chocolate metallic. Mit dem heruntergelassenen Verdeck kam Kroner sich kindisch vor. Wie ein Mann im zweiten Frühling, der sich von seiner neuen Freundin durch den Sonntag kutschieren ließ. Irgendwie war die Vorstellung aber auch verlockend. Er sah zu Leo hinüber.

Der Fahrtwind zerzauste deren schulterlanges blondes Haar, sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die beiden Obduktionsberichte gestern Abend rauf- und runtergelesen. Die einzige Parallele, die diese Bezeichnung nur mit sehr viel Wohlwollen verdient hätte, sehe ich in den abgetrennten Fingergliedern.« Weissenbeck blinkte, bog ab. »Sara Rieß fehlten am kleinen Finger der linken Hand zwei Glieder – eine alte Verletzung, ein Unfall beim Holzmachen, hat mir ihre Mutter gesagt, und auch dem Milchgassenmädchen wurden genau diese Glieder abgetrennt, an beiden Händen zwar und nicht fachmännisch, wie mir der Obduzent bestätigt hat, aber immerhin.«

Kroner überlegte. Diese Details waren ihm bislang nicht aufgefallen. »Was könnte das bedeuten?«

»Nichts vermutlich.« Leo lachte. »Vielleicht hat der Milchgassenmörder nur probeweise die Finger des Mädchens abgehackt, um zu sehen, ob er zu einer solchen Tat überhaupt fähig ist. Oft sind die Details der Ausführung in den Köpfen dieser Perversen aufs Akribischste ausgearbeitet, aber deren Umsetzung steht auf einem ganz –«

»Hör auf!«, unterbrach Kroner sie. Leo nannte die Dinge ja gern beim Namen, sodass Hannes sich gelegentlich wünschte, sie würde nicht gleich jedem Gedanken Tür und Tor nach draußen öffnen. Doch das änderte nichts daran, dass Leo recht hatte. Wenn alle kranken Gedanken der Menschheit gleich ausgeführt würden, dann gnade ihnen Gott. In der Realität brauchte es meist einen Auslöser, einen Initialreiz, damit pathologische Phantasien Realität wurden.

Inzwischen holperte der Mini über den Kiesweg auf den Zachler-Hof zu. Obwohl Leo den Wagen erst gestern beim Händler abgeholt hatte, schenkte sie ihm nichts. Mit über fünfzig Sachen bretterte sie dahin, Steinchen spritzten wie Wasser in die Höhe, als plötzlich eine Gestalt neben der Straße auftauchte und wild mit den Armen fuchtelte. Leo stieg dem Mini voll in die Eisen. »Auch das noch«, knurrte sie, als der Wagen nach einigem Schlingern endlich zum Stehen kam. »Die ist ja wohl verrückt geworden.«

»Sie kennen sie?« Valli hielt nichts mehr auf ihrem Stuhl, obwohl ihr jede Bewegung Höllenqualen verursachte.

»Ja, wahrscheinlich.« Cathrin Schauer stützte den Kopf in beide Hände, sah sich das Bild auf dem Display von Bens Smartphone genau an. Es war die unbearbeitete Version aus der Rechtsmedizin, das reale Abbild des toten Mädchens.

Ben ließ Frau Schauer Zeit, packte Valli am Ellbogen und zwang sie, sich zu setzen. Zu seiner Überraschung wehrte sie sich nicht und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen.

»Das Foto«, die Leiterin der Beratungsstelle schluckte, »es ist so anders, so …« Sie straffte den Rücken, schob sich eine Haarsträhne nach hinten. »Ich hätte sie auf dem Foto niemals wiedererkannt, aber sie hat mir vor einiger Zeit mal die Tätowierung gezeigt, wollte mir damit beweisen, dass sie es ernst meinte, dass sie rauswollte aus dem ganzen Schlamassel.«

»Wie heißt sie?« Ben bemühte ausnahmsweise seinen Notizblock, nicht die Aufnahmefunktion seines Handys.

