Pater Arsenios war hinter der Ikonostasis in bitteres Grü- beln versunken. Wie sollte er zu den Menschen hinausgehen, die Kranken und Sterbenden trösten, Auseinandersetzungen schlichten, das Wort Gottes verkünden und für ein wiedervereintes Griechenland eintreten, wenn es anscheinend keinen Zweifel daran gab, dass er keine Achtung mehr genoss? Er erwog kurz den romantischen Gedanken zu verschwinden. Er könnte nach Piräus gehen und als Angestellter arbeiten, er könnte Fischer werden, er könnte nach Amerika gehen und einen Neuanfang machen. Ein flüchtiges Bild seiner von allen Fettwülsten befreiten Person schoss ihm durch den Kopf, wie sie in den Bordellen Athens zotige Rembetikos sang, Unmengen von Kokinelli trank und die jungen Mädchen umgarnte. Im Gegenzug stellte er sich vor, wie er sich in eine Einsiedelei in den Bergen von Epirus zurückzog, von den Raben gefüttert wurde und ein großartiger Heiliger wurde. Er dachte an die Wunder, die in seinem Namen verübt werden mochten, und kam auf den unerfreulichen Gedanken, dass er der Schutzheilige der Fettwänste werden könnte. Vielleicht könnte er stattdessen großartige Gedichte verfassen und so berühmt und verehrt werden wie Kostis Palamas. Doch warum so bescheiden? Er könnte ein zweiter Homer werden. Hinter der Ikonostasis fing er in seiner tiefen Bassstimme zu brummen an: »Nein! wie die Sterblichen doch die Götter beschuldigen! Denn von uns her, sagen sie, sei das Schlimme! und schaffen doch auch selbst durch eigne Freveltaten, über ihr Teil hinaus, sich Schmerzen!« Sein Gedächtnis ließ ihn im Stich, und er runzelte die Stirn. War der nächste Abschnitt über Aigisthos oder über die Unterhaltung zwischen Zeus und Athene? »Da antwortete und sagte zu ihr der Wolkensammler Zeus: Mein Kind, welch Wort entfloh dem Gehege deiner Zähne?«
Er wurde von einem verhaltenen Hüsteln aus dem Hauptschiff der Kirche unterbrochen. Hastig nahm er sich zusammen, spürte, wie er vor lauter Verlegenheit an den Ohren und am Hals rot wurde, und blieb vollkommen still sitzen. Er war bei einer selbstvergessenen, auch noch laut gesprochenen Tagträumerei erwischt worden, und nun würden die Leute im Dorf sagen, er sei nicht ganz bei Trost. Er hörte das Schlurfen sich entfernender Schritte und spähte um die Bilderwand. Da sah er, dass ihm jemand einen Laib Brot hingelegt hatte. Er ertappte sich dabei, wie er sich die Lippen leckte, und wünschte, dass noch ein Käse dazukäme. Wieder waren Schritte zu hören, und so versteckte er sich rasch wie ein Kind beim Spielen. Die Füße entfernten sich wieder, er linste durch ein kleines Loch und entdeckte, dass jemand einen großen, weichen und saftigen Käse dagelassen hatte. »Ein Wunder«, sagte er sich, »Dank sei Gott.« Er wünschte sich verzeihlicherweise noch einige Auberginen und eine Flasche Öl hinzu, worauf er aber nicht mit einem weiteren Wunder belohnt wurde, sondern mit einem Paar Hausschuhe. »Mein Gott, mein Gott«, sagte er, den Blick zur Decke gerichtet, »wie querköpfig du wieder bist.«
Nach und nach stapelten sich am Eingang die Gaben, die die Dorfbewohner als Zeichen ihrer Entschuldigung ablegten. Pater Arsenios sah mit einfältiger Habgier durch das Loch zu, als auf die Fische Gemüse und gestickte Taschentücher folgten. Er bemerkte allmählich, dass sich eine große Menge an Robola ansammelte, und murrte vor sich hin: »Was? Halten die mich alle für einen Säufer?« Er stellte eine Rechnung auf, wie lange der Vorrat reichen würde, wenn er pro Tag zwei Flaschen trank. Dann rechnete er das Gleiche mit drei Flaschen durch. Aus Spaß an der Mathematik und der geistigen Herausforderung begann er auszurechnen, was bei drei und fünf Achteln täglich herauskommen würde, verhedderte sich aber und musste neu ansetzen.
