Mandras zeigte sich nach dem Heiligenfest zwei Tage lang nicht, was Pelagia in schmerzliche Unruhe stürzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihm zugestoßen sein mochte, und erfand einen Grund nach dem anderen für sein Ausbleiben, das sie als einen zunehmenden Mangel empfand, der realer zu werden drohte als ihre alltäglichen Verpflichtungen und Verrichtungen.
Sie war mit ihrem Vater vom Fest heimgegangen und hatte sich zusammengereimt, dass sein oberflächliches Gerede sowohl vom Trinken als auch davon herrührte, dass Mandras ihn nicht gefunden hatte. Bei jedem Schritt hatte sie seinen Redefluss über die psychologische Natur des Wunderbaren und seine überraschend groben Bemerkungen über die Begebenheiten am Rande des Festes unterbrechen wollen; so unerträglich gemischte Gefühle wie Beklommenheit und Glück drohten sie innerlich zu zerreißen, und sie wünschte nichts sehnlicher, als den Heiratsantrag von Mandras zu erwähnen. Diese Information wog schwerer als die ganze Welt, und sie brauchte ihren Vater, um sie mitzutragen, damit sie leichter wurde. Dem Arzt waren ihre geröteten Wangen, ihre sprunghafte Aufmerksamkeit, ihre Neigung, über Steine zu stolpern, ihre übersteigerten Gesten und ihre leicht erstickte Stimme nicht aufgefallen; er war genau bei jenem Zustand der Betrunkenheit angelangt, bei dem gute Laune auf der Kippe zu Übelkeit und schwankendem Gang stand, und hatte entschieden, sich zurückzuziehen. Seine Hochstimmung schloss jede Sensibilität für den Gemütszustand seiner Tochter aus, und so war sie ihre Neuigkeit noch nicht losgeworden, als sie zu Hause anlangten, wo der Arzt die gleichmütige Psipsina in die Arme nahm und mit ihr über den Hof walzte. Danach hatte er auf die Pfefferminze gepinkelt und sich übel riechend und vollkommen angekleidet schlafen gelegt.
Pelagia ging ebenfalls zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Durch die Spalten der Fensterläden schickte ein noch nicht ganz voller Mond Fädchen aus geisterhaftem Silberlicht, das sich mit dem energischen Zirpen der Grillen verschwor, sodass sie mit weit offenen Augen auf dem Rücken dalag. Noch nie hatte sie sich wacher gefühlt. In einer endlosen Schleife ließ sie die Ereignisse des Tages vor ihrem geistigen Auge Revue passieren; das Wunder, die Lieder und Tänze, die Prügeleien, das Rennen, den Heiratsantrag. Darauf lief es stets hinaus; jede Erinnerungsspur führte um ein paar Ecken wieder zurück zu jenem knienden hübschen jungen Mann bei der Bank, auf der sie gesessen hatte. Mandras mit den Knien in einer Weinpfütze, Mandras, herrlich schön, strahlend und jugendlich, Mandras, so köstlich wie Apollo. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren, als sie sich in seiner Umarmung gefangen vorstellte, ihn in einen Inkubus verwandelte, Arme und Beine bewegte, seinen Rücken liebkoste und in absentia die sanfte Schnecke seiner Zunge auf ihren Brüsten und den geschmeidigen Druck seines Körpers spürte.