»Marcela Dankova, dreizehn Jahre alt. Ich kenne sie schon sehr lange, über fünf Jahre. Sie wurde seit frühester Kindheit zur Prostitution gezwungen.« Cathrin Schauer atmete tief durch. »Wir haben Marcela seit Monaten nicht gesehen, ich dachte, sie wäre vielleicht weiterverkauft worden.«

»Wann genau haben Sie sie aus den Augen verloren?«, hakte Ben ein.

Cathrin Schauer überlegte. »Da müsste ich in unseren Unterlagen nachsehen, es muss Ende Februar, Anfang März gewesen sein. Im April hätte ich für sie einen Platz zum Entgiften gehabt, auch ein Therapieplatz stand in Aussicht. Sie hätte wieder zur Schule gehen können.«

Die Angaben passten mit denen der Rechtsmedizin zusammen. Ben reichte Frau Schauer den Korb mit den Brötchen. »Haben Sie über Marcelas Verbleib Erkundigungen eingeholt?«

»Wir haben nach ihr gefragt, aber niemand konnte uns etwas sagen. Es war komisch, denn auch wenn die Mädchen weiterverkauft werden, weiß meist jemand etwas davon. Aber alles, was ich erfahren konnte, war, dass ihr Bruder gesehen hat, wie sie mit einem deutschen Auto weggefahren ist.«

»Hat er sich das Kennzeichen gemerkt? Den Fahrzeugtyp?« Eine vage Hoffnung keimte in Ben. Er hielt die Luft an.

»Deutsch. Mehr wusste Antonín nicht.«

Ben ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. »Waren Sie bei den tschechischen Behörden? Haben Sie Marcela als vermisst gemeldet?«

Cathrin Schauer nickte. »Ja, aber ich bezweifle, dass meine Angaben aufgenommen wurden.«

»Sie sprachen von Entzug.« Ben warf Valli, die immer tiefer in ihrem Stuhl versank, einen schnellen Blick zu. »Welche Drogen hat Marcela konsumiert?«

»Das weiß ich nicht genau. Üblich bei den Mädchen sind Crystal oder Pico, ein amphetaminhaltiger Stoff, der in tschechischen Labors hergestellt wird. Aber viele schnüffeln auch Klebstoff, rauchen Haschisch oder trinken.«

Der Abgleich mit den Ergebnissen der Gewebeproben würde das bestätigen können. Ben notierte eifrig mit. »Hatte Marcela außer Antonín noch andere Verwandte? Eltern? Geschwister?«

»Ich glaube nicht. Ihr Bruder passte auf, wenn sie auf der Straße war. Er war alles, was sie hatte, und dennoch sagte Marcela einmal, Antonín würde sie umbringen, würde er davon erfahren, dass sie zu uns kam.«

Der Bruder als Zuhälter seiner Schwester! Vallis Gesichtsfarbe glich sich mehr und mehr dem weißen Tischtuch an.

»Geht es dir gut?«, fragte Ben. Um Vallis Nasenspitze glänzte ein feiner Schweißfilm. Das Frühstück hatte sie bislang nicht angerührt.

»Sie sollten ihr etwas Ruhe gönnen.« Cathrin Schauer berührte Valli sanft an der Schulter. »Oder sie ins Krankenhaus bringen.«

Ben nickte, obwohl er im Moment wenig Empathie für Fräulein Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand empfand. »Eine Frage noch: Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung der Mädchen aus? Gehen sie zum Arzt? Zahnarzt?« Irgendwie mussten sie einen Beweis darbringen, dass das tote Mädchen tatsächlich Marcela Dankova war. Bislang sprach nur Cathrin Schauers Aussage dafür, aber vielleicht gab es ja Röntgenaufnahmen, ein Zahnschema?

Schauer schüttelte den Kopf. »Die wenigsten sehen je eine Praxis von innen, dafür haben sie kein Geld.«

»Und der Bruder? Könnte er vielleicht Marcela identifizieren?« Auch ein DNA-Vergleich wäre denkbar.

Cathrin Schauer zuckte mit den Schultern. »Schwierig, aber Sie können es versuchen.«

Ben verabredete mit Schauer einen Treffpunkt später am Nachmittag. Sie würde ihm helfen, Antonín zu finden. Auch er hatte seine Kindheit als Stricher auf der Straße verbracht.

Als Vallis Gesicht immer fahler wurde, legte Ben Geld auf den Tisch, überreichte Schauer seine Karte und verabschiedete sich.

