Dr. Iannis blickte zufrieden auf einen Tag zurück, an dem keiner seiner Patienten gestorben oder kränker geworden war. Er hatte bei der überraschend leichten Geburt eines Kalbes geholfen, einen Abszess aufgestochen, einen Backenzahn gezogen, eine Dame von lockerem Lebenswandel mit Salvarsan versorgt, ein unerfreuliches, aber sensationell ergiebiges Klistier verabreicht und durch einen medizinischen Taschenspielertrick ein Wunder vollbracht.
Er lachte in sich hinein, denn zweifellos wurde dieses Wunder bereits als eines St. Gerasimos würdig hingestellt. Er war ins Haus des alten Stamatis gegangen, zu dem er gerufen worden war, um Ohrenschmerzen zu behandeln, und hatte in einen Gehörgang geblickt, der feuchter, flechtenbehangener und stalagmitischer war als selbst die Drogarati-Grotte. Zunächst hatte er die Flechten mithilfe eines alkoholgetränkten und um ein langes Streichholz gewickelten Wattebäuschchens entfernt. Ihm war bekannt, dass der alte Stamatis seit seiner Kindheit auf diesem Ohr taub war und ständig unter Schmerzen litt. Es überraschte ihn aber doch, als die Streichholzspitze tief in der haarigen Höhlung offenbar auf etwas Hartes und Unnachgiebiges stieß, etwas, für dessen Vorhandensein es sozusagen keine physiologische oder anatomische Begründung gab. Er führte den alten Mann ans Fenster, riss die Läden auf, und blitzartig breiteten sich Mittagshitze und blendende Helligkeit im Zimmer aus, als hätte ein übereifriger und ungemein strahlender Engel irrigerweise diesen Ort für eine Epiphanie gewählt. Die Frau des alten Stamatis murrte; eine gute Hausfrau konnte es sich schlichtweg nicht leisten, zu dieser Stunde so viel Licht ins Haus zu lassen. Sie war sicher, dass es den Staub aufwirbelte; sie sah schon deutlich überall Flusen aufsteigen.
Dr. Iannis drehte den Kopf des alten Mannes und spähte ins Ohr. Mit dem langen Streichholz drückte er das Gestrüpp von starrem grauem Haar beiseite, das mit Flocken abblätternden Schorfs belaubt war. Darin war etwas Kugeliges. Er schabte die harte, braune Ohrenschmalzkruste ab und erblickte eine Erbse. Ganz ohne Zweifel: Es war eine Erbse; sie war hellgrün, und ihre Oberfläche war schon etwas runzlig, aber an dem Tatbestand an sich war nicht zu rütteln. »Hast du dir jemals etwas in die Ohren gestopft?«, wollte er wissen.
»Bloß meinen Finger«, erwiderte Stamatis.
»Und wie lange bist du schon taub auf diesem Ohr?«
»Schon seit ich mich erinnern kann.«
Dr. Iannis sah in seiner Phantasie plötzlich ein absurdes Bild Gestalt annehmen. Es zeigte Stamatis als Kleinkind – doch mit demselben knorrigen Gesicht, derselben gebückten Haltung, demselben dichten Haargestrüpp im Ohr –, das zum Küchentisch hochlangte und eine trockene Erbse aus einer Holzschüssel nahm. Er steckte sie sich in den Mund, fand sie zum Beißen zu hart und stopfte sie sich ins Ohr. Der Arzt kicherte. »Du musst als kleiner Junge ein ziemlicher Quälgeist gewesen sein.«
»Er war ein Teufel.«
»Halt deinen Mund, Frau, du hast mich damals ja noch gar nicht gekannt.«
»Ich hab’s von deiner Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig«, erwiderte die alte Frau, die schmollend den Mund verzog und die Arme verschränkte. »Und ich hab’s von deinen Schwestern.«
Dr. Iannis erwog das Problem. Er hatte es zweifellos mit einer widerspenstigen und störrischen Erbse zu tun, die zu fest im Ohr steckte, um sie einfach herauszustochern. »Hast du einen Angelhaken, etwa die Größe für eine Barbe, mit einem langen Ende? Und hast du ein Hämmerchen?«
Die Eheleute sahen sich an und hatten nur den einen Gedanken, dass ihr Doktor den Verstand verloren haben müsse. »Was hat das mit meinen Ohrenschmerzen zu tun?«, fragte Stamatis argwöhnisch.
