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Hier musste es sein. Valli spähte durch den Maschendrahtzaun, wunderte sich über die hoch aufragenden, dicht verzweigten Hainbuchen, die jeden Blick auf das Grundstück unmöglich machten. Stacheldraht? Eine Laube, ein Gartenhäuschen – umzäunt wie ein Hochsicherheitstrakt?
Sie stopfte Laurenz’ Foto zurück in die Gesäßtasche ihrer Jeans, rüttelte am Tor, drückte die Klingel. Nichts geschah, niemand öffnete, auch nicht nach einer halben Ewigkeit. Valli sah sich um. Ein perfektes Versteck. Laurenz hätte sich auf Monate hier verkriechen können, ohne dass jemand davon Wind bekommen hätte, wäre nicht die Notiz auf dem Kassenbon in Vallis Hirn aufgeblitzt wie eine Sternschnuppe am Himmel.
Schrebergarten. Auch eine Telefonnummer hatte danebengestanden, aber an die konnte Valli sich nicht erinnern.
Valli hörte Schafe blöken. Määhh, m ä ä ä ä ä ä ä ä ä ä ä ä äh … Damit die lieben Tierchen nicht absaufen, dafür bin ich gut genug, das hatte Laurenz gesagt. Wortwörtlich. Er war hergefahren und hatte beschlossen, hier dem Polizeitrubel zu entgehen und die ganze Geschichte einfach auszusitzen. Todsicher.
Das Grundstück lag direkt am Wasser – auch das passte. Es war das letzte einer Reihe von kleinen Anwesen. Bei den anderen hatte Valli bereits nach Laurenz gefragt – ohne Erfolg. Sie hob einen schweren Stein auf und donnerte ihn gegen das Tor. »Laurenz!«, schrie sie. »Ich weiß, dass du da bist. Mach auf!«
Keine Antwort. Valli fischte ihr Handy aus der Tasche, wählte Kroners Nummer. »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar.«
Mist!
Sie hinterließ die Nachricht von vorhin ein zweites Mal auf Kroners Mailbox. Warum rief er nicht zurück? Verdammt! Sie wählte Bens Nummer. Nicht erreichbar. Bei ihm fiel die Zweitversion der Ansage etwas länger aus. Valli quatschte drauflos, ohne nachzudenken.
Ben.
Sie schluckte schwer. War sie verknallt? Bruhan war garantiert nicht gut für sie, und außerdem interessierte er sich wahrscheinlich nicht die Bohne für Mädchen wie sie. Ein Buamamädel, so hatte Markus Valli früher immer genannt, und sie war stolz darauf gewesen, war es heute noch, irgendwie jedenfalls. Aber Ben stand hundertpro auf Frauen à la Bar Refaeli, Gisele Bündchen oder Adriana Lima und ganz sicher nicht auf Typen wie Abby Wambach oder Hope Solo. Valli hatte auch gar keine Lust, so viel Zeit auf ihr Äußeres zu verschwenden. Es seien die inneren Werte, die zählten, sagte Joja immer, aber auch damit könne Valli niemanden umhauen, konterte Markus. Außerdem sei das totaler Quatsch, so der jüngste Kroner-Spross. Auf innere Werte beriefen sich immer nur die bladen Blunzn, weil die außenrum nix zu bieten hatten außer einer angsteinflößenden Schwarte. Basta.
Valli musste schmunzeln. Markus war in dieser Hinsicht unverbesserlich. Sie drosch den Stein erneut gegen das Metalltor. Es überraschte sie, dass die Osterbys einen Schrebergarten hatten. Beides passte irgendwie nicht zusammen. Und dann auch noch Schafe! Was wollte Frau Oberstaatsanwältin mit Schafen, wenn sie doch die meiste Zeit in Karlsruhe hockte?
Gut, der Baron und die Baronin hatten bis vor ein paar Jahren Pferde gezüchtet, vielleicht hatte die Tochter ja die Liebe zu den Tieren geerbt. Aber wieso hielt sie ihre Viecher dann nicht auf dem Grundstück ihrer Eltern in Bergfried, sondern pachtete dafür diese Parzelle?
»Laurenz! Mach auf. Ich bin’s, Valli.« Der Stein donnerte gegen das Eisen – unaufhörlich. Es war ihr scheißegal, ob sich die Anrainer davon gestört fühlten. Die Gärten waren ohnehin riesig, da bekam sicher niemand etwas vom anderen mit. Valli hatte sich eine Schrebergartensiedlung anders vorgestellt: enger, familiärer.
