Ich kam erst Mitte Mai auf Kephallonia an, denn ich war nur in das 33. Artillerieregiment der Division Acqui versetzt worden, weil ich mit meinen verletzten Schenkelmuskeln für eine gewisse Zeit zu nichts anderem als Stubendienst tauglich war. Mittlerweile war ich von der Armee so desillusioniert, dass ich überallhin gegangen wäre, bloß um ein geruhsames Leben zu führen, meinen Erinnerungen nachzuhängen und meine Wunden zu lecken. Ich war so tief deprimiert, wie es nur Soldaten sein können, die erkennen, dass sie auf der falschen Seite gekämpft, sich körperlich total verausgabt und die Quellen ihres Muts und ihrer geistigen Gesundheit so sehr aufgezehrt haben, dass sie sich völlig ausgebrannt vorkommen; ich hatte wirklich das Gefühl, dass mein Kopf hohl war und mein Brustkorb ein Vakuum. Ich war immer noch ganz benommen vor Kummer über den Tod von Francisco und entsetzt über meine eigene Dummheit, nicht vorhergesehen zu haben, dass meine Träume davon, mein Laster vorteilhaft einzusetzen, auf einer unvollständigen Annahme beruhten; es stimmte, dass meine Liebe zu Francisco mich zu großen Taten angespornt hatte, aber ich hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, dass er getötet werden konnte. Ich war mit romantischen Ideen in den Krieg gezogen und niedergeschlagen, elend und einsam daraus hervorgegangen. »Mit gebrochenem Herzen«, fiel mir ein, nur genügt das nicht, das Gefühl zu beschreiben, sowohl an Körper wie Seele gebrochen zu sein. Ich hatte den Wunsch zu fliehen – ich beneidete unsere Soldaten in Jugoslawien, die die Seiten gewechselt und sich der Division Garibaldi angeschlossen hatten –, doch letztendlich ist es unmöglich, jenen Ungeheuern zu entkommen, die am eigenen Innern nagen, und der einzige Weg, sie zu überwinden, ist der, mit ihnen zu ringen wie Jakob mit seinem Engel oder wie Herkules mit der Hydra oder sie eventuell so lange zu ignorieren, bis sie aufgeben und verschwinden. Ich tat das Letztere, und das wurde mir erleichtert durch ein kleines Wunder namens Antonio Corelli. Er ließ mich wieder Hoffnung schöpfen, denn er ist ein klarer Brunnen, eine Art Heiliger ohne anstoßende Züge von Frömmelei, eine Art Heiliger, der mit der Versuchung eher spielen als kämpfen will. Er ist stets ein Ehrenmann geblieben, weil er sich gar nicht anders zu verhalten weiß.
Ich traf ihn das erste Mal im Lager vor Argostoli während der Zeit, als die Quartiermeister uns noch keine Unterkunft bei den ortsansässigen Griechen besorgt hatten. Es war mitten im Frühling, wenn die Insel am heitersten und schönsten ist. Am Jahresanfang kann das Wetter äußerst stürmisch sein, und später kann es ganz unerträglich heiß werden, doch im Frühling ist es mild, nachts kommt mit einer leichten Brise ein sanfter Regen, und Wildblumen blühen an den unmöglichsten Stellen. Nach all den Kriegsgräueln kam es mir so vor, als wäre ich von einem Boot gestiegen und im Paradies gelandet. Der friedliche Eindruck war so überwältigend, dass mir vor ungläubiger Dankbarkeit die Tränen kamen. Auf dieser Insel konnte einfach niemand mürrisch sein, böse Gefühle konnten hier nicht aufkommen. Bei meinem Eintreffen war die Division Acqui bereits dem Reiz der Insel verfallen, war in ihre Kissen gesunken, hatte die Augen geschlossen und sich von einem sanften Traum umgarnen lassen. Wir vergaßen, dass wir Soldaten waren.
