Eine komische Katze

Lemoni rannte in den Hof von Dr. Iannis’ Haus, als er gerade zum Frühstück in die Kapheneia aufbrechen wollte. Er hatte alle Mangas dort treffen und über die Weltprobleme diskutieren wollen. Gestern hatte er mit Kokolios heftig über den Kommunismus gestritten, und in der Nacht war ihm ein ausgezeichnetes Argument eingefallen, das er so lange im Kopf gewälzt hatte, dass es ihn am Schlafen gehindert und gezwungen hatte, aufzustehen und ein wenig an seiner Geschichte weiterzuschreiben, eine kleine Schmähschrift gegen die Orsini-Familie. Das war seine Rede an Kokolios:

»Hör zu, wenn jeder beim Staat angestellt ist, muss doch jeder vom Staat bezahlt werden, klar? Also sind alle Steuern, die an den Staat zurückfließen, Geld, das sowieso vom Staat kommt, klar? Also kriegt der Staat immer nur höchstens ein Drittel von dem zurück, was er die Woche vorher ausgezahlt hat. In dieser Woche besteht dann die einzige Möglichkeit, alle auszuzahlen, darin, mehr Geld zu drucken, oder nicht? Also folgt daraus, dass in einem kommunistischen Staat das Geld sehr bald illusorisch wird, weil der Staat keinen Gegenwert mehr für das Geld hat.«

Er stellte sich Kokolios’ Antwort etwa so vor: »Ach, Iatre, das fehlende Geld kommt von den Profiten.« Doch darauf würde er blitzschnell erwidern: »Aber schau doch, Kokolios, die einzige Art, wie der Staat zu Profit kommen kann, besteht im Verkauf der Güter ans Ausland, und das geht wiederum nur, wenn die ausländischen Staaten kapitalistisch sind und

Er sah auf das kleine Mädchen herab, bemerkte ihren ernsten Gesichtsausdruck und sagte: »Ah, hallo, Koritsimou. Was hast du gerade gesagt?«

»Eine komische Katze.«

»Hmm, ja, was ist mit der komischen Katze?«

Das Mädchen verdrehte verzweifelt die Augen und fuhr sich mit der schmutzigen Hand über die Stirn, was eine Dreckstrieme hinterließ. »Ich hab eine komische Katze gefunden.«

»Wie aufmerksam von dir. Warum sagst du es nicht deinem Papa?«

»Sie ist krank.«

»Wie krank?«

»Sie ist müde. Vielleicht hat sie Kopfweh.«

Der Arzt zögerte. Auf ihn wartete eine Tasse Kaffee, und er hatte der versammelten Mannschaft eine schlüssige Widerlegung des Kommunismus zu verkünden. Bei dem Gedanken, auf ihren bewundernden Beifall verzichten zu müssen, packte ihn eine kindliche Enttäuschung. Er sah auf das bestürzte Gesicht des Mädchens herunter, lächelte in großmütiger

Voller Ungeduld zog ihn Lemoni die Straße entlang, drängte ihn mit jedem Schritt zur Eile. Sie forderte ihn auf, über eine niedrige Mauer zu klettern und sich unter die Zweige der Olivenbäume zu ducken. »Können wir nicht um die Bäume herumgehen?«, fragte er. »Denk dran, ich bin größer als du.«

»Geradeaus ist es schneller.« Sie zog ihn zu einem dornigen Gebüsch, fiel auf die Knie und fing an, auf allen vieren durch einen Tunnel zu kriechen, der kaum breiter als ein Wildwechsel war. »Da komm ich nicht durch«, protestierte der Arzt, »dafür bin ich viel zu groß.« Er schlug sich mit der Hilfe seines Stocks durch, folgte dem sich entfernenden kleinen Hintern, so gut er konnte. Er stellte sich schon drastisch Pelagias Unmut bei der Bitte vor, die Risse in seiner Hose zu flicken und die ausgefransten Fäden wieder zusammenzunähen. Schon jetzt spürte er, dass die Kratzer, die er abbekommen hatte, zu jucken anfingen. »Was um alles in der Welt hattest du denn hier zu tun?«, fragte er.

»Ich war Schnecken suchen.«

»Hast du gewusst, dass die Kindheit die einzige Zeit in unserem Leben ist, wo Irrsinn nicht nur gestattet, sondern sogar erwartet wird?«, fragte der Arzt rein rhetorisch. »Wollte ich auf der Suche nach Schnecken da herumkriechen, würden sie mich nach Piräus bringen und einsperren.«

»Viele große Schnecken«, bemerkte Lemoni.

Gerade als der Arzt verzweifelt vor der Hitze kapitulieren wollte, kamen sie auf eine kleine Lichtung, die vor langer Zeit durch einen jämmerlich durchhängenden Stacheldrahtzaun geteilt worden war. Lemoni sprang auf die Füße, rannte zu dem Zaun und deutete auf etwas. Der Arzt brauchte einige Zeit, bis er merkte, dass er nicht der

»Die ist nicht müde, Koritsimou, die hat sich im Stacheldraht verhakt. Weiß Gott, wie lange die da schon hängt.« Er ging in die Knie und besah sich das Tier. Ein Paar pechschwarze Augen blinzelte ihm mit einem Ausdruck entgegen, der von einer endlosen Verzweiflung und Erschöpfung kündete. Er fühlte sich auf eine Weise gerührt, die ihm ziemlich seltsam und unlogisch vorkam.