Schließlich gab sie es auf, ließ den Stein fallen und ging am Zaun entlang. Einige Meter entfernt stand ein Apfelbaum – ideal zum Klettern. Valli schwang sich hoch und kraxelte bis in die Krone. Sogar von hier aus war lediglich der Giebel des Hauses zu sehen, so hoch war der Zaun. Ihre lädierten Körperteile beschwerten sich, aber sie biss die Zähne zusammen.
»Laurenz! Hörst du mich?« Valli sah sich um. Einige Äste des Apfelbaums ragten über den Zaun, und die Hainbuchen auf dem Grundstück mussten uralt sein. Sie waren stabil gewachsen, würden Vallis Gewicht locker tragen. Nur der Stacheldraht auf dem Zaun war ein Problem. Valli überlegte: Sollte sie hinüberspringen? Aber wie kam sie wieder raus, falls Laurenz tatsächlich nicht da war? Aber raus kam man immer irgendwie. Sicher ließe sich das Tor von innen öffnen, und notfalls würde sie es auf demselben Weg zurück schaffen.
Der Stacheldraht riss ihr die Haut am linken Oberschenkel auf, ein Ast bohrte sich in ihren Magen, ein Fingernagel platzte ab, aber sie war drüben. Schimpfend krallte sie sich an den Stamm, duckte sich durch die Verzweigungen der Äste und schob den blutenden Finger in den Mund. Der Schmerz pochte.
Tut das weh!
Jetzt sah sie das Haus. Haus? Wohl eher ein Anwesen. Haupthaus und Nebengebäude, zum Fluss hin schloss sich ein Schuppen an. Valli sprang auf den Boden, trat aus dem Schatten der Bäume und legte sich eine Hand über die Augen. Die Sonne ging gerade unter, alles war in orangerotes Licht getaucht. Valli blinzelte.
Abendrot – Schlechtwetterbot.
Hinter ihr knackte ein Zweig, sie fuhr herum, stolperte direkt hinein in den gut gezielten Schlag. An ihrer Schläfe explodierte eine Sprengladung, die frische Naht platzte auf wie eine reife Tomate. Kurz sah Valli die Detonation grell in ihren Augen leuchten, dann ging das Licht aus, und sie fiel und fiel und fiel …
Ein Großaufgebot der Polizei durchforstete seit neunzehn Uhr dreiundzwanzig die Laubensiedlung an der Eisenbahnbrücke Kachlet. Alles, was nach der Überschwemmung noch übrig war, nahmen die Beamten auseinander: Jeder Deckel wurde gelupft, jede halbseidene Wand abgeklopft, aber vergeblich. Sie fanden nichts. Absolut gar nichts! Kein geheimes Schlachthaus, keine Horrorkammer, wie Kroner, Leo und Ben insgeheim vermutet hatten, nur spießig eingerichtete Gartenhäuschen, in denen brave Bürgerinnen und Bürger, wie es sich gehörte, auf flimmernde Bildschirme starrten. Normalerweise. Nicht jetzt, da die Donau jede Gemütlichkeit fortgespült hatte.
In den Schuppen lagerten Hacken, Harken, Schaufeln, Unkrautstecher, Dünger und Schneckengift. Keine Messer, keine Beile, kein Sautrog, keine Ketten, kein Saupech, auch kein Pökelsalz und schon gar kein Schussapparat – ganz zu schweigen von einem tschechischen Mädchen, das sich in Todesangst an eine Wand drückte.
Die Spurensicherer drehten schon bald Däumchen, die Leute vom OED wollten nach Hause, und Kroner war bei aller Enttäuschung heilfroh, nicht das Sondereinsatzkommando bemüht zu haben.
Er raufte sich die Haare. Vor gut einer Stunde war er mit einigen Beamten und Blaulicht zum Zachler-Hof gefahren, um Franz Rieß vorläufig festzunehmen, aber der jüngere Zachler-Bruder war nicht da gewesen. Laut Auskunft der Schwägerin hatte er sich am frühen Nachmittag – wie üblich – auf Sauftour begeben. Vor Mitternacht käme der gewiss nicht zurück, hatte die Zachlerin geschimpft, keine Chance, aber gar nie nicht eine! Ihr Mann schliefe, Gott sei Dank, er sei erst vor einer Stunde aus dem Krankenhaus entlassen worden – psychisch schwer angeschlagen, wie es hieß.
Ja, wo denn da der Franz normalerweise hingehe, zum Saufen, hatte Kroner sich weiter erkundigt.
