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»Niemand da, wie’s ausschaut.« Ligeia drückte den Klingelknopf unanständig lang. »Was machen wir jetzt?«

Ben sah sich das Metalltor genauer an: so viel Stacheldraht. Alles wirkte neu, wie frisch montiert. Wahrscheinlich war nach dem Doblweg-Mord hier allerhand los gewesen. Bei solchen Vorfällen gab es ja die kuriosesten Szenarien, da pilgerten manchmal Scharen von Schaulustigen zur Stätte des Grauens. In so einem Fall galt es, die Privatsphäre zu schützen – mit allen verfügbaren Mitteln. Das war nur allzu verständlich.

»Lass uns zurück ins Büro fahren. Wir sagen Leo und Kroner Bescheid. Sollen die entscheiden.« Ben schob Ligeias Hand vom Klingelknopf. Sturmgeläut brachte sie hier auch nicht weiter.

»Ob Staatsanwaltschaft und Gericht sonderlich begeistert sein werden, wenn wir schon wieder einen Schrebergarten hopsnehmen wollen? Gestern in Kachlet, das war ja ein Griff ins Klo – ein ganz tiefer.«

Ben nickte. »Diesmal reicht mir ein Durchsuchungsbeschluss für Parzelle Nummer 16.« Er war sauer. Im Fernsehen würde der unerschrockene Ermittler keine Zeit verlieren, sich in Spiderman-Manier über den Zaun schwingen, sich gewaltsam Zugang verschaffen – komme, was wolle – und dem Täter zuallererst eine aufs Maul hauen. Und im echten Leben? Da musste alles strikt nach Vorschrift laufen, ansonsten kam man vor Gericht in Teufels Küche. Täter hatten eine Menge Rechte. Zu viele für Bens Geschmack.

Zoe. Altgriechisch. Bedeutet Leben. Was für ein Witz!

»Komm jetzt, wir fahren!« Ligeia war bereits auf dem Weg zum Parkplatz.

Ben zögerte. In der angetrockneten Pfütze unterhalb des Tores, war das nicht der Abdruck eines Moutainbikeprofils? Sicher war Valli mit dem Bike hergefahren. Soweit er wusste, besaßen Valli und Joja gar kein Auto.

Er ging in die Hocke, machte mit seinem iPhone ein Foto vom Reifenabdruck und schickte es an einen Kollegen von der Kriminaltechnik: »Bitte checken, ob das ein Maxxis-Crossmark-Profil ist.«

Ben hatte sich vor ein paar Wochen den gleichen Mantel gekauft, deshalb war er ihm an Vallis Bike aufgefallen. Wenn sich seine Vermutung bestätigte, dann könnte Valli im Schrebergarten Nummer 16 gewesen sein und war womöglich immer noch dort. Oder ging mit ihm gerade der Gaul durch?

Gegen elf trudelten die verfügbaren Beamten zur Besprechung ein. Als Leiter der Sonderkommission hatte eigentlich Kroner das erste Wort, doch der Herr Herrlich und die Michels tänzelten herum wie Hundert-Meter-Sprinter kurz vor dem Start. Sie bräuchten Ergebnisse, sonst würde sie die Presse in der Luft zerreißen.

Bla, bla, bla … Kroner ließ das Gezeter der beiden über sich ergehen, hörte gar nicht hin. Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, sonst würde er noch aufspringen und irgendetwas Unüberlegtes tun. Die Gefahr bestand durchaus.

Ausgerechnet der Herr Herrlich! Aber die Damen der gehobenen Gesellschaftsschicht waren eben auch nur Menschen, und in der Partnerwahl herrschten andere Gesetze als im Job. Punktum.

»Jetzt sind Sie dran, Kroner.« Dorothee Michels nickte in seine Richtung.

Heute, ohne den Rosa-Kontrast, wirkte ihre Haut eher aschfahl. Nix mehr mit Dune du Pilat. Und nix mehr mit per Du.

Kroner blieb einfach sitzen. Seine Schultern hingen schlapp nach vorn, breiteten seinen Gemütszustand nahezu spöttisch vor versammelter Mannschaft aus – da war nichts zu machen. Dabei müsste er, der Feldherr, doch allen voran in die Schlacht reiten, nur dafür reichte im Moment die Kraft nicht. Sie hingen fest wie Kletterer in der Steilwand, die den nächsten Griff nicht erreichen können. Auch Valli befand sich wahrscheinlich in der Wand. Hoffentlich stürzte sie nicht ab.

Verdammt!