»Ich liebe dich«, verkündete sie, doch zugleich fielen Zweifel wie winzige, unsichtbare Teufel über sie her. Eine Ehe war eine so große Sache, sie bedeutete, ein Leben für ein anderes hinzugeben. Sie bedeutete, das Vaterhaus zu verlassen, sie bedeutete Kinderkriegen und harte Arbeit an Stelle dieser sanften Idylle mit ihren neckischen dummen Zufällen, ihren ruhigen alltäglichen Erledigungen samt den entsprechenden Überspanntheiten. Sie schreckte vor dem Gedanken zurück, Anweisungen und Entscheidungen von jemand anders als ihrem Vater entgegenzunehmen, dessen Befehle, egal wie brüsk und gebieterisch, eigentlich ironisch verkleidete Bitten waren. Wie würde Mandras sein? Wie gut kannte sie ihn wirklich? Was für Beweise hatte sie, dass er geduldig und menschlich war? Er brachte ihr Geschenke, sicher, aber würden diese nicht ausbleiben, wenn der Handel unter Dach und Fach war? War er nicht zu jung und impulsiv? Seine Bewegungen, seine unüberlegten Erwiderungen waren ihr etwas zu entschieden; konnte sie jemand trauen, der sofort antwortete, ohne nachzudenken? Jemand, dessen Taten und Worte eher poetisch als gründlich überlegt waren? Es beschlich sie der Verdacht, dass sein Herz etwas zu unnachgiebig war. »Könnte er ein Romoi sein«, fragte sie sich, »ohne es selbst zu wissen?« Und wie sollte sie den Unterschied zwischen Begierde und Liebe herausfinden? Sie hörte auf das blecherne Summen einer Stechmücke, während sie ihren Verlobten mit ihrem Vater verglich. Sie himmelte den Letzteren an; ja, das war Liebe. Doch welche Gemeinsamkeiten gab es da mit den Empfindungen, die sie Mandras entgegenbrachte? War es denkbar, dass es ihr ein Gefühl der Freiheit vermittelte, wenn sie ganz für ihn da war? War es einfach so, dass es verschiedene Arten der Liebe gab? Wenn das, was sie für Mandras empfand, nicht Liebe war, warum dann diese Atemlosigkeit, dieses bodenlose beständige Sehnen, das ihre Zunge pelzig machte und ihr Herzklopfen verursachte? Warum kommandierte diese Empfindung sie grundlos und unwiderstehlich herum wie Gott oder ein Diktator? Warum schien sie wie die Schiedssprüche von Pater Arsenios Gesetzeskraft zu haben, nur ohne die formale Verbindlichkeit? Der Mond rückte hinter den Ölbaum und warf ein stetiges Laubflimmern an die Wand, die melancholischen Glocken der Ziegen auf dem Ainos bimmelten in der sanften Nachtkühle, und draußen war Psipsina zu hören, die im Hof nach Futter suchte. »Fängt sich jetzt selber Mäuse«, dachte Pelagia, als sie auf ihren vor Hunger knurrenden Magen lauschte. Sie dachte an die kapriziöse Lebensfreude des Marders, an seine Unschuld und daran, dass er in der Aufgabe, er selbst zu sein, völlig aufging, und erkannte ziemlich schlagartig, dass sie die Unbekümmertheit der Jugend gegen etwas eingetauscht hatte, was sehr nach Unglück aussah. Sie stellte sich vor, dass Mandras gestorben war, und als ihr die Tränen kamen, machte sie gleichzeitig die schockierende Entdeckung, dass sie auch Erleichterung verspürte. Sie verbannte gebieterisch dieses Bild und sagte sich, dass sie ekelhaft sei.