»Du hast eine exorbitante auditive Störung«, versetzte der Arzt, sich stets der Notwendigkeit einer gewissen medizinischen Geheimniskrämerei bewusst, denn er war sich vollständig im Klaren darüber, dass er mit »eine Erbse im Ohr« wohl kaum Ehre eingelegt hätte. »Ich kann sie mit einem Angelhäkchen und einem Hämmerchen beseitigen; das ist die ideale Art, un embarras de petit pois zu beseitigen.« Er sprach die französischen Wörter mit geziertem Pariser Akzent aus, wenngleich nur ihm die Ironie klar war.
Das benötigte Werkzeug wurde prompt geholt. Der Arzt klopfte den Haken auf den Fliesen des Steinbodens sorgfältig gerade. Dann ordnete er an, der alte Mann solle seinen Kopf auf den lichtbeschienenen Sims legen. Stamatis gehorchte, verdrehte die Augen, und die alte Frau schlug die Hände vors Gesicht und spähte durch die Finger. »Beeile dich, Doktor«, rief Stamatis, »dieser Sims ist höllisch heiß.«
Der Arzt führte den gerade gebogenen Haken sorgfältig in die struppige Öffnung ein und hob das Hämmerchen, doch da wurde er durch ein heiseres Krächzen abgelenkt, das ihn stark an einen Raben erinnerte. Verstört und entsetzt rang die Alte die Hände und lamentierte: »Oh, oh, oh, du wirst ihm einen Angelhaken ins Gehirn treiben. Christus, erbarme dich unser, alle Heiligen und Maria mögen uns beschützen.«
Dieser Ausruf ließ den Arzt innehalten. Er dachte an die Möglichkeit, dass der Widerhaken, falls die Erbse sehr hart war, nicht eindringen, sondern die Erbse tiefer in den Gehörgang treiben würde. Das Trommelfell könnte sogar durchbohrt werden. Er richtete sich auf und zwirbelte mit dem Zeigefinger nachdenklich seinen weißen Schnurrbart. »Plan geändert«, verkündete er. »Ich habe nochmals nachgedacht und entschieden, es wäre besser, sein Ohr mit Wasser zu füllen und die impedimentale Okklusion aufzuweichen. Kyria, sorge dafür, dass dieses Ohr mit warmem Wasser gefüllt bleibt, bis ich heute Abend wiederkomme. Der Patient darf sich nicht rühren, er soll mit dem gefüllten Ohr auf der Seite liegenbleiben. Verstanden?«
Dr. Iannis kam um sechs Uhr wieder und spießte die aufgeweichte Erbse ohne Zuhilfenahme eines Hämmerchens erfolgreich auf. Er holte sie behutsam heraus und hielt sie dem Ehepaar zum Anschauen hin. Da sie mit dickem, dunklem Ohrenschmalz verkrustet war und faulig roch, war sie für keinen der beiden als Hülsenfrucht erkennbar. »Das ist sehr leguminös, nicht wahr?«, fragte der Arzt.
Die alte Frau nickte so beflissen, als hätte sie verstanden, was freilich nicht der Fall war, denn ihre Augen leuchteten vor Verwunderung auf. Stamatis schlug sich seitlich an den Kopf und rief aus: »Da drin ist’s kalt. Mein Gott, ist das laut. Ich meine, alles ist laut, sogar meine eigene Stimme.«
»Deine Taubheit ist geheilt«, verkündete Dr. Iannis. »Eine sehr gelungene Operation, meine ich.«
»Ich bin operiert worden«, sagte Stamatis höchst befriedigt. »Von allen Menschen, die ich kenne, bin ich der einzige, der operiert worden ist. Und jetzt kann ich hören. Es ist ein Wunder, ja genau. Mein Kopf fühlt sich leer und hohl an, mir ist so, als wär mein ganzer Kopf voller Quellwasser, kalt und klar.«
»Also, ist er nun leer oder voll?«, wollte die alte Frau wissen. »Red vernünftig, wenn der Doktor schon so nett war, dich zu heilen.« Sie ergriff Iannis’ Hand und küsste sie, und kurz darauf war er schon auf dem Heimweg, unter jedem Arm ein fettes Hühnchen und eine dunkel glänzende Aubergine in jeder Jackentasche. Die uralte Erbse trug er ins Taschentuch gewickelt bei sich, um sie seiner privaten medizinischen Sammlung hinzuzufügen.