Als der Stapel immer weiter wuchs, meldete sich bei ihm das dringende Bedürfnis zu urinieren. Er rutschte unbehaglich umher und begann zu schwitzen. Es war ein überaus schreckliches Dilemma; entweder verließ er die Kirche, worauf die Leute vielleicht davon absehen würden, in seiner Gegenwart Gaben abzuliefern, oder er blieb in wachsender Bedrängnis hier sitzen bis zu dem Zeitpunkt, da er sicher sein konnte, dass der Fluss der Bußgeschenke versiegt war. Er bereute schon schwer, dass er vor seinem Weggang eine Flasche getrunken hatte. »Das ist Gottes Vergeltung für die dem Trunk Ergebenen«, dachte er. »Ich werde nie wieder einen Tropfen anrühren.« Er betete zu St. Gerasimos um Erlösung.
Nach Beendigung des Gebets kam ihm eine Inspiration. Draußen in der Kirche befand sich ein großer Vorrat an Flaschen. Er lauschte aufmerksam auf nahende Schritte, hörte keine und flitzte so schnell hinaus, wie es seine Leibesfülle zuließ. Er watschelte rasch zum Eingang, bückte sich mühsam nach einer Flasche und kehrte wieder in sein Versteck hinter der Bilderwand zurück. Mit den Zähnen zog er den Korken heraus und stand vor dem nächsten Problem. Um die Flasche verwenden zu können, musste sie leer sein. Was konnte er mit dem Wein anfangen? Es wäre eine Schande, ihn wegzuschütten. Er setzte die Flasche an den Mund und goss sich den Inhalt in die Kehle. Die süße Flüssigkeit rann in Bächlein seinen Bart hinunter und auf seine Soutane. Er inspizierte die Flasche, entdeckte noch ein oder zwei Tropfen und kippte sie sich schwungvoll in den Mund.
Pater Arsenios spähte durch das Loch, um sicherzugehen, dass er nicht gehört wurde, hob seine Soutane und ließ einen mächtigen Strahl Urin in die Flasche strömen, der gegen das Bodenglas klatschte, dann plätscherte und zischte, als sich die Flasche füllte. Mit Erschrecken merkte er, dass bei dem zunehmend enger werdenden Hals des Gefäßes der Inhalt exponentiell hochstieg. »Flaschen sollten gleichmäßig zylindrisch gemacht werden«, überlegte der Priester und wurde prompt überrumpelt. Er verrieb das, was übergelaufen war, mit dem Fuß im Bodenstaub und erkannte, dass er in der Kirche würde warten müssen, bis die feuchten Flecke an seiner Robe getrocknet waren. »Ein Priester«, dachte er, »kann sich doch nicht zeigen, wenn er sich vollgepinkelt hat.« Er stellte die Flasche mit dem Urin ab und setzte sich wieder. Jemand kam herein und legte ihm ein paar Strümpfe hin.
Eine Viertelstunde verging, da trat Velisarios in der Hoffnung ein, sich persönlich entschuldigen zu können. Er sah in den Glockenturm und ins Hauptschiff und wollte schon wieder gehen, als er jemand hinter der Bilderwand einen langen und gurgelnden Rülpser ausstoßen hörte. »Patir?«, rief Velisarios. »Ich bin hergekommen, um mich zu entschuldigen.«
»Geh wieder«, war die mürrische Antwort. Und dann: »Ich versuche zu beten.«
»Aber Patir, ich möchte mich entschuldigen und dir die Hand küssen.«
»Ich kann nicht herauskommen. Aus verschiedenen Gründen.«
Velisarios kratzte sich am Kopf. »Was für Gründe?«
»Religiöse. Außerdem ist mir nicht wohl.«
»Soll ich Doktor Iannis holen?«
»Nein.«
»Ich entschuldige mich für das, was ich getan habe, Patir, und um es wiedergutzumachen, lasse ich dir eine Flasche Wein da. Ich werde zu Gott um Vergebung beten.« Er schritt aus der Kirche und ging wieder ins Haus des Arztes, um sich nach dem Befinden von Mandras zu erkundigen, der bei seinem Eintreffen gerade mit ausgesprochen hündischer Bewunderung Pelagia anglotzte. Er sagte dem Arzt Bescheid, dass es dem Priester nicht gut ging.