Am Morgen begab sie sich in den Hof und dachte sich Tätigkeiten aus, die es ihr ermöglichen würden, ihn zu erblicken, sobald er um die Straßenbiegung kam, dieselbe Biegung, wo er von Velisarios angeschossen worden war. Sie untersuchte die wiederkäuende Ziege nach Zecken, brannte diese mit einer heißen Nadel aus und durchwühlte dann nochmals das grobe Fell. Sie blickte wiederholt auf, um zu schauen, ob Mandras endlich kam. Ihr Vater ging zum Frühstücken in die Kapheneia, und da fiel ihr ein, dass Psipsina vielleicht auch Zecken hatte. Sie setzte das Tier auf die Mauer, wo sie der Straße noch näher war, und bürstete mit den Fingern das Fell gegen den Strich. Pelagia vergrub die Nase in das weiche Bauchfell und fühlte sich gleichzeitig betrübt und getröstet durch den süßen Geruch. Psipsina zappelte und quiekte vor Vergnügen, als die geschäftigen Finger zwei Flöhe fanden und zwischen Daumen- und Zeigefingernagel zerdrückten. Da Pelagia nicht von der Mauer wegwollte, kämmte sie den Marder gründlich und entwirrte die verfilzten Fellknoten. Sie drapierte sich Psipsina um den Hals und entschied, Wasser zu holen, denn dann würde sie ganz um die Biegung kommen. Psipsina schlief, als Pelagia sich an den Brunnen setzte und die anderen Frauen in ein Gespräch verwickelte; doch sie vergaß die Einzelheiten aller besprochenen Skandale gleich wieder, und ihr Blick schweifte ständig ab. Ihr wurde allmählich etwas übel. Sie holte mehr Wasser, als sie brauchen konnte, und beschloss, die Kräuter zu gießen. Des Wartens müde, setzte sie sich in den Schatten des Olivenbaums und legte den Arm um den dürren Hals ihrer Ziege, die unbeteiligt weiterkaute, als gäbe es keine andere Welt als ihre eigene. Die Sehnsucht verwandelte sich in Ungeduld und weiter in Ungehaltenheit. Um Mandras eins auszuwischen, entschied sich Pelagia, einen Spaziergang zu machen. Es würde ihm recht geschehen, wenn sie nicht da war, falls er noch käme. Sie ging auf der Straße in die Richtung, aus der sie ihn erwartete, setzte sich auf eine Mauer, bis es zu heiß wurde, und wanderte dann in die Macchia, wo sie auf Lemoni traf, die nach Grillen suchte.
Pelagia ließ sich auf einem Felsblock nieder und sah zu, wie das Mädchen von einem Strauch zum anderen eilte und mit ihren feisten Fingern in die Luft griff, als die Grillen ihr Heil in der Flucht suchten. »Wie alt bist du, Koritsimou?«, fragte Pelagia auf einmal.
»Sechs«, sagte Lemoni. »Gerade erst. Nach dem nächsten Fest werde ich sieben.«
»Kannst du schon bis zehn zählen?«
»Ich kann bis dreißig zählen«, verkündete Lemoni und führte es ihr gleich vor: » … einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreißigzwanzig.«
Pelagia seufzte. Sie nahm an, dass Lemoni, bevor zwei weitere Feste vorbei wären, Arbeiten im Haus zugeteilt bekäme, und dann hätte das Jagen nach kleinen Tierchen in der Macchia ein Ende. Dann ginge es darum, im immer gleichen Ton über die Männer herzuziehen und wichtige Angelegenheiten nur mit anderen Frauen zu besprechen, wenn die Männer nicht zuhörten oder beim Backgammonspiel in der Kapheneia waren, obwohl sie eigentlich arbeiten sollten. Für Lemoni gäbe es bis zur Witwenschaft keine Freiheit, und genau zu dem Zeitpunkt würde sich die Gemeinde gegen sie wenden, als hätte sie kein Recht, länger als ihr Mann zu leben, als wäre er nur gestorben, weil seine Frau ihn vernachlässigt hatte. Deswegen musste eine Frau Söhne haben, das war die einzige Versicherung gegen ein erbärmliches und schreckliches Alter. Pelagia wünschte sich ein besseres Los für Lemoni, als wäre es eitel, für sich selbst bessere Verhältnisse zu wünschen.
Auf einmal heulte Lemoni auf und riss Pelagia aus ihren Gedanken. Es klang wie das Maunzen einer Katze. Lemoni schossen Tränen aus den Augen, sie hielt sich den Zeigefinger, krümmte sich zusammen und wiegte sich vor und zurück. Pelagia eilte zu ihr, öffnete dem Mädchen die kleinen Finger und sagte: »Was ist passiert, Koritsimou? Was hat dir wehgetan?«
»Es hat mich gebissen, es hat mich gebissen«, schrie Lemoni.