Warum hatte sie auch das Obduktionsprotokoll lesen müssen? Und wieso hatte er sein Handy nicht früher abgehört? Kroner beauftragte Schlegel, sich um die Franz-Rieß-Fahndung zu kümmern, Ben wollte einen Durchsuchungsbeschluss für eine Schrebergartenparzelle am Doblweg, weil er dort in einer ausgetrockneten Wasserpfütze den Profilabdruck eines besonderen Reifenmantels entdeckt hatte – das hatten die KTler bestätigt –, der angeblich mit dem Reifenprofil von Vallis Mountainbike übereinstimmte. Überprüfen ließ sich Letzteres nicht, da Vallis Rad wie vom Erdboden verschluckt war, genau wie das Mädchen selbst. Woher wusste Ben das also so genau? Kroner hatte keine Ahnung, und es war ihm auch egal. Wenn Ben keinen Schwachsinn erzählte, und das war nicht anzunehmen, dann war das ein konkreter Hinweis, dem sie nachgehen mussten. Kroner war mittlerweile für jeden Strohhalm froh, den man ihm anbot.

In der Kollmann-Laube hatten die Kriminaltechniker kaum Spuren sichern können. Das Hochwasser hatte mögliche Beweise – wenn es sie denn gegeben hatte – vermutlich fortgespült. Ob die wenigen gefundenen Spuren Sara Rieß zugeordnet werden konnten, das zu erfahren würde einige Tage dauern. Jedenfalls wartete Tim Kollmann gerade in einem Nebenraum darauf, dass ihm jemand auf den Zahn fühlte. Kroner würde das höchstpersönlich übernehmen.

Marlis Osterby ging es mittlerweile besser. Gleich nach Mittag würde Kroner zu ihr ins Krankenhaus fahren, damit sie ihm endlich Rothenbachs Schießerei-Version bestätigte. Von ihrem Sohn fehlte nach wie vor jede Spur. Was für ein Desaster.

Kriminalrat Wendlandt wollte wissen, was bislang bei den systematischen Befragungen rausgekommen war. Reischl erhob sich und las aus seinen Aufzeichnungen vor. Die meisten Anwohner überschwemmter Gebiete hätten der Polizei bereitwillig Zutritt gewährt, die Überprüfung der wenigen schwarzen Schafe machte selbstredend überproportional viel Mühe: eine Menge Papierkram, dazu kam noch das Personalproblem. Reischl schätzte, dass sie damit noch mindestens eine Woche beschäftigt sein würden.

Ben saß in einer der hinteren Reihen – auf Kohlen. Es hatte nicht viel gefehlt, dann wäre er über den Zaun ins Grundstück eingestiegen, nachdem er die Reifenspur entdeckte hatte. Ligeia hatte ihn mit Müh und Not davon abhalten können. Bis der Durchsuchungsbeschluss durch war, würde es Minimum eine Stunde dauern – wenn es denn schnell ging. Immerhin war Kroner sofort einverstanden gewesen.

Reischls Stimme wurde lauter: »Ich habe denen zigmal gesagt, dass wir uns von der Altstadt beginnend vorarbeiten, aber die jungen Kollegen vom OED haben sich einfach ein Gebiet ausgesucht, und ich kann jetzt schauen, wie ich das geregelt kriege, dass wir nicht doppelte Arbeit machen. Ich hab die Kollegen aus Passau schon zurückgepfiffen, die eigentlich an der Gaißa nachfragen sollten – in drei Tagen –, aber –«

Kroners Rechte fuhr durch die Luft. »Und?«

Reischl knurrte. »Von zwölf in Frage kommenden Anwesen an der Gaißa haben die Burschen sich eins nach dem anderen angeschaut und Zutritt erhalten, nur beim letzten durften sie nicht rein.«

»Wem gehört das Grundstück?« Kroners Magen rebellierte, er stöhnte leise.

»Einem gewissen Zacharias Kleebaur, aber aufgemacht hat ein anderer.«

»Der wie hieß?«

Reischls Gesicht wurde puterrot, er blätterte hastig durch seine Aufzeichnungen. »Christoph Schneider.«

»Habt ihr den Namen schon mit den Listen abgeglichen?« Kroner stand auf und ging zum Flipchart. Allmählich kamen ihm doch Zweifel an der weissenbeckschen Leichenausschwemmtheorie. Waren sie auf dem Holzweg?

Ben schlug den Hefter auf, den er aus seinem Büro mitgebracht hatte. Schneider? Der Name kam ihm bekannt vor. Seine Hände zitterten, als sein Zeigefinger über die nach Datum sortierte Autovermietungsliste fuhr. Da! Das Kreuz. Hier war er von Ligeia unterbrochen worden. Christoph Schneider. War das Zufall? Sein Arm schnellte hoch. »In der Liste von Sixt habe ich einen Christoph Schneider!«

Reischl kratzte sich am Kopf. »Schneider ist der dritthäufigste Nachname in Deutschland, nach Meier, Huber und Konsorten. Kann Zufall sein, wie gesagt, eingetragen ist das Grundstück auf den Namen Kleebaur.«

Heute kritzelte ausnahmsweise Kroner die Namen aufs Flipchart: »Zacharias Kleebaur – Christoph Schneider???«

»Schlegel, prüf nach, ob es da eine Verbindung gibt.«

»Jetzt gleich?«

»Sofort!« Kroner ging zurück an seinen Tisch. Nachdem Reischl aus dem Kabuff gerauscht war, um die Ergebnisse der Listenvergleiche zu holen, wurde es mucksmäuschenstill. Niemand sagte einen Piep. Alle warteten.