Pater Arsenios musste feststellen, dass seine Methode, mit der er das Problem seiner vollen Blase gelöst hatte, selbst eine weitere Überfüllung verursachte. Nach Velisarios’ Weggang hatte er noch eine Flasche geleert und sie mit dem Umwandlungsprodukt der vorigen gefüllt. Diesmal ließen seine Zielgenauigkeit, Balance und Einschätzung des richtigen Augenblicks, zu dem er aufhören musste, selbst die zweifelhafte Präzision des früheren Vorgangs vermissen. Weitere Verunreinigungen mussten mit dem Fuß im Staub verrieben werden, und die Robe wurde noch feuchter. Arsenios setzte sich benommen wieder hin und merkte, dass ihm übel wurde. Er kippte schwerfällig von seinem Sitz und verstauchte sich dabei das Steißbein. Zwanzig Minuten später wurde er durch das dringende Bedürfnis geweckt, eine weitere Flasche zu leeren und wieder zu füllen. Er gelobte sich, aufzuhören, bevor der sich verengende Flaschenhals zu einem weiteren Venturi-Effekt führte, stand aber mittlerweile unter so hohem Druck, dass er sich verschätzte. Elendiglich.
Im durchlässigen Nachmittagslicht ging Dr. Iannis zur Kirche. An Werktagen trug er die Art Kleidung, die Bauern an Sonn- und Feiertagen anhatten, einen fleckigen schwarzen Anzug, der an manchen Stellen schon glänzte, ein kragenloses Hemd, schwarze Schuhe, die staubig und verkratzt waren, und einen breitkrempigen Hut. Er zwirbelte seinen Schnurrbart, sog nachdenklich an seiner Pfeife und hatte seine Aufmerksamkeit zweigeteilt, sodass er gleichzeitig an die Verwüstung der Insel durch Kreuzfahrer sowie an das dachte, was er dem Priester sagen würde. Er stellte sich folgende Szene vor:
Er würde sagen: »Patir, es tut mir aufrichtig leid, wie unwürdig sie dich heute Morgen behandelt haben«, und der Priester würde erwidern: »Das überrascht mich bei einem gottlosen Menschen«, und er würde antworten: »Aber ich glaube, dass einem Priester Achtung bezeugt werden sollte. Ein Dorf braucht einen Priester wie eine Insel das Meer. Bitte komm morgen zu uns zum Essen. Pelagia wird Lamm mit Kartoffeln im Ofen machen. Ich werde auch den Lehrer einladen. Übrigens habe ich mit Bedauern vernommen, dass es dir nicht gut geht. Kann ich etwas für dich tun?«
Doch als er die Kirche betrat, wurde ihm augenblicklich die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Gesprächs klar. Er hörte hinter der Bilderwand ein Stöhnen und Würgen. »Patir«, rief er. »Ist mit dir alles in Ordnung, Patir?«
Ein weiteres erbärmliches und herzzerreißendes Stöhnen und das Geräusch qualvollen Erbrechens wie bei einem Hund ertönten. Da er als Arzt unzählige Patienten hatte kotzen sehen, sah er schon eine Masse von vornehmlich gelber Farbe vor sich. Er klopfte an die Bilderwand und rief: »Patir, bist du da drinnen?«
»O Gott, o Gott«, ächzte der Priester.