»Ach du liebe Zeit. Hast du nicht gewusst, dass sie beißen?« Sie führte die Finger an den Mund und blies darauf. »Sie haben große Zangenkiefer. Es wird aber gleich nicht mehr wehtun.«
Lemoni umklammerte wieder ihren Finger. »Es sticht.«
»Wenn du eine Grille wärst, würdest du nicht auch die Leute beißen, die dich aufheben? Die Grille hat gedacht, du willst ihr was antun, und deswegen hat sie dir wehgetan. So ist das eben. Wenn du älter bist, wirst du drauf kommen, dass die Menschen sich ziemlich ähnlich verhalten.«
Pelagia gab vor, einen speziellen Zauber zur Heilung von Grillenbissen anzuwenden, und führte die besänftigte Lemoni wieder ins Dorf. Mandras war immer noch nicht da, und alles war ungewöhnlich still, da die Leute herumschlichen und ihre Katerstimmung und ihre unerklärlichen blauen Flecken kurierten. Ein Esel brüllte lächerlich lange, worauf aus den dunklen Zimmern der Häuser ein rauer Chor mit »Ai gamisou« antwortete. Pelagia machte sich an die Zubereitung des Abendessens und war dankbar, dass es heute keinen Fisch gab. Als sie später nach dem üblichen Peripato mit ihrem Vater zusammensaß, sagte dieser ziemlich unerwartet: »Ich schätze, er ist nicht gekommen, weil ihm wie allen anderen schlecht ist.« Pelagia strömte über vor Dankbarkeit, ergriff seine Hand und küsste sie. Der Arzt drückte ihre Hand und sagte traurig: »Ich weiß gar nicht, wie ich zurechtkommen soll, wenn du weg bist.«
»Papakis, er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will … Ich hab ihm gesagt, er müsste dich fragen.«
»Ich will ihn doch nicht heiraten«, erwiderte Dr. Iannis. »Ich halte es für die viel bessere Lösung, wenn er dich heiratet.« Er drückte wieder ihre Hand. »Auf einem der Schiffe, auf denen ich war, waren ein paar Araber. Die haben nach jedem Satz ›Inschallah‹ gesagt. ›Ich werd es morgen erledigen, Inschallah.‹ Das konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen, weil sie anscheinend von Gott erwarteten, dass er das für sie erledigte, wozu sie selber keine Lust hatten, aber da steckt eine gewisse Weisheit drin. Du wirst Mandras heiraten, wenn es die Vorsehung so entschieden hat.«
»Hast du was gegen ihn, Papakis?«
Er wandte sich ihr zu und sah sie begütigend an. »Er ist zu jung. Alle heiraten zu jung. Bei mir war es jedenfalls so. Außerdem habe ich dir auch keinen Gefallen getan. Du liest die Gedichte von Kavafis, ich habe dir Katharevousa und Italienisch beigebracht. Er ist dir nicht ebenbürtig, aber erwartet eigentlich, seiner Frau überlegen zu sein. Er ist schließlich ein Mann. Ich hab mir oft gedacht, dass du nur mit einem Ausländer, einem Zahnarzt aus Norwegen oder so, eine glückliche Ehe führen könntest.«
Pelagia lachte über diesen ungereimten Gedanken und verstummte. »Er nennt mich ›Signora‹«, sagte sie dann.
»So was hab ich schon befürchtet.« Sie schwiegen längere Zeit, während sie beide die Sterne über dem Berg betrachteten, bis dann Dr. Iannis fragte: »Ist dir je in den Sinn gekommen, wir sollten auswandern? Die Staaten oder Kanada oder so?«
Pelagia schloss die Augen und seufzte. »Mandras«, sagte sie nur.