Reischl war außer Atem, als er zurückkam. »Christoph Schneider hat am 4. März 2013 in Plauen einen weißen Kastenwagen der Firma Sixt gemietet. Wohnhaft ist der Mann in Geiersberg, Talstraße 3, Plauen, ansonsten unauffällig.«

»Plauen?«, platzte es aus Ben heraus.

Reischl verstand den Seitenhieb, reagierte genervt. »Hätte ich vor, ein Mädchen von Cheb aus über die Grenze zu entführen, würde ich wohl kaum den Wagen dafür in Plauen mieten, oder?«

Ben nickte. Auch wieder wahr. Und dennoch hatten sie genau für dieses Gebiet die erste Abfrage gemacht.

»Was ist mit diesem Kleebaur?« Kroner ignorierte die aufkommenden Emotionen. Gerade in stockenden Ermittlungen ging es gern hitzig zu. Das war nichts Neues, und es schadete nicht, wenn die Bluthunde ihre Ketten loswerden wollten – um jeden Preis.

»In Passau gemeldet, aber …« Reischl zögerte. »Der Kleebaur ist längst tot. ’tschuldigung, aber das habe ich jetzt erst gesehen. Eine Tochter von ihm heißt Bärbel Brandtner.«

»Hast du ihre Personendaten überprüft?«

Reischl senkte den Kopf. »Hatte bisher keine Zeit, ich wusste ja nicht, dass du gleich –«

»Dann Beeilung, wenn ich bitten darf!« Kroner stand auf.

Reischl was not amused. Kroners Reaktion wirkte so, als hätte er schlampig gearbeitet, dabei war die Info eben erst reingekommen.

Kroner klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. »Ich weiß, dass ihr kaum Luft zum Atmen habt, aber ich will das jetzt gleich wissen.«

Reischl zog ab – eindeutig eingeschnappt –, und die Versammlung löste sich auf. Alle hatten jede Menge Arbeit am Hals und sahen dementsprechend aus, nur die Michels tippelte quietschvergnügt mit ihrem Herrn Herrlich davon.

Kroner gab Ben ein Zeichen, ihm zu folgen. Im Büro holte er die Digitalkamera mit Vallis Speicherkarte heraus und hielt sie ihm hin. »Hat Valli dir die Fotos gezeigt?«

»Welche Fotos?«

»Na, die, die sie in Cheb gemacht hat, kurz bevor … Du weißt schon.«

Ben schüttelte den Kopf. »Sie wollte sie mir zeigen, unbedingt, aber ich wollte sie nicht sehen.«

»Warum?«

Ben zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hat doch keinen Sinn.«

»Dann sieh sie dir jetzt an.« Kroner warf Ben die Kamera zu.

Er fing sie auf, fummelte an den Knöpfen herum, dann fuhr das Objektiv aus, und die Bilder leuchteten auf dem Minidisplay auf. »Das ist doch …«

»Korrekt. Das ist er.«

»Was wirst du tun?«

»Was wohl?«

Ben starrte seinen neuen Chef ungläubig an.

»Wenn die Michels nicht mitspielt, sind mir die Hände gebunden, und es sieht nicht so aus, als hätte sie Lust, sich die Finger zu verbrennen – nicht an ihm.«

»Aber …« Ben konnte es nicht fassen.

Kroners Bürotür flog auf, und Reischl stürmte herein. »Chef, hör zu, diese Bärbel Brandtner heißt jetzt Schneider! Verheiratete Schneider.«

»Schneider?« Die Kroner-Brauen hoben sich, während Ben die kleine Canon in der Schreibtischschublade verschwinden ließ. »Und?«

»Na, die ist mit diesem Christoph Schneider von der Sixt-Liste verheiratet.«

War das die Tangente, nach der sie so verzweifelt gesucht hatten? Kroner überlegte. Was bedeutete das jetzt? Damit wurde zuerst einmal nachvollziehbar, dass der Mann dieser Bärbel Schneider, geborene Brandtner, den Kollegen die Tür geöffnet hatte. »Weiter!«

»Das ist noch nicht alles. Rate mal, wer der Bruder von der Brandtner ist? Also, der Halbbruder.«

»Jetzt sag schon, Reischl, sonst hau ich dir eine rein!«

»Der Rothenbach. Die Brandtner ist Oliver Rothenbachs Halbschwester.«