Das könne man so genau nicht sagen, erwiderte die Zachlerin, mal nach Salzweg, mal in die Altstadt, gern auch in Inn- und Ilzstadt treibe sich der werte Herr Schwager herum. Sie könne sich beim besten Willen nicht denken, woher das Geld für die Zeche stamme. Wahrscheinlich schrieb er an. Eine Schande sei das.
Seit wann er denn wieder so gut beieinander sei, dass er sich derlei Strapazen zumuten könne, nachdem der Bruder ihn doch fast abgestochen hätte.
Ach, das sei schon am gleichen Tag gegangen, als er entlassen worden war. Das Essen ließe er sich aber nach wie vor am Bett servieren, und auch sonst könne er keinen Handstreich tun vor lauter Ungemach.
Sogar Kroner hatte Saras Mutter ansehen können, dass sie völlig am Ende war, und er war beileibe niemand, der dafür ein Auge hatte. Alle Arbeit blieb jetzt an ihr hängen und dazu der Kummer wegen der Tochter. Wie konnte ein Mensch das aushalten? Aber Kroner wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, dass es immer weiterging. Irgendwie. Und dass der Schmerz nachließ. Irgendwann.
Kroner dachte einen kurzen Moment an Valli und Joja, atmete tief durch, ehe Leo, die ihm über die reißbrettartig angelegten Wege des Schrebergartens entgegenlief, ihn erreicht hatte. Ben kam gerade aus der anderen Richtung, hatte anscheinend ebenfalls etwas zu berichten.
»Und?«, rief die Chefermittlerin schon von Weitem. »Was gefunden?«
Kroner schüttelte den Kopf.
»Wieso geht ihr zwei Helden nicht ans Telefon?«
Kroner und Ben zückten die Handys und sahen aus wie Cowboys, die nicht fassen können, dass jemand ihnen heimlich das Magazin geleert hat: Funkloch!
»Dass es so was in Passau noch gibt.« Kroner hielt Leo sein Handy unter die Nase: ein einsamer Strich. Kein Empfang. Musste an der einbetonierten Umgebung liegen.
»Na schön, die Ausrede lass ich gelten.« Leo zog Kroner und Ben ein paar Meter mit sich, um den Kollegen nicht im Weg zu stehen. »Aufgepasst! Die Kugel in Sullivans Schulter stammt definitiv von einer Walther PPK. Eine solche ist vor drei Stunden auf einem Fließband in der Müllverbrennungsanlage aufgetaucht. Ich wette, das ist unsere.« Leo strich sich ihre blonden Fransen hinter die Ohren. »Kollege Ligeia prüft gerade die Routen des Abfallentsorgers gestern und heute. Stehen angeblich im Internet.« Einen Moment lang verfolgte sie gespannt das Gewusel in den Parzellen. »Die Fahndung nach Laurenz läuft. In den Abendnachrichten wurde ein Bild von ihm gezeigt.«
Kroner nickte, strich mit zwei Fingern über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Als wir vorhin auf dem Zachler-Hof waren, habe ich den Alten nach dem Grundstück hier gefragt. Ich wollte wissen, wann er es dem Franz überschrieben hat.«
Ben und Leo sahen ihn erwartungsvoll an.
»Vor ein paar Jahren, hat er gesagt, ihn würde es eh wundern, dass der Franz es noch nicht versoffen hat.« Das jedenfalls hatte Kroner aus dem Gebrabbel geschlossen, dass der alte Zachler im wahrsten Sinne des Wortes ausgespuckt hatte. Dass der Alte, halbseitig gelähmt, wie er war, tatsächlich die Kraft aufgebracht hatte, um der knackigen Streifenbeamtin, die neben dem Krankenbett gestanden hatte, an den Hintern zu tatschen, das mussten die zwei hier nicht wissen. Interessant war etwas anderes gewesen. »Die Zachlerin wusste davon nichts, sagte, das Gelände am Kraftwerk hätte der Vadder eigentlich der Sara versprochen. Sie war ehrlich bestürzt über diese Neuigkeit, das kann ich euch sagen.«
Ging es am Ende vielleicht um eine Erbschaft? Hatte Sara deshalb sterben müssen? Kroner sah förmlich, wie es in den Köpfen seiner Kollegen ratterte. »Wir sollten überprüfen, ob der Zachler-Hof überhaupt schon an die jungen Zachlers übergeben ist. Vielleicht hat Saras Vater ja irgendwie von der heimlichen Übergabe an den nichtsnutzigen Bruder erfahren und sich zu Recht gesorgt, dass der Alte dem Franz nach dem Grundstück hier womöglich auch noch den Rest vermacht.« Die Kinder, die daheimblieben und sich um alles kümmerten, galten ja oft nichts. Da hatte es bei Testamentseröffnungen schon so manch böse Überraschung gegeben.