Cathrin Schauer steckte die Karte ein und reichte ihm eine der ihren. Plötzlich sah sie unentschlossen aus und irgendwie auch müde. Ben hievte Valli hoch, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, drohte jeden Moment wegzukippen.

»Herr Bruhan?«

»Ja?«

Cathrin Schauer knetete ihre Hände, schien mit sich zu ringen. »Seit zwei Wochen vermissen wir noch ein anderes Mädchen.«

Valli sah auf, versuchte, sich zu konzentrieren, aber es war, als würde ein ganzer Bienenschwarm durch die Gehörgänge in ihr Hirn krabbeln.

»Es ist komisch, denn ich glaube nicht, dass sie weiterverkauft wurde oder abgehauen ist. Wir standen in gutem Kontakt zu ihr und hätten wohl irgendwas gehört, wenn dem so wäre.«

Ben legte sich Vallis Arm um die Schultern, stützte sie. »Sie meinen …?«

Cathrin Schauer schüttelte resigniert den Kopf. »Es ist nur ein Gefühl, eine Ahnung … Wie bei Marcela.«

»Wie heißt das zweite Mädchen?«

»Hana. Hana Sládek.«

»Der bringt ihn um! Beeilen Sie sich, Herr Kommissar! Der Zachler bringt seinen Bruder um.« Maria Schatz’ sonst blasse Haut war rot vor Aufregung, an ihrem faltigen Hühnerhals leuchteten hektische Flecken, ihre Augen funkelten. Doch es war nicht Entsetzen, das Kroner darin las, es war die reine Sensationslust.

»Wo?«, fragte Leo, deren Herz raste wie der Donnerhall fliegender Hufe auf der Zielgeraden der Galopprennbahn in Ascot. Um ein Haar hätte sie die Hex von der Ilz über den Haufen gefahren.

»Am Hof, wo sonst?« Die Schatz machte Anstalten, hinten in den Mini zu steigen.

Leo schickte einen Gruß ans Getriebe und trat auf das Gas. Wieder flog der Kies durch die Luft, und Kroner konnte durch die Heckscheibe beobachten, wie die Schatz ihnen hinterherschimpfte.

Sie sahen die Zachler-Brüder schon von Weitem. Saras Vater stand mit dem Rücken zu ebenjener Leiter, an der die abgestochene Sau gehangen hatte, sein jüngerer Bruder drückte ihm mit einer quer gehaltenen Mistgabel die Kehle zu. »Du Drecksau, du dreckerte!«, schrie er wie von Sinnen.

Sogar aus der Entfernung erkannte Kroner, dass Toni Rieß sich nicht mehr wehrte, seine Arme hingen schlaff an den Seiten herunter, aus dem ganzen Körper war jegliche Spannung gewichen. Kroner hätte erwartet, dass der ältere Zachler dem jüngeren die Meinung geigte, aber es war genau umgekehrt.

Hektisch tippte er die Kurzwahl des Notrufs in sein Handy – wenigstens hatte er Netz –, orderte einen Krankenwagen und sprang aus dem Wagen.

Leo war wie immer schneller. Seit sie in der Leichtathletik in der Altersklasse W40 starten durfte, räumte sie bei Meisterschaften reihenweise Titel über sechzig und hundert Meter ab, obwohl man ihr das nicht ansah – überhaupt nicht. Ehe Franz Rieß reagieren konnte, war Leo bei ihm, packte ihn von hinten und riss ihn von seinem Bruder fort. Die Gabel landete auf dem Boden, und der Zachler wäre um ein Haar in die himmelwärts gerichteten Zinken gefallen, als er vornüberkippte. Er blieb bewusstlos liegen.

Der Zachler-Bruder ging keuchend in die Knie, hielt sich die Seite. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor.

Kroner sah von einem zum anderen, während Leo Toni Rieß’ Puls fühlte. Erleichtert nickte sie Kroner zu, als sie den Herzschlag spürte, und tätschelte die Wange des Bewusstlosen.

»Was ist hier los?«, fragte Kroner schließlich.

