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Der Weg in die Hölle ist steinig. Da können noch so viele Jahre vergehen, da kannst du dir noch so viele Schrunden zulegen.
Die Erinnerung an damals ist meine ganz persönliche Hölle, die Farben, die niemals verblassen werden, und dazu ihr Gesicht. Das Gesicht meiner Mutter, während sie die Zähne fletscht, wenn sie mich in die Erdmiete sperrt. Allein, stunden- und tagelang. Der Speichel, den der Zorn aus dem Loch in ihrem Gesicht spritzen lässt, dass einem angst und bange wird: »Du bringst mich noch ins Grab! Du Bangert, du elendiges.«
Damit sollte sie recht haben: Wenigstens das ist mir gelungen.
Er kam zurück! Valli musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, versuchte, flach zu atmen. Sie bekam kaum mehr Luft, die Nase war zugeschwollen, und in ihrem Mund steckte eine ganze Waschmaschinenladung Schmutzwäsche – so fühlte der Knebel sich an, und so schmeckte er auch.
Waren das Schritte einer einzelnen Person? Quietschte der Kies unter einem Paar Schuhe oder unter mehreren? Die Polizisten mussten doch …
Er kommt allein zurück.
Alle Hoffnung war dahin. Wie hatte sich die Polizei nur abwimmeln lassen? Die Tränen stiegen auf, Valli wimmerte, alle Kraft floss aus ihren Gliedern. Sie kannte Leos Leichenausschwemmtheorie und die dazugehörige Vorgehensweise der Polizei aus den Medien. Ihr zufolge hatte der Kerl ab jetzt jede Menge Zeit, seine Spuren zu beseitigen.
Laurenz und ich werden sterben.
Er kam näher, direkt auf Valli zu, hob ihr Kinn an. Lächelte. »Die Ziehtochter vom Herrn Kommissar. So was! Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. Den Schlamassel hast dir jetzt selbst eingebrockt. Meinst denn, mir macht das Spaß?« Der Tentakelmann nickte in Laurenz’ Richtung. »Und er da hatte auch nichts Besseres zu tun, als hier aufzutauchen, um nach dem Rechten zu sehen. Da ist es doch wirklich nicht meine Schuld, wenn ich euch beide …« Urplötzlich ließ er von Valli ab, brach in hysterisches Lachen aus und fegte die restlichen Bilder und Zeitungsausschnitte von den Wänden, sammelte das Werkzeug zusammen, nahm die S-Haken von der Eisenstange und lehnte Letztere an die Wand. Eine Stange, ein Hebel, den man bereithielt, um sich so manche Arbeit zu erleichtern – mehr nicht. Die Schlachtkammer verwandelte sich zurück in eine stinknormale alte Werkstatt. Zwei, drei Schläge mit dem Steinhammer, und der Sautrog zersprang in seine Einzelteile. Der Milchgassenmörder – daran gab es für Valli nicht mehr den geringsten Zweifel – warf die Bretter auf eine Schubkarre und verschwand in den Hof.
Als er zurückkam, hatte er Reisigbesen, Schaufel und einen Eimer voller Sägespäne dabei. In der Mitte der Werkstatt lagen fünf gut anderthalb Meter lange Eichenbohlen. Mit der Eisenstange hebelte er sie aus und stellte sie dann nebeneinander an die Wand.
Eine Grube für Reparaturen. Klar, in ihr konnte man bequem aufrecht stehen, wenn es unter dem Bulldog was zu richten gab, und man konnte eine Menge Zeug darin verschwinden lassen. Jede Menge.
Er hatte den Namen seines Schwagers angegeben. Wenn die Polizisten ihn überprüften, würde es ihnen garantiert nicht verdächtig vorkommen, dass der Ehemann der Eigentümerin hier nach dem Rechten sah. Wenn nicht gerade dieser Kroner oder die Weissenbeck auftauchten, konnte er das Spiel weiterspielen und die Prinzessin behalten. Wenigstens noch ein kleines Weilchen. Sie war aber auch zu goldig.
Er hatte es nicht übers Herz gebracht. Der Schussapparat, alles war bereit gewesen, aber das kleine Ding hatte so treuherzig zu ihm aufgeblickt, dass er …
Und wieso sollten ausgerechnet die leitenden Ermittler hier aufkreuzen? Das hier war eine Routineangelegenheit, eine Massenbefragung, da tanzten erst mal die anderen an, und mit denen kam er klar. Ganz sicher. Er würde sie ein bisschen herumführen, wenn sie wiederkämen, aber das war’s auch schon.