»Ja. Mandras. Und das ist unsere Heimat. Es gibt keine andere. In Toronto schneit es möglicherweise, und in Hollywood würde uns keiner eine Rolle geben.« Der Arzt stand auf, ging ins Haus und kam mit etwas, das im Halbdunkel metallisch glänzte, wieder heraus. Sehr förmlich händigte er es seiner Tochter aus. Sie nahm es, sah, was es war, spürte das ominöse Gewicht und ließ es mit einem leisen Schreckensschrei in den Rockschoß fallen.
Der Arzt blieb stehen. »Es wird Krieg geben. Da passieren entsetzliche Dinge. Besonders den Frauen. Nimm sie zu deiner Verteidigung und richte sie notfalls auch gegen dich. Du darfst sie auch gegen mich einsetzen, wenn es die Umstände verlangen. Es ist nur eine kleine Derringer, aber …« er machte eine ausladende Handbewegung » … eine fürchterliche Finsternis ist über die Welt hereingebrochen, und jeder von uns muss sein Möglichstes tun, das ist alles. Vielleicht weißt du es noch nicht, Koritsimou, aber es könnte sein, dass deine Heirat aufgeschoben werden muss. Wir müssen uns erst vergewissern, dass sich Mussolini nicht zur Hochzeit einlädt.« Der Arzt machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus, überließ Pelagia der Angst, die sich in ihrem Busen breitmachte, und einer überaus unwillkommenen Einsamkeit. Ihr fiel ein, dass in den Bergen von Souli sechzig Frauen auf einen der Gipfel gestiegen waren, miteinander getanzt und dann sich und ihre Kinder in die Tiefe gestürzt hatten; das war ihnen lieber, als sich in die türkische Sklaverei zu begeben. Einige Augenblicke später ging sie in ihr Zimmer, schob die Derringer unter ihr Kissen und setzte sich auf die Bettkante, wobei sie Psipsina abwesend streichelte und sich wieder vorstellte, dass Mandras tot war.
Am zweiten Tag nach dem Fest vollführte Pelagia den gleichen gemächlichen Reigen nutzloser Erledigungen, die jedoch die Abwesenheit ihres Geliebten nicht aufwiegen konnten, sondern ihr eher einen Rahmen gaben. Alles – die Bäume, die spielende Lemoni, die Ziege, die Launen von Psipsina, der wichtigtuerische, beschwerliche Watschelgang von Pater Arsenios, das entfernte Hämmern von Stamatis, der einen Holzsattel für einen Esel zimmerte, Kokolios’ heiseres Absingen der Internationale, wobei er die Hälfte des Textes ausließ –, alles war lediglich ein Zeichen für das, was fehlte. Die Welt versank und machte einem Leichentuch aus Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit Platz, das den Dingen selbst anzuhaften schien; sogar der Lammbraten mit Rosmarin und Knoblauch, den sie zum Abendessen machte, bedeutete nichts weiter als das quälende Fehlen von Fisch. Nachts fühlte sie sich zu erschöpft und niedergedrückt, um sich in den Schlaf zu weinen. In ihren Träumen warf sie Mandras Grausamkeit vor, doch er lachte sie nur aus wie ein Satyr und tanzte über die Wellen davon.
Am dritten Tag ging Pelagia ans Meer. Sie setzte sich auf einen Felsen und sah ein riesiges Kriegsschiff unheildrohend nach Westen dampfen. Es fuhr höchstwahrscheinlich unter britischer Flagge. Sie dachte an den Krieg und fühlte, wie ihr das Herz schwer wurde. Sie sann darüber nach, dass in alter Zeit die Menschen nur ein Spielball der Götter waren und es jetzt zu nichts weiter gebracht hatten als zu Schachfiguren anderer Menschen, die sich für Götter hielten. Sie spielte mit dem Gleichklang der Wörter Hitler, Attila, Caligula; Hitler, Attila, Caligula. Für Mussolini fand sie kein ähnliches Wort, bis ihr Metaxas einfiel. Und so kam sie auf Mussolini, Metaxas und fügte noch Mandras hinzu.