Als Erstes fiel mir die peinigende Klarheit des Lichts auf. Vermutlich mache ich mich mit der Behauptung lächerlich, dass die Luft auf Kephallonia keine Dichte hat, aber das Licht ist so durchscheinend, so rein, dass jeder erst einmal geblendet und überwältigt ist, aber dennoch keinen Schmerz empfindet. Ich lief zwei oder drei Tage mit zusammengekniffenen Augen herum. Ich habe festgestellt, dass auf Kephallonia die Nacht ohne eine Einmischung des Zwielichts anbricht und dass vor einem Regen das Licht perlmuttartig ist. Nach einem Regen riecht die Insel nach Pinien, warmer Erde und der dunklen See.
Als Zweites fiel mir merkwürdigerweise das unglaubliche Ausmaß und Alter der Ölbäume auf. Sie waren schwarz und knorrig, verdreht und ausladend, sodass ich mir seltsam ephemer vorkam, weil sie Leute wie uns schon tausendmal haben kommen und gehen sehen müssen. Sie strahlten eine geduldige Allwissenheit aus. In Italien fällen wir unsere alten Bäume und pflanzen junge nach, aber hier konnte ich meine Hand an diese uralte Rinde legen, zu den durch das Laubdach glitzernden Bruchstücken des Himmels aufblicken und mir bei dem Gefühl, dass andere genau das Gleiche unter genau diesem Baum schon tausend Jahre vorher getan hatten, ganz winzig vorkommen. Die Griechen erhalten sie von Generation zu Generation am Leben, indem sie sie sorgfältig stutzen, und vielleicht gewöhnen sich die Bäume auf die gleiche Weise an eine Familie wie ein Haus oder eine Schafherde.
Als Drittes fiel mir die stille, entschlossene Würde der Inselbewohner auf, und ich entdeckte bald, dass auch unsere Soldaten sich davon hatten beeindrucken lassen. Viele unserer Jungs waren von der rüpelhaften und ungehobelten Sorte, die in jeder Armee zu finden ist, die Art von Kriminellen, die durch einen unerwarteten Glücksfall auf einen legitimen Weg gestoßen sind, ein Schweinehund sein zu dürfen. Einige von ihnen waren versoffen und gemein genug, um sich so zu benehmen, als hätte die Eroberung ihnen das Recht gegeben, mit der Bevölkerung nach Belieben umzuspringen, aber die Inselbewohner machten uns eigentlich von Anfang an klar, dass sie sich nichts gefallen lassen würden, ob wir nun bewaffnet waren oder nicht. Glücklicherweise waren die Offiziere der Division Ehrenmänner, und wenn sie das nicht gewesen wären, hätten sich die Inselbewohner, da bin ich ziemlich sicher, bald aufgelehnt, so wie sie es sehr schnell an den von den Deutschen besetzten Orten getan haben.
Ich möchte den Stolz der Bevölkerung mit dem Bericht darüber veranschaulichen, was geschah, als wir die Kapitulation verlangten. Ich habe ihn von Hauptmann Corelli. Er neigt zu dramatischen Übertreibungen, wenn er etwas erzählt, weil er einfach ein Original ist. Er bauscht immer alles auf und sagt etwas nur wegen des Unterhaltungswerts, wobei er die Wahrheit ironisch außer Acht lässt. Er betrachtet das Leben generell mit hochgezogenen Augenbrauen und lässt jene empfindliche Selbstachtung vermissen, die einen Menschen davor bewahrt, einen Witz auf eigene Kosten zum Besten zu geben. Einige Leute halten ihn für nicht ganz klar im Kopf, doch ich sehe ihn als Mann, der das Leben so sehr liebt, dass es ihm egal ist, welchen Eindruck er macht. Er mag Kinder über alles, und ich sah ihn ein Mädchen auf die Stirn küssen und in seinen Armen herumwirbeln, während seine ganze Batterie in Habtachtstellung dabeistand und darauf wartete, von ihm inspiziert zu werden. Er bringt auch liebend gerne hübsche Frauen zum Kichern, indem er seine Hacken zusammenschlägt und mit einer so vollendeten militärischen Exaktheit salutiert, dass es auf eine Verhöhnung alles Soldatischen hinausläuft. Wenn er vor General Gandin salutierte, so tat er das so nachlässig, dass es schon unverschämt war; daraus können Sie ersehen, was für ein Mensch er ist.