Das Tier hatte einen flachen dreieckigen Kopf, eine spitze Schnauze und einen buschigen Schwanz. Es war kastanienbraun mit Ausnahme der Kehle und der Brust, deren Farbe sich an einem undefinierbaren Punkt zwischen Gelb und Cremeweiß eingependelt hatte. Die Ohren waren abgerundet und breit. Der Arzt spähte in die Augen; das im Draht hängende Geschöpf war offensichtlich dem Tode nahe. »Das ist keine Katze«, sagte er zu Lemoni, »das ist ein Marder. Der könnte hier schon ewig lange hängen. Ich halte es für das Beste, ihn zu töten, weil er sowieso sterben wird.«

Lemoni platzte beinahe vor Entrüstung. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie stampfte mit den Füßen, sprang auf und ab und verbot dem Arzt schlichtweg, ihn zu töten. Sie streichelte den Kopf des Marders und stellte sich zwischen das Tier und den Mann, dem sie seine Rettung anvertraut hatte.

»Rühr es nicht an, Lemoni. Denk dran, dass König Alexander an einem Affenbiss gestorben ist.«

»Das ist aber kein Affe.«

»Es könnte tollwütig sein. Du könntest Wundstarrkrampf kriegen. Rühr es bloß nicht an.«

»Ich habe es schon vorher gestreichelt, und es hat nicht gebissen. Es ist müde.«

»Lemoni, der Stacheldraht ist ins Bauchfell gedrungen, und

»Es hat einen Seiltanz auf dem Draht gemacht«, sagte sie. »Ich hab sie schon gesehen. Sie spazieren über den Draht und gehen den Baum rauf. Dort essen sie die Eier in den Nestern. Ich hab sie schon gesehen.«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass es hier überhaupt welche gibt. Ich dachte immer, sie bleiben in den Bäumen im Gebirge. Da sieht man’s wieder.«

»Sieht was?«

»Dass Kinder mehr sehen als wir.« Der Arzt kniete sich wieder hin und inspizierte den Marder. Er war sehr jung, hatte wahrscheinlich erst vor ein paar Tagen die Augen aufgemacht. Er sah ausgesprochen niedlich aus. Der Arzt entschied, ihn Lemoni zuliebe zu retten und dann daheim zu töten. Niemand würde ihm für die Rettung eines Tiers danken, das Hühner und Gänse umbrachte, Eier stibitzte, die Beeren im Garten fraß und sogar Bienenstöcke ausplünderte. Er konnte dem Mädchen ja sagen, dass der Marder von selbst gestorben war, und ihn ihr vielleicht zum Begraben geben. Er besah ihn genauer und erkannte, dass er sich nicht nur auf dem Stacheldraht aufgespießt, sondern es sogar geschafft hatte, sich zweimal um den Zaundraht zu wickeln. Das Tier hatte verzweifelt gekämpft und musste unausstehliche Qualen erduldet haben.

Ganz behutsam packte er es im Nacken und drehte den Körper. Mit beiden Händen wand er es vom Draht los, während er sich voll bewusst war, dass Lemoni ihren Kopf dicht neben seinen hielt und ihm aufmerksam zusah. »Vorsichtig«, mahnte sie.

Der Arzt zuckte innerlich zusammen bei dem Gedanken an den Biss, der ihn wahrscheinlich mit Schaum vor dem Mund und Maulsperre aufs Totenbett bringen würde. Es genügte schon die Vorstellung, das eigene Leben für so einen

Er hielt das Tier mit dem Bauch nach oben und inspizierte die Wunde. Sie reichte nur bis in die lockere Haut der Leistengegend und hatte wohl keine Muskeln verletzt. Wahrscheinlich litt es nur an akuter Austrocknung. Er merkte, dass es ein Weibchen war und süß und moschusartig roch. Es erinnerte ihn an eine Frau, die er irgendwann während seiner Zeit auf See gekannt hatte, aber er fand nicht das passende Gesicht zu dem Geruch. Er zeigte Lemoni das Tier und sagte: »Es ist ein Mädchen.« Sie stellte unweigerlich die Frage: »Warum?«

Der Arzt steckte das Marderjunge in seine Jackentasche und brachte Lemoni heim. Er versprach ihr noch, sein Möglichstes zu tun. Dann begab er sich zu seinem eigenen Haus, wo er im Hof Mandras antraf, der lebhaft auf Pelagia einredete, die zu kehren versuchte. Der Fischer blickte verlegen auf und sagte: »Oh, Kalimera, Iatre. Ich wollte dich gerade aufsuchen, und weil du nicht da warst, habe ich mit Pelagia gesprochen, wie du siehst. Meine Wunde macht mir noch Sorgen.«

Dr. Iannis warf ihm einen skeptischen Blick zu und fühlte Unmut in sich aufwallen; ohne Zweifel hatte ihn das Leiden des Tierchens aus der Fassung gebracht. »Mit deiner Wunde ist gar nichts. Ich nehme an, du wolltest mir sagen, dass sie juckt.«

Mandras lächelte ihn gewinnend an und sagte: »Genau das war’s, Iatre. Du musst ein Zauberer sein. Wie hast du das gewusst?«

Der Arzt verzog lakonisch den Mund und ließ einen gespielten Seufzer hören. »Mandras, du weißt ganz genau, dass Wunden immer jucken, wenn sie ausheilen. Du weißt ebenfalls ganz genau, dass ich ganz genau weiß, dass du bloß hergekommen bist, um mit Pelagia zu flirten.«

»Flirten?«, wiederholte der junge Mann und tat sowohl unschuldig wie entsetzt.