Der Arzt sah sich vor einem unumgänglichen Problem. Es war so, dass nur die Geweihten hinter die Ikonostasis treten durften. Er hatte seinen Glauben schon lange zugunsten eines Materialismus Machscher Prägung aufgegeben, spürte aber dennoch, dass er das Verbot nicht übertreten konnte. Solch ein Tabu kann selbst von jemand, der keinen Glauben in dessen Prämissen setzt, nicht leicht abgetan werden. Er konnte dort genauso wenig eindringen, wie er einer Nonne einen unsittlichen Antrag machen konnte. Er klopfte dringlicher. »Patir, ich bin’s, Doktor Iannis.«
»Iatre«, klagte der Priester, »mich hat’s ganz schlimm erwischt. O Gott, wofür hast du alle Menschen so unnütz erschaffen? Hilf mir, um Gottes willen.«
Der Arzt sandte ein Bußgebet zu dem Gott, an den er nicht glaubte, und schritt hinter die Bilderwand. Er erblickte den Priester, der hilflos in einer Lache aus Urin und Erbrochenem lag; ein Auge war geschlossen, und aus dem anderen strömten Tränen. Der Arzt bemerkte mit leidenschaftslosem Staunen, dass das Erbrochene eher weiß als gelb war und sich deutlich vom stumpfen Schwarz der Robe abhob. »Du musst aufstehen«, sagte er. »Du kannst dich auf meine Schulter stützen, aber ich fürchte, tragen kann ich dich nicht.«
Es folgte ein ungleiches und ergebnisloses Gezerre, als der leichtgewichtige Arzt sich bemühte, den tonnenförmigen Pater hochzuheben. Er erkannte sehr schnell die Fruchtlosigkeit weiterer Anstrengungen und richtete sich wieder auf. Er bemerkte, dass an diesem heiligen Platz drei Flaschen mit Urin standen. Aus beruflicher Neugier hielt er eine der Flaschen ans Licht und untersuchte sie nach verräterischen Schleimfäden, die eine Harnröhreninfektion anzeigen könnten. Die Flüssigkeit war klar. Er stellte fest, dass er Spuren von Erbrochenem an den Händen hatte. Einen Augenblick lang betrachtete er sie; er würde nicht im Traum daran denken, sie an seiner Hose abzuwischen, geschweige denn an der Rückseite der Bilderwand. Er bückte sich und rieb die Hände an der Priesterrobe ab. Dann ging er Velisarios holen.
So kam es, dass Velisarios’ Buße für die Demütigung des Priesters am Morgen in der Verpflichtung bestand, dessen massige Gestalt zum Haus des Arztes zu tragen. Möglicherweise war dies die titanischste Kraft- und Willensanstrengung, die er je auszuführen hatte. Zweimal stolperte er, einmal fiel er beinahe hin. Danach fühlten sich seine Arme und sein Rücken so an, als hätte er das ganze Universum getragen, und er verstand, wie sich der heilige Christophorus gefühlt haben musste, nachdem er unseren Heiland über den Fluss gebracht hatte. Schwitzend und keuchend setzte er sich in den Schatten. Er stellte fest, dass sein Herz besorgniserregend pochte, während Pelagia ihm ausgiebige Mengen von Zitronensaft vorsetzte, in den sie Honig getan hatte, wobei ihr wiederum Mandras, der sich auf die Seite gedreht hatte, um ihr zuschauen zu können, ausgiebig mit Lächeln nachsetzte. Pelagia spürte seinen Blick, als wäre er eine heiße Liebkosung, und merkte, dass er die beunruhigende Wirkung hatte, sie über ihre eigenen Füße stolpern zu lassen und ihre Hüften anscheinend stärker als gewöhnlich in Schwingung zu versetzen. In Wahrheit war sie beim Versuch, ihren Hüftschwung zu bändigen, ins Stolpern geraten.