Franz Rieß kniete vor ihm und starrte wie ohnmächtig auf seine blutverschmierten Hände. »Der wollt mich abstechen wie eine Sau.«

»Ihr Bruder?« Kroner ging neben dem jüngeren Zachler in die Hocke.

»Wie ein wild gewordener Ochs ist der auf mich losgegangen, nur weil …«

An den Zinken der Mistgabel klebte eindeutig Blut, und soviel Kroner erkennen konnte, hatte Saras Vater keine Wunde von dem Kampf davongetragen. Von Weitem hörte er das Martinshorn näher kommen. »Warum? Warum ist er auf Sie losgegangen?«

»Der wollt mich davonjagen wie einen räudigen Köter.« Anscheinend steckte dem Franz der Schock in den Knochen, er redete einfach drauflos, ohne nachzudenken. »Wegen der Sach im Trifttunnel, wegen dene Kinder. Aber ich hab nichts getan, da war noch wer da. Jemand anders. Ich hab mir nur die Beine vertreten wollen. Der andere, der kam mir komisch vor, da hab ich zu den Kindern gsagt, sie sollen von hier verschwinden, da wär ein Teufel im Tunnel, und sie solln gefälligst schaun, dass s’ heimkommen.«

Keine Spur mehr von aufstiegsorientierter Dialektvermeidung. Und trotzdem glaubte Kroner Franz Rieß kein Wort.

»Und als ich aus dem Tunnel rauskim, kommt ausgrechnet die Schatz daher. Weiß der Teufel, was die um diese Zeit da gmacht hat. Eigentlich hätt die daheim bei der Stallarbeit sein müssen, ihre paar Küh melken, die sie noch hat.«

»Und was hat das alles mit Ihrem Bruder zu tun?« Kroner sah mit wachsender Besorgnis zu Toni Rieß, der immer noch reglos am Boden lag.

»Der hat mir das nicht glauben wollen. Der meinte, ich hätt die Kinder … Und das mit dem Milchgassenmädchen traut der mir auch zu, der spinnt doch!«

Endlich war der Krankenwagen da, und zwei junge Männer sprangen aus dem Kombi.

»Da ist er nicht der Einzige«, sagte Kroner und machte Platz für die Sanitäter.

Ben lag ausgestreckt auf der Rückbank seines VW-Busses und gähnte. Eine Baumreihe aus Akazien spendete Schatten, die Schiebetür stand offen, und ein laues Lüftchen wehte herein. Einen kurzen Moment lang fühlte es sich an wie Urlaub.

Verdammt! Noch ein Mädchen. Hana. Kein Urlaub.

Durch geschwollene Augen sah Ben auf seine Uhr. Er hatte fast zwei Stunden lang geschlafen. Neben ihm hockte Valli im Schneidersitz und sah ihn an. »Du bist wach?« Ben rieb sich die Augen.

»Ja, schon länger.«

»Geht es dir besser?« Ben stemmte sich hoch, rutschte nach vorn, damit er die Beine abstellen konnte.

Valli nickte, sah dabei aber nicht überzeugend aus. Nachdem sie sich von Cathrin Schauer verabschiedet hatten, war Ben zu einem Krankenhaus gefahren, doch Valli hatte sich geweigert, hineinzugehen. Sie hätten keine Zeit für solchen Quatsch, und sie bräuchte außerdem nur ein bisschen Schlaf, dann wäre sie wieder ganz die Alte. Also hatte Ben die Rückbank umgelegt, und da waren sie nun.

»Was, wenn es stimmt?« Obwohl es noch keinen stichhaltigen Beweis gab, dass Hana Sládek ein ähnliches Schicksal wie Marcela erfahren haben könnte, zweifelte Valli keine Sekunde daran, dass Cathrin Schauer mit ihrem Bauchgefühl richtiglag.

Ben wusste sofort, wovon Valli sprach, ging aber nicht darauf ein. »Hast du Kopfschmerzen, ist dir schwindlig?«

Sie schüttelte genervt den Kopf. »Was, wenn Cathrin Schauer recht hat und das andere Mädchen auch entführt wurde?«

»Fühlst du dich gut genug, um mit dem Mercedes später nach Hause zu fahren?« Ben wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen – nicht mit Valli –, er würde das alles in Ruhe mit Leo und Kroner besprechen, wenn er zurück in Passau war. Gleich morgen früh, noch vor der Morgenandacht.