Mandras versuchte, nicht verwirrt dreinzuschauen, wurde dann aber von ungewohnter Keckheit gepackt. »Dann habe ich die Erlaubnis, mit deiner Tochter zu reden?«

»Red, red, red«, sagte Dr. Iannis und fuchtelte ungehalten mit den Händen. Er drehte sich auf dem Absatz um und trat ins Haus. Mandras sah Pelagia an und meinte: »Dein Papa ist ein komischer Kerl.«

»Mit meinem Vater ist alles in Ordnung«, rief sie, »und jeder, der was anderes sagt, kriegt den Besen ins Gesicht.« Sie stupste ihn spielerisch mit dem Gerät an, doch er fing es auf und entwand es ihrem Griff. »Gib ihn mir zurück«, sagte sie lachend.

»Ich werde ihn zurückgeben … für einen Kuss.«

Dr. Iannis legte das sterbende Tier behutsam auf den Küchentisch und betrachtete es. Er zog einen Schuh aus, packte ihn am Zehenteil und hob ihn über seinen Kopf. Ein so kleiner und zierlicher Schädel würde leicht zu zermalmen sein. Das Tier würde nicht leiden müssen. Es wäre das Beste.

Er hielt inne. Er konnte es Lemoni nicht mit einem zermalmten Schädel zum Begraben geben. Vielleicht sollte er ihm das Genick brechen. Er hob es mit der rechten Hand auf, legte die Finger hinten ans Genick und den Daumen unter den Unterkiefer. Er brauchte nur mit dem Daumen nach oben zu drücken.

Ein paar Sekunden lang überdachte er das Vorhaben, tadelte sich für sein Vorgehen, doch dann spürte er, wie sich sein Daumen von selbst bewegte. Der Marder war nicht

Sie trat ein, überzeugt, dass ihr Vater gesehen hatte, wie sie Mandras küsste. Sie bereitete sich darauf vor, sich standhaft zu verteidigen. Ihr Gesicht war gerötet, und sie erwartete allen Ernstes einen Zornesausbruch. Sie war vollkommen verdutzt, als ihr Vater nicht einmal aufblickte. Er wollte nur wissen: »Sind heute Mäuse in die Fallen gegangen?«

»Wir haben zwei, Papakis.«

»Gut, dann geh und grab sie aus, wo du sie verscharrt hast, und dreh sie durch den Wolf.«

»Durch den Wolf drehen?«

»Ja. Mach Hackfleisch draus. Und hol mir etwas Stroh.«

Pelagia eilte nach draußen, sowohl verdattert als auch erleichtert. Zu Mandras, der beim Olivenbaum nervös Steine weggeschlenzt hatte, sagte sie: »Alles in Ordnung, er will nur, dass ich Mäuse zu Hackfleisch verarbeite und etwas Stroh hole.«

»Siehst du, ich hab doch gesagt, er ist ein komischer Kerl.«

Sie lachte. »Das heißt bloß, er hat jetzt irgendwas vor. Er ist nicht wirklich verrückt. Du kannst das Stroh zusammensuchen, wenn du willst.«

»Danke«, sagte er, »ich mach nichts lieber als Stroh suchen.«

Sie lächelte schelmisch. »Es könnte eine Belohnung geben.«

»Für einen Kuss«, erwiderte er, »würde ich einen Schweinestall sauber lecken.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, ich würde dir einen Kuss geben, nachdem du einen Schweinestall sauber geleckt hast?«

»Ich würde dich sogar küssen, wenn du den Schleim vom Boden meines Bootes abgeleckt hättest.«

»Das glaub ich dir. Du bist viel verrückter als mein Vater.«

Eine halbe Stunde später schlief sein Patient fest auf einem Strohlager, und Pelagia hackte die Mäuse mit einem Beil klein. Unerklärlicherweise hockte Mandras auf einem Ast des Olivenbaums. Dr. Iannis rauschte auf dem Weg in die Kapheneia an ihnen vorbei, während er sich wieder seine vernichtende Kritik an der kommunistischen Wirtschaft vorsagte und sich die verblüffte Miene ausmalte, die Kokolios gleich aufsetzen würde. Pelagia rannte ihrem Vater nach und zupfte ihn genauso am Ärmel, wie es vorhin Lemoni getan hatte. »Papakis«, sagte sie, »hast du nicht gemerkt, dass du mit nur einem Schuh weggehst?«