Gleichsam als Antwort auf ihre Gedanken erfasste sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Links unten tauchte ein Körper wie ein menschlicher Delphin durch die Wellen. Sie sah dem braunen Fischer mit ausschließlich ästhetischem Genuss zu, bis sie leicht entsetzt bemerkte, dass er völlig nackt war. Er musste ungefähr hundert Meter entfernt sein, und sie wusste, dass er ein Schwimmnetz ausrichtete, dessen Maschen so klein waren, dass damit auch Sardellen gefangen werden konnten. Er tauchte lange, ordnete sein Netz in einem Halbrund an, umkreist von Möwen, die sich herabstürzten, um sich ihren Beuteanteil zu holen. Verstohlen, doch ohne Schuldgefühl, schlich Pelagia näher, um diesen schlanken Jüngling weiter zu bewundern, der ganz wie ein Fisch mit der See verschmolz, ein nackter und unzivilisierter Mensch, ein Mann wie Adam.
Sie sah zu, wie sich das Netz um den Schwarm zuzog, und als er glitzernd am Strand stand und es mit gespannten Muskeln und rhythmisch arbeitenden Schultern in gleichmäßigen Handbewegungen einholte, erkannte sie erst, dass es Mandras war. Sie schlug sich die Hand auf den Mund, um ihren Schrecken und das plötzliche Schamgefühl zu unterdrücken, aber sie schlich nicht davon. Sie war immer noch verzaubert von seiner Schönheit, von der Harmonie und Kraft seiner Arbeit, und sie konnte dem Gedanken nicht widerstehen, dass Gott ihr Gelegenheit gegeben hatte, das, was ihr gehören sollte, zu betrachten, bevor sie es in Besitz nahm: die schlanken Hüften, die spitzen Schultern, den straffen Bauch, den dunklen Schatten des Unterleibs mit dem geheimnisvollen Gebaumel, das Thema so viel schlüpfrigen Weibertratsches am Brunnen war. Mandras war für einen Poseidon noch zu jung, zu sehr ohne Arg. War er dann eine männliche Meeresnymphe? Gab es so was wie eine männliche Nereide oder Potamide? Sollte sie nicht Honig, Öl, Milch oder eine Ziege opfern? Oder sich? Es fiel ihr schwer, Mandras zuzuschauen, wie er durchs Wasser glitt, und nicht zu glauben, dass solch ein Geschöpf, wie Plutarch gesagt hat, 9720 Jahre leben würde. Doch diese Vision von Mandras besaß Ewigkeitswert, und die von Plutarch vermutete Lebensspanne erschien zu willkürlich und zu kurz. Pelagia fiel ein, dass diese Szene sich schon seit mykenischen Zeiten Generation für Generation abgespielt hatte; vielleicht hatte es schon zur Zeit von Odysseus Mädchen wie sie gegeben, die ans Meer gegangen waren, um sich an der Nacktheit ihrer Geliebten heimlich zu ergötzen. Es überlief sie ein Schauder bei dem Gedanken an eine solche Verschmelzung mit der Geschichte.
Mandras hatte sein Netz eingeholt und bückte sich, um aus den Maschen die winzigen Fische zu klauben, die er dann in säuberlich auf dem Sand aufgereihte Eimer warf. Die silbernen Fische blitzten in der Sonne wie nagelneue Messer auf, verwandelten ihr Ersticken in ein Bild der Schönheit, so wie sie gegeneinander schnalzten und hüpften, bis sie tot waren. Pelagia bemerkte, dass sich auf Mandras’ Schultern die Haut abschälte, die von der Sonne nicht ausreichend gebräunt war, obwohl er den ganzen Sommer im Freien gewesen war. Sie war überrascht, ja sogar enttäuscht, denn es zeigte ihr, dass der schmucke Knabe nur aus Fleisch und Blut und nicht aus unvergänglichem Gold war.