Das erste Mal begegnete ich ihm bei den Latrinen des Lagers. Seine Batterie hatte eine Latrine, die »La Scala« hieß, weil es einen kleinen Opernclub gab, der dort jeden Morgen zur gleichen Zeit in einer Reihe auf dem Donnerbalken mit den Hosen in den Kniekehlen seine Notdurft verrichtete. Er verfügte über zwei Baritone, drei Tenöre, einen Bassisten und einen Kontratenor, der viel verspottet wurde, weil er alle Frauenpartien singen musste. Dem Ganzen lag die Idee zugrunde, dass jeder Soldat während der Crescendi seine Wurst oder seinen Furz herausdrücken sollte, sodass es bei dem Gesang nicht zu hören war. Auf diese Art wurde die Würdelosigkeit des gemeinsamen Kackens gemildert, und die ganze Lagerbesatzung begann ihr Tagewerk, indem sie eine zündende Melodie summte, die sich ihr in den Kopf gesetzt hatte. »La Scala« erlebte ich das erste Mal um halb acht mit dem Zigeunerchor, der von sehr ungewöhnlichen und schallenden Paukenschlägen begleitet wurde. Natürlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, nachzuschauen, und näherte mich einer mit Planen abgeteilten Umfriedung, auf die mit dem weißen Armeefärbemittel »La Scala« gemalt war. Mir wehte zwar ein abstoßender und äußerst übler Geruch entgegen, ich ging aber trotzdem hinein und sah Soldaten mit hochroten Gesichtern aufgereiht auf dem Donnerbalken sitzen, die aus voller Kehle sangen und dabei mit Löffeln auf ihre Stahlhelme einhämmerten. Ich war sowohl verwirrt wie verwundert, besonders als ich einen Offizier unter den Männern sitzen sah, der das Konzert unbekümmert mithilfe einer Feder in seiner rechten Hand dirigierte. Üblicherweise muss vor einem Offizier in Uniform salutiert werden, insbesondere wenn er seine Kappe aufhat. Mein Salutieren war eine eilige und unvollendete Geste, die meinen Abgang begleitete – ich kannte schlichtweg nicht die Regelung, wie vor einem Offizier in Uniform zu grüßen ist, der mit der Hose auf halbmast gerade eine chorische Entleerung in besetztem Gebiet durchexerziert.
Daraufhin sollte ich der Operngesellschaft beitreten, da mich der Hauptmann »freiwillig« anmeldete, nachdem er mich beim Stiefelputzen singen gehört und erkannt hatte, dass ich ein weiterer Bariton war. Er übergab mir einen Zettel, den er aus General Gandins eigener Befehlsmappe stibitzt hatte und auf dem stand:
STRENG GEHEIM
Auf Befehl des HQ Supergrecia hat sich Schütze Carlo Guercio grundsätzlich nach Belieben des Hauptmanns Antonio Corelli vom 33. Artillerieregiment der Division Acqui zum Operndienst zu melden.
Dienstregeln:
Alle, die zum regelmäßigen musikalischen Arbeitsdienst berufen werden, sind verpflichtet, ein Musikinstrument zu spielen (Löffel, Stahlhelm, Kamm mit Papier etc.).
Jeder, der ständig die hohen Noten verfehlt, wird entmannt; die Hoden werden einem wohltätigen Zweck gestiftet.
Jeder, der behauptet, dass Donizetti besser als Verdi ist, soll Frauenkleider anziehen und öffentlich vor der Batterie und ihren Geschützen verhöhnt werden, einen Kochtopf auf dem Kopf tragen und in besonders schweren Fällen dazu verdonnert werden, Funiculi Funicula und andere, von Hauptmann Antonio Corelli nach seinem Gutdünken zu bestimmende Lieder über Züge zu singen.