Im Haus flößte der Arzt dem Priester einen Krug Wasser nach dem anderen ein, da dies das einzige ihm bekannte vernünftige Heilmittel für die von ihm diagnostizierte Alkoholvergiftung war. Er merkte, dass er mit seinem Patienten immer ungebührlicher ins Gericht ging, denn er spulte in Gedanken einen inneren Monolog etwa folgender Art ab: »Ein Priester sollte doch wohl ein besseres Beispiel geben! Es ist einfach eine Schande, so lange vor dem Abend schon alkoholisiert zu sein! Wie kann dieser Mann erwarten, in der Gemeinde noch einen Rest Achtung zu genießen, wenn er so verfressen und versoffen ist? Ich kann mich an keinen Priester erinnern, der so schlimm war wie der hier, und wir hatten weiß Gott schon schlimme …« Er zog die Stirn in Falten und konnte seinen Ekel nicht ganz verbergen, als er das Erbrochene von der Robe des Mannes wischte. Seinen Unmut ließ er an Pelagias Ziege aus, die ins Zimmer gekommen und auf den Tisch gesprungen war. »Du dämliches Vieh«, schrie er sie an, doch sie sah ihn nur unverschämt aus den Augenschlitzen an, wie um zu sagen: »Ich bin wenigstens nicht betrunken. Ich bin bloß mutwillig.«
Der Arzt ließ den Patienten mit seinem Vollrausch allein und setzte sich an den Schreibtisch. Er klopfte mit dem Füller auf den Tisch und schrieb: »Im Jahr 1082 versuchte ein ruchloser normannischer Baron namens Robert Guiscard, die Insel zu erobern, und traf auf den entschiedensten Widerstand von Freischärlern. Die Welt wurde durch ein Fieber, das ihn 1085 niederstreckte, von seinem unausstehlichen Erdendasein erlöst, und die einzige Spur von ihm hierzulande ist die Tatsache, dass Fiskardo nach ihm benannt ist, wenngleich die Geschichte nichts darüber sagt, wie das G sich in ein F verwandelte. Ein anderer Normanne, Bohemund, überzog die Insel mit übelster und unentschuldbarer Grausamkeit, während er sein Mäntelchen der Frömmigkeit, das er sich gerade erst bei einem Kreuzzug geholt hatte, wie eine Prunkrobe zur Schau stellte. Der Leser sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass es die Kreuzfahrer und nicht die Moslems waren, die ursprünglich Konstantinopel geplündert haben, was eigentlich eine immerwährende Skepsis gegenüber dem Wert einer ehrenhaften Sache hätte wachrufen müssen. Offensichtlich tat es das nicht, da die Menschheit unfähig ist, aus der Geschichte zu lernen.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zwirbelte seinen Schnurrbart, dann zündete er seine Pfeife an. Er sah Lemoni am Fenster vorbeigehen und rief sie herein. Das kleine Mädchen sperrte Augen und Ohren weit auf, als der Arzt sie bat, die Frau des Priesters zu holen. Er tätschelte ihr den Kopf, nannte sie »meine kleine Koritsimou« und lächelte, als er sie ausgelassen die Straße entlanghüpfen sah. Pelagia war als kleines Kind genauso süß gewesen, und das machte ihn rührselig. Er spürte, wie ihm eine Träne ins Auge stieg, und verbannte sie umgehend, indem er einen weiteren Satz schrieb, der die Normannen geißelte. Er lehnte sich wieder zurück und wurde durch das Eintreten von Stamatis gestört, der seinen Hut in Händen hielt und die Krempe knetete. »Kalispera, Kyrie Stamatis«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?«
Stamatis trat von einem Fuß auf den anderen, blickte besorgt auf den runden Hügel des Priesters am Boden und sagte: »Du weißt doch, dieses … dieses Ding in meinem Ohr?«
»Die leguminöse und exorbitante auditive Störung?«
»Genau die, Iatre. Nun ja, ich möchte wissen … Ich meine, ob du es zurücktun kannst?«