Er richtete sich wieder auf, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Sie sah, dass er aufs Meer hinausschaute und mit den Armen über dem Kopf bedächtige Signale gab. Sie versuchte vergebens, das auszumachen, was seine Aufmerksamkeit so fesselte. Verwirrt hob sie den Kopf etwas höher über den Felsen, hinter dem sie sich versteckt hatte, und erspähte drei dunkle Schatten, die in einträchtiger Harmonie durch die Wellen auf ihn zuglitten. Sie hörte seinen Freudenschrei und sah zu, wie er mit drei größeren Fischen in den Händen auf sie zuwatete. Sie sah ihn die Fische hoch in die Luft werfen, worauf die drei Delphine in hohem Bogen aus dem Wasser schnellten, um sie wegzuschnappen. Dann beobachtete sie, wie er sich an einer Rückenflosse festhielt und hinaus aufs Meer glitt.
Sie rannte bis ans Wasser und kniff die Brauen bei dem verzweifelten Versuch zusammen, die funkelnden und schwankenden Lichtblitze, die die Sonne aus dem Wasser kitzelte, auszublenden, konnte aber nichts sehen. Ob Mandras ertrunken war? Ihr fiel siedendheiß ein, dass es großes Unglück brachte, eine Nymphe nackt zu sehen, es konnte zum Delirium führen. Was war los? Sie rang die Hände und biss sich auf die Lippen. Die Sonne brannte mit einer schon an Rachsucht grenzenden Heftigkeit auf ihre Unterarme, und sie drückte sie ängstlich an die Brust. Sie blieb noch kurz am Strand, drehte sich dann um und lief heim.
In ihrem Zimmer kuschelte sie sich an Psipsina und weinte. Mandras war ertrunken, er war mit den Delphinen verschwunden, würde nie mehr zurückkommen; alles war aus. Sie beschwerte sich beim Marder über die Ungerechtigkeit und Vergeblichkeit des Lebens und wehrte sich nicht gegen die raspelnde Zunge, die genüsslich das Tränensalz abschleckte. Es klopfte zaghaft an der Tür.
Da stand Mandras scheu lächelnd mit einem Eimer Sardellen in der Hand. Er trat von einem Fuß auf den anderen und sprudelte in einem Schwall hervor: »Tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin, aber am Tag nach dem Fest bin ich krank gewesen, weißt du, vom Wein, es ist mir gar nicht gut gegangen, und gestern hab ich nach Argostoli gehen müssen, um meine Einberufungspapiere zu holen, und übermorgen muss ich aufs Festland, und ich hab in der Kapheneia mit deinem Vater gesprochen, und er hat seine Zustimmung gegeben, und ich hab dir Fisch mitgebracht. Schau, ein paar Sardellen.«
Pelagia setzte sich auf die Bettkante; jede Empfindung wich aus ihr. Das war zu viel Glück, zu viel Verzweiflung auf einmal. Da war sie offiziell verlobt mit einem jungen Mann, der mit dem Schicksal ringen würde, der eigentlich im Meer ertrunken sein sollte, der Heiraten mit Sardellen und Krieg in einen Topf warf, der mit Delphinen spielte und zu schön war, um in der Eiseskälte von Tsamouria zu sterben. Er schien auf einmal eine Traumgestalt von erschreckender und unendlicher Zerbrechlichkeit geworden zu sein, etwas zu Kostbares und Vergängliches, um menschlich zu sein. Ihr zitterten die Hände. »Geh nicht, geh nicht«, flehte sie ihn an und dachte daran, dass es Unglück brachte, eine Nymphe nackt zu sehen, dass es zum Delirium und gelegentlich zum Tod führte.