»Natürlich kann ich fahren«, sagte Valli entschieden. »Aber glaubst du, dass es möglich wäre?«

Sie konnte es nicht lassen! Ben hätte Valli ein Pflaster über den Mund kleben sollen, aber er hatte anderes vor. Es war inzwischen fast fünf. Cathrin Schauer hatte gesagt, dass sie um diese Uhrzeit mit ein bisschen Glück Marcelas Bruder an einer der Einfallstraßen Chebs antreffen würden. Es war Zeit, aufzubrechen, Ben wollte pünktlich am Treffpunkt sein. »Bis ich zurück bin, ruhst du dich noch ein bisschen aus, und dann fahren wir, okay?« Ben stieg aus und öffnete die Fahrertür von Opa Kroners Benz, der direkt neben dem Bus stand. Er würde Klebeband besorgen und irgendetwas, womit er die kaputte Scheibe für die Fahrt notdürftig reparieren konnte, dann würde es schon gehen. Schnell sah er zu Valli hinüber. Sie sah aus wie ein Kind. Allmählich tat sie ihm doch leid. »Ich werde auch bei der tschechischen Polizei vorbeifahren. Vielleicht wissen die ja doch mehr, als Frau Schauer annimmt. Es kann also spät werden.«

Valli fingerte an ihrer Radlerhose herum und förderte die Speicherkarte zutage. »Ich habe Fotos von dem Mann gemacht, der mit dem kleinen Mädchen in den Wald wollte. Zeig das der Polizei.«

Ben winkte ab. »Das hat keinen Sinn. Hast du nicht gehört, was Cathrin Schauer gesagt hat?«

Vallis Augen funkelten gefährlich, sie zog einen Flunsch.

Ben verdrehte die Augen.

»Glaubst du, es handelt sich um einen Serientäter?« Als Valli ebenfalls ausstieg, schwankte sie leicht.

»Das hoffe ich nicht. Wenn hier ein zweites Mädchen verschwindet, muss das noch lange nichts heißen.« Jetzt hatte er doch wieder etwas gesagt. Was für eine Scheiße!

»Aber es könnte sein. Und vielleicht lebt Hana ja noch, wir müssen –«

»Gar nichts musst du, Valli! Das ist nicht deine Aufgabe, du bist uns nur im Weg!« Ben drehte sich entnervt um, stieg wieder in seinen Bus und baute mit ein paar Handgriffen die Rückbank um, sodass man wieder darauf sitzen konnte.

»Serientäter sind überdurchschnittlich intelligent. Das könnte weiterhelfen, oder? Vielleicht werdet ihr in Hochbegabtenprogrammen fündig oder –«

»Du kannst es nicht lassen, was?« Ben blickte Valli böse an. »Außerdem stimmt es nicht: Serientäter sind im Allgemeinen nur durchschnittlich intelligent. Und gerade die unterdurchschnittlich intelligenten schaffen es, sich doppelt so lange der Polizei zu entziehen wie die intelligenten. Hast du das an der Uni nicht gelernt? So was wird doch sicher irgendwann in einem zehnsemestrigen Psychostudium durchgekaut, oder?« Ben hatte über dieses Phänomen in einer Studie aus den USA gelesen. Er erwähnte nicht, dass mit doppelt so lange vier Jahre gemeint waren.

Vier Jahre! Verdammt.

»Hattest du eigentlich noch mal Kontakt zu Laurenz?«, fragte er Valli möglichst beiläufig.

»Nein, warum? Habt ihr ihn gefunden?«

Ben schwieg.

»Dann muss ihm irgendetwas passiert sein. Er hat mir versprochen, sich bei Kroner zu melden.«

Ben schloss die Augen, atmete tief durch. »Jetzt pass mal auf, Valli. Laurenz Osterby ist nicht das Unschuldslamm, für das du ihn hältst. Wir haben jede Menge Fotos von halb nackten Mädchen auf seinem Rechner gefunden, und jetzt rate mal, wer am häufigsten abgelichtet war?«

Valli hob ratlos die Schultern.

»Du.«