»Es zurücktun, Kyrie Stamatis?«
»Weißt du, wegen meiner Frau.«
»Ich verstehe«, sagte der Arzt, während er eine beißende Wolke aus seiner Pfeife paffte. »Eigentlich verstehe ich nichts. Vielleicht könntest du es mir erklären.«
»Na ja, als ich auf dem Ohr taub war, konnte ich sie nicht hören. Weißt du, da, wo ich sitze, war mein gutes Ohr auf der anderen Seite, und ich hab es irgendwie ertragen können.«
»Ertragen?«
»Die Nörgelei. Ich meine, vorher war es ein bisschen wie Meeresrauschen. Ich hab das gemocht. Es hat mir geholfen, einzunicken. Jetzt ist es aber so laut und will nicht mehr aufhören. Es geht einfach immer weiter.« Der Mann wippte mit den Schultern wie eine verärgerte Frau und machte seine Gattin nach: »›Du taugst zu überhaupt nichts, warum bringst du nicht das Holz rein, warum haben wir nie Geld, warum muss ich alles hier allein machen, warum habe ich keinen richtigen Mann geheiratet, warum hast du mir immer nur Töchter beschert, was ist mit dem Mann passiert, den ich geheiratet habe?‹ Lauter so Zeug; das macht mich verrückt.«
»Hast du es mit Schlägen versucht?«
»Nein, Iatre. Das letzte Mal, als ich sie geschlagen habe, hat sie einen Teller auf meinem Kopf zertrümmert. Die Narbe ist noch zu sehen. Schau her.« Der alte Mann beugte sich vor und deutete auf etwas Unsichtbares an seiner Stirn.
»Na ja, du solltest sie sowieso nicht schlagen«, meinte der Arzt. »Da kommen sie bloß auf noch widerwärtigere Ideen, es dir heimzuzahlen. Versalzen dir das Essen. Ich würde dir raten, nett zu ihr zu sein.«
Stamatis war schockiert. Das war eine für ihn so unfassbare Verhaltensweise, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, daran zu denken. »Iatre …« setzte er zu einem Einwand an, fand aber keine weiteren Worte.
»Hol einfach das Holz rein, bevor sie dich drum bittet, und bring ihr jedes Mal eine Blume mit, wenn du vom Acker zurückkommst. Wenn es kalt ist, leg ihr einen Schal um die Schultern, und wenn es heiß ist, bring ihr ein Glas Wasser. So einfach geht das. Frauen nörgeln nur, wenn sie sich nicht genügend geschätzt fühlen. Betrachte sie als deine krank gewordene Mutter und behandle sie entsprechend.«
»Dann wirst du also die … äh … streitsüchtige und kämpferische extraordinäre Körnung nicht wieder reintun?«
»Auf keinen Fall. Das wäre gegen den hippokratischen Eid. Das kann ich nicht tun. Hippokrates hat schon gesagt, dass radikale Heilmittel für extreme Krankheiten am geeignetsten sind.«
Stamatis gab sich zernirscht. »Hippokrates hat das gesagt? Also soll ich nett zu ihr sein?«
Der Arzt nickte väterlich, und Stamatis setzte seinen Hut wieder auf. »O Gott«, sagte er.
Der Arzt sah dem alten Mann aus dem Fenster nach. Stamatis trat auf die Straße und entfernte sich. Er blieb stehen und blickte auf eine lila Blume an der Böschung. Er beugte sich herab, um sie zu pflücken, richtete sich aber augenblicklich wieder auf. Er spähte umher, um sich zu vergewissern, dass niemand zusah. Er zupfte an seinem Gürtel, als wollte er ihn enger schnallen, starrte die Blume an und machte auf dem Absatz kehrt. Er schlenderte davon, blieb dann aber doch wieder stehen. Wie ein kleiner Junge beim Äpfelstehlen schoss er zurück, rupfte die Blume am Stängel ab, versteckte sie unter seiner Jacke und schritt mit einer übertrieben unbekümmerten und unbeteiligten Miene gemächlich davon. Der Arzt beugte sich aus dem Fenster und rief ihm nach: »Bravo, Stamatis«, bloß wegen der schlichten, aber schelmischen Freude, seine Verlegenheit und Scham zu sehen.