Er war an diesem Tag üppig entlohnt worden, denn er hatte außerdem noch zwei prächtige große Langusten bekommen, einen Topf Sardellen, einen Topf mit Basilikum und ein Angebot zum Geschlechtsverkehr (nach seinem Belieben einzulösen). Er hatte aber beschlossen, dieses besondere Angebot nicht anzunehmen, selbst wenn das Salvarsan wirken würde. Er hatte noch den ganzen Abend vor sich, um an seiner Geschichte von Kephallonia zu schreiben, vorausgesetzt, Pelagia hatte daran gedacht, noch etwas Öl für die Lampen zu besorgen.
»Die neue Geschichte Kephallonias« war ziemlich problematisch. Es schien unmöglich, sie ohne Beimischung seiner eigenen Gefühle und Vorurteile zu schreiben. Objektivität war anscheinend nicht zu erreichen, und er hatte das Gefühl, seine misslungenen Anfänge hatten mehr Papier verschwendet, als auf der ganzen Insel normalerweise in einem Jahr verbraucht wurde. Die Stimme, die aus seinem Bericht klang, blieb hartnäckig seine eigene; sie war nie und nimmer die eines Historikers. Ihr fehlten Größe und Unparteilichkeit. Sie war nicht olympisch.
Er setzte sich hin und schrieb: »Kephallonia ist eine Fabrik, die Babys für den Export erzeugt. Im Ausland oder auf See gibt es mehr Kephallonier als zu Hause. Eine einheimische Industrie, die die Familien zusammenhielte, ist nicht vorhanden, es gibt nicht genügend Ackerland, und im Meer mangelt es an Fischen. Unsere Männer gehen ins Ausland und kehren nur zum Sterben zurück, und so leben wir auf einer Insel der Kinder, alten Jungfern, Priester und Greise. Das einzig Gute daran ist, dass nur die wirklich schönen Frauen unter den übrig gebliebenen Männern einen zum Heiraten finden, und so hat der natürliche Selektionsdruck dafür gesorgt, dass es bei uns die schönsten Frauen ganz Griechenlands und vielleicht des gesamten Mittelmeerraums gibt. Die Kehrseite ist, dass bei uns schöne und geistvolle Frauen mit den absonderlichsten und unpassendsten Männern verheiratet sind, die nie im Leben zu etwas taugen, und dass bei uns einige traurige und hässliche Frauen, die keiner will, zum Witwenstand verurteilt sind, ohne je einen Ehemann gehabt zu haben.«
Der Arzt stopfte sich seine Pfeife neu und las das Geschriebene durch. Er hörte, wie Pelagia draußen im Hof mit Töpfen klapperte, weil sie die Langusten kochen wollte. Er las, was er über die schönen Frauen geschrieben hatte, und erinnerte sich an seine Gattin, die so hübsch gewesen war wie nun ihre Tochter, aber trotz all seiner Bemühungen an Tuberkulose gestorben war. »Diese Insel betrügt ihre eigenen Leute schon in deren bloßem Dasein«, schrieb er, und dann knüllte er das Blatt zusammen und schmiss es in die Zimmerecke. So ging es nie und nimmer; warum konnte er nicht wie ein Historiker schreiben? Warum konnte er nicht leidenschaftslos schreiben? Ohne Zorn? Ohne dass sich ein Gefühl des Betrogenseins und der Bedrängnis einschlich? Er hob das Blatt auf, das er zuerst beschrieben hatte und das an den Ecken schon zerknittert war. Es war die Titelseite: »Die neue Geschichte Kephallonias«. Er strich die ersten beiden Wörter durch und ersetzte sie durch »Eine persönliche«. Jetzt brauchte er keine gefühlsbeladenen Adjektive und keinen uralten geschichtlichen Groll mehr wegzulassen, jetzt konnte er ätzend über die Römer, die Normannen, die Venezianer, die Türken, die Briten und sogar die Inselbewohner selbst herziehen. Er schrieb:
»Die halb vergessene Insel Kephallonia erhebt sich leichtsinnig und unbesonnen aus dem Ionischen Meer; es ist eine so ungeheuer geschichtsträchtige Insel, dass selbst die Felsen noch Nostalgie ausdünsten und die rote Erde nicht nur von der Sonne betäubt daliegt, sondern auch vom unsäglichen Gewicht der Erinnerung. Die Schiffe des Odysseus wurden aus kephallonischem Pinienholz gezimmert, seine Leibwächter waren kephallonische Riesen, und einige behaupten sogar, dass sein Palast nicht auf Ithaka, sondern auf Kephallonia stand.
Doch schon bevor dieser listige und weit gereiste König von Athene begünstigt wurde oder durch die unversöhnliche Bosheit Poseidons auf dem Meer umherirrte, hatten mesolithische und neolithische Menschen aus Obsidian Messerklingen geschlagen und Fischernetze ausgeworfen. Die mykenischen Hellenen kamen hier an und hinterließen die Scherben ihrer Amphoren und ihre brustförmigen Gräber, zeugten Nachkommen, die lange nach der Abreise von Odysseus für Athen kämpften, von Sparta tyrannisiert wurden und dann sogar den größenwahnsinnigen Philipp von Mazedonien besiegten, den Vater von Alexander, der merkwürdigerweise ›der Große‹ genannt wird, aber eigentlich ein noch eingebildeterer Megalomane war.
Diese Insel war ein Tummelplatz der Götter. Auf dem Gipfel des Berges Ainos stand ein Schrein für Zeus, und ein weiterer befand sich auf der winzigen Insel Thios. Demeter wurde verehrt, weil sie die Insel zum Brotkorb Ioniens gemacht hatte, desgleichen Poseidon, der Gott, der sie in Gestalt eines Hengstes vergewaltigt hatte, worauf sie ein schwarzes Pferd und eine mystische Tochter zur Welt brachte, deren Name verloren ging, als die Eleusinischen Mysterien durch die Christen unterdrückt wurden. Hier war Apollo, der Python erschlug, der Hüter des Nabels der Welt; er war schön, jugendlich, weise, gerecht, stark, hyperbolisch bisexuell und der einzige Gott, dem die Bienen einen Tempel aus Wachs und Federn bauten. Hier wurde auch Dionysos verehrt, der Gott des Weins, der Freude, der Zivilisation und der Vegetation, den Aphrodite zum Vater eines kleinen Jungen mit dem riesenhaftesten Penis machte, der je einen Menschen oder Gott belastete. Ihre Anbeter hatte hier auch Artemis, die vielbrüstige jungfräuliche Jägerin, eine Göttin von solch radikal frauenrechtlerischer Gesinnung, dass sie Aktaion, weil er sie zufällig nackt gesehen hatte, von Hunden in Stücke reißen und ihren Geliebten Orion von Skorpionen zu Tode stechen ließ, weil er sie aus Versehen berührt hatte. Sie war derart pingelig und pedantisch, was Sittsamkeit und summarische Züchtigung betraf, dass ganze Dynastien wegen eines ungebührlichen Wortes oder einer fünf Minuten zu spät dargebrachten Opfergabe ausgelöscht wurden. Es gab auch Tempel für Athene, die ewige Jungfrau, die (im Vergleich zu Artemis erst nach großer Überwindung) Teiresias blenden ließ, weil er sie nackt gesehen hatte, ein ungeheures Geschick in jenen Fertigkeiten bewies, die für die Wirtschaft und das häusliche Leben unverzichtbar sind, und die Schutzheilige der Ochsen, Pferde und Oliven war.