Alle Wagner-Anhänger werden unwiderruflich ohne Prozess und ohne Möglichkeit der Berufung erschossen.
Trunkenheit ist nur zu den Zeiten Pflicht, wenn Hauptmann Antonio Corelli nicht für die Getränke sorgt.
Unterschrift General Vecchiarelli, Oberkommandant Supergrecia, im Auftrag Seiner Majestät König Vittorio Emmanuele.
Der Hauptmann berichtete von der Kapitulation, dass die Kommandeure gleich nach der Landung zum Rathaus von Argostoli gegangen waren, wo ihnen die Stadt offiziell übergeben werden sollte.
Sie hatten, begleitet von einem Bataillon bewaffneter Soldaten, draußen gestanden und eine Botschaft ins Rathaus geschickt, in der die Übergabe des Gebäudes und der Macht verlangt wurde. Heraus kommt eine Notiz, die schlicht besagte: »Va fanculo.« Bestürzung und helle Aufregung bei den Offizieren. Das ist nicht die Sprache der Diplomatie und kaum eine angemessene Antwort derjenigen, die sich eigentlich unter dem Stiefelabsatz der Eroberer krümmen sollten. Eine zweite Botschaft, mit der Drohung, das Gebäude zu stürmen, wird reingeschickt. Heraus kommt ein Zettel mit der Feststellung, dass jeder Italiener, der die Kapitulation verlangt, umgehend erschossen wird. Zusätzliche Verwirrung wird durch die Spekulation ausgelöst, ob die da drinnen wirklich Waffen haben oder nicht. Die Offiziere bringt die Vorstellung in Verlegenheit, dass sie tatsächlich eine Belagerung planen müssten. Sie schicken eine weitere Botschaft mit der Bitte um Klärung hinein, und heraus kommt eine andere, die lautet: »Wenn ihr nicht wisst, was ›Schleicht euch‹ heißt, dann kommt nur rein; wir werden es euch zeigen.« Die Offiziere sagen: »Ach, du Scheiße« und stehen sich in der Sonnenglut die Beine in den Bauch. Es gibt eine halbstündige Verzögerung, während der die Verwirrung wächst. Dann kommt von drinnen noch ein Zettel: »Wir weigern uns kategorisch, vor einem Volk zu kapitulieren, das wir vollständig in die Flucht gejagt haben, und fordern das Recht, vor einem hinreichend ranghohen deutschen Offizier zu kapitulieren.« Es wird tatsächlich ein deutscher Offizier von Zanthe oder Korfu oder sonstwoher eingeflogen, und die Stadtoberen treten triumphierend vor das Rathaus, nachdem sie uns an unserem ersten Tag der Eroberung gedemütigt und bezwungen haben.
So erzählte es mir Corelli, und ich bin sicher, dass er einige Einzelheiten ausgeschmückt hat. Doch es stimmt, dass die Stadtverwaltung sich schlichtweg weigerte, vor uns zu kapitulieren, und wir schließlich einen Deutschen einfliegen mussten. Corelli findet diese Geschichte zum Wiehern komisch und erzählt sie immer wieder gern, wobei er die Zahl der Zettel und Beschimpfungen ständig erhöht, während wir ihm mit roten Ohren lauschen.
Ich denke, für Corelli war das so lustig, weil das Einzige, was er ernst nahm, die Musik war – bis er Pelagia begegnete. Ich aber liebte ihn schließlich so sehr wie Francisco, nur auf eine völlig andere Art. Er gleicht einer jener auf Fäulnis gedeihenden Orchideen, die selbst noch auf einem Haufen Scheiße oder einer Schädelstätte mit ihren Blüten eine wunderbare Harmonie verbreiten können. Er ließ sein Gewehr verrosten, verlor es sogar ein- oder zweimal, gewann aber Schlachten mit nichts als seiner Mandoline als Waffe.