Alles, was im Entferntesten mit Schlachten zu tun hatte, schob er in die Werkstattgrube. Er kehrte zusammen, entfernte sogar die Spinnweben von der Decke, so viel Zeit musste sein. Das war ihm schon als Kind in Fleisch und Blut übergegangen:
»Vor dem Zamkehrn musst die Spinnfeddern runterkehrn, Bua«, hat der Vadder gsagt.
Den hat die Mutter auch auf dem Gewissen. Das Bier hat ihm halt geschmeckt, da konnte man nichts machen. Der musste seinen Kummer ja ersäufen. Kein Wunder, bei der Frau, das haben sogar die Nachbarn verstanden. Und als der Vadder an meinem achten Geburtstag schon Mittag mit einem Rausch in der Fotzen heimkommen ist, hat die Mutter ihm die gusseiserne Bratpfanne drübergezogen. Und hin war er.
Ich stand da im Sonntagsanzug mit meinem Geschenk in der Hand, da hat sie auch mich gepackt, die Mutter, an den Haaren, und hat geschrien: »Wennst dein Maul aufmachst, geht’s dir genauso!«
Von da an hab ich kein Wort mehr gesagt. Kein Wort.
Die Bärbel hat von alldem nix mitbekommen. Die war im Internat, die war der Mutter ihr ganzer Stolz, ihr Augenstern. Nur Einser hat die geschrieben, keinen einzigen Zweier. Mir hat es die Mutter mit dem Stockerl reingedroschen, ich habe mich nicht so leichtgetan in der Schule. Das wären dem Vaddern seine Gene, hat sie immer geschimpft. So ein saudummer Fehler mit dem Vaddern, hat sie gesagt. Aus lauter Angst vor ihr habe ich es dann sogar aufs Gymnasium geschafft, und studiert habe ich auch. Trotzdem war sie nicht zufrieden. Nie.
Und immer wenn der Mutter was nicht gepasst hat, hab ich in den Erdkeller müssen.
»DU BRINGST MICH NOCH INS GRAB. DU BANGERT, DU ELENDIGS!«
Und wie ich meinen ersten Job in der Probezeit verloren habe und sie mich wieder reinsperren wollte in das Loch, da habe ich ihr das Maul gestopft. Aber richtig. Da war sie endlich still.
Er erinnerte sich jetzt häufiger als sonst an früher, er verstand nun, dass das Töten der Mutter der Wendepunkt in seinem bisherigen Leben gewesen war. Manchmal konnte er deshalb nachts nicht schlafen, vor allem dann, wenn Marlis in Passau war, wenn sie ihn ständig schikanierte und herumkommandierte. Aber damit war jetzt auch Schluss. Endgültig!
Als die Holzbohlen wieder an Ort und Stelle lagen, kippte er die Sägespäne aus, griff nach einem Eimer mit Altöl und goss die dunkle Brühe hinterher. Dann öffnete er das Werkstatttor.
Eine tief stehende Sonne stach Valli in die Augen wie ein Tausend-Watt-Flutlicht. Wenig später hämmerte der Sound eines alten Eicher über den Hof: Dag, dag, dag, dag, dag, dag, dag, dagdagdag … Immer schneller, bis der Motor seinen Takt gefunden hatte und zu schnurren anfing. Es war ein Modell mit Fahrerkabine, die Frontscheibe war nach vorn weg aufklappbar. Himmelblau, die Felgen in Signalrot angemalt. Ein Schmuckstück. Der Tentakelmann fuhr den Bulldog in die Werkstatt, bis er direkt über der Grube stand. Er stieg ab, setzte ein riesiges Radkreuz an, holte einen Wagenheber und bockte auf. Die Muttern saßen fest, Caramba-Rostlöser und die Eisenstange kamen zum Einsatz. Keine drei Minuten, dann war das Hinterrad ab.
Zufrieden wischte sich der Tentakelmann die schmierigen Hände an der Hose ab, fuhr sich über das Gesicht. Alles musste echt aussehen. Valli verstand. Woher kannte sie ihn bloß? Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen? Bei Sara? Und woher wusste er, dass sie Kroners Ziehtochter war?