Kroner zog das Papier mit den Namen der Pächter hervor, das die Zachlerin auf Anweisung ihres Schwiegervaters schimpfend aus dem hintersten Winkel einer Kommode zutage gefördert hatte. Offensichtlich hatte der verlorene Sohn zum Vater einen besseren Draht, als alle angenommen hatten, und das ein oder andere Geheimnis dazu.
»Mir ist vorerst nichts aufgefallen. Kein bekannter Name, soweit ich sehen konnte.« Kroner drückte Leo die Liste in die Hand. »Mädchennamen, Anverheiratete, Lebensgefährten, wir sollten alles durchkauen und anschließend mit den anderen Listen abgleichen.«
Leo nickte. »Gut.«
Ben konnte nicht klar denken, hörte seinen Chefs nur mit halbem Ohr zu. Vallis Anruf, den er vorher nicht abgehört hatte, blinkte auf seinem Handy. Er starrte auf das Display, alles geriet durcheinander. Plötzlich hatte er das Bild vor Augen, wie Laurenz auf seinen Vater schoss. Von hinten! »Wieso hat Sullivan in der Villa die Stimme seines eigenen Sohnes nicht erkannt?«
Kroner und Weissenbeck drehten sich zu Ben um.
»Ich meine, Sullivan hat doch ausgesagt, dass die Stimme des Mannes, der auf Marlis Osterby geschossen hat, komisch geklungen hat. Er hat sie nicht erkannt. Er hat die Stimme seines eigenen Sohnes nicht erkannt! Das stinkt doch zum Himmel, verdammt noch mal!«
Leo wunderte das nicht. »Sullivan hat seinen Sohn zwanzig Jahre nicht gesehen und gehört. Laurenz hat inzwischen den Stimmbruch durchgemacht. Vielleicht empfand Sullivan die Stimme gerade deshalb als komisch. Sie war ihm fremd und doch irgendwie vertraut.«
Ben nickte widerwillig und trat wütend gegen einen Stein.
»Wir brechen hier jetzt ab.« Kroner winkte den Einsatzleiter zu sich. »Das hat keinen Sinn mehr, schick deine Leute nach Hause.«
Während die Ermittler zurück zum Parkplatz gingen, hielten alle drei ihre Handys in die Luft. Inzwischen war es vollkommen dunkel: unheimlich, wie in einem alten Horrorstreifen.
»Habt ihr Netz?«, fragte Kroner.
»Drei Striche.« Ben tippte auf »Neue Nachrichten«.
»Ah, ich jetzt auch.« Kroner presste sein Telefon gegen das Ohr. »Valli hat mich schon wieder angerufen. Sie kann einfach nicht aufhören …«
Ben blieb stehen, Vallis aufgeregte Stimme hallte in seinem Kopf: »Scheiße, Ben, ich weiß jetzt, was mit deiner Schwester passiert ist.« Das Blut rauschte in seinen Ohren, schwoll zu einer schäumenden Gischt an. »Sorry, dass ich gefragt habe. Das tut mir echt leid. Falls du darüber reden willst, ich … also, ich stehe jederzeit zur Verfügung, okay? Und … dafür wirst du mir sicher den Kopf abreißen, aber ich kann Kroner nicht erreichen, dabei muss ich ihm dringend etwas sagen … Wegen Laurenz. Mir ist eingefallen, wo er hinwollte, nachdem wir uns im ›Oberhaus‹ getroffen hatten. Bitte ruf mich an oder gib wenigstens Kroner Bescheid, dass er mich anrufen soll.«
Sie weiß es also!
Leo packte Ben an den Schultern, rüttelte kräftig. »Bruhan! Was ist los? Du schaust aus, als hätte dir der Leibhaftige seinen nackerten Arsch ins Gesicht gereckt.«
Ehe Ben antworten konnte, fuhr Kroner dazwischen und fasste Ben hart am Arm. »Hat sie dich auch angerufen?«
Ben nickte.
»Hat sie dir gesagt, wo Laurenz hinwollte?«
Ben blieb stumm.
»Bruhan!« Kroners Faust schloss sich um die vordere Knopfleiste von Bens knitterfreiem Hemd. »Mach den Mund auf! Hat Valli gesagt, WO! VERDAMMT! NOCH! MAL! Laurenz hinwollte?«
»Nein.«