In der Wahl ihrer Götter bezeugten die Inselbewohner schon den ungeheuren und unerschütterlichen Gemeinsinn, der das Geheimnis ihres Überlebens durch all die Jahrhunderte gewesen ist; es liegt auf der Hand, dass der König der Gottheiten verehrt werden musste; es liegt auf der Hand, dass ein Volk von Seeleuten den Meeresgott besänftigen musste; es liegt auf der Hand, dass die Weinbauern Dionysos ehren mussten (es ist immer noch der häufigste Vorname auf der Insel); es liegt auf der Hand, dass Demeter dafür geehrt werden musste, dass die Insel sich selbst versorgen konnte, dass Athene für ihre Gaben der Weisheit und des Geschicks in den täglichen Lebensdingen verehrt werden musste, genauso wie es ihr oblag, über die unzähligen militärischen Streitfälle zu wachen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass Artemis ihren Kult hatte, denn das galt als unfehlbare Lebensversicherung; sie konnte einem gehörig zusetzen, und deshalb musste alles dafür getan werden, dass sie Schaden woanders anrichtete.
Dass Apollo auf Kephallonia seinen Kult hatte, ist gleichzeitig das größte wie das kleinste Geheimnis. Für diejenigen, die nie auf dieser Insel gewesen sind, ist es völlig unerklärlich, doch für diejenigen, die sie kennen, ist es ganz und gar unvermeidlich, denn Apollo ist ein Gott, der mit der Macht des Lichts in Verbindung steht. Fremde, die hier landen, sind zunächst zwei Tage lang geblendet.
Es ist ein Licht, das anscheinend weder aus der Luft noch aus der Stratosphäre kommt. Es ist völlig jungfräulich, erzeugt ein gestochen scharfes Bild und hat eine gewaltige Leuchtkraft. Es zeigt Farben in ihrem ursprünglichen Zustand vor dem Sündenfall, als kämen sie direkt aus Gottes Vorstellungskraft in Seinen frühesten Tagen, als Er noch glaubte, alles wäre gut. Das dunkle Grün der Pinien ist von einer unergründlichen Tiefe, das Meer ist, von einer Klippe aus betrachtet, platonisch in seiner Art, azur, chromgrün oder wie ein Türkis, Smaragd oder Lapislazuli zu schillern. Das Auge einer Ziege ist ein lebender Halbedelstein, etwa zwischen Bernstein und Arylid, und die Grillen sind vom leuchtenden Grün der frischesten Grashalme im Garten Eden. Sobald die Augen sich an die äußerst vestalische Keuschheit dieses Lichts gewöhnt haben, erscheint im Vergleich dazu das Licht an jedem anderen Ort kümmerlich und trüb – lediglich als etwas, was das Sehen ermöglicht, eine Enttäuschung, ein Makel. Selbst das Meerwasser Kephallonias ist durchsichtiger als andernorts die Luft; hier kann ein Mensch im Wasser treiben, zum Meeresboden hinabblicken und deutlich wehmütige Strahlen sehen, die aus unerfindlichen Gründen stets von kleinen Plattfischen begleitet sind.«
Der gelehrte Arzt lehnte sich zurück und las das eben Geschriebene durch. Es kam ihm wirklich sehr poetisch vor. Er las es nochmals und schwelgte in einigen Sätzen. Am Rande notierte er: »Dran denken, dass alle Kephallonier Dichter sind. Wo kann ich das einbringen?«
Er ging in den Hof hinaus und urinierte auf den Streifen mit der Pfefferminze. In einem strikten Turnus versorgte er die Gewürzpflanzen mit Stickstoff, und morgen würde der Oregano drankommen. Er kehrte gerade noch rechtzeitig ins Zimmer zurück, um Pelagias kleine Ziege dabei zu erwischen, wie sie seine Seiten mit offensichtlichem Behagen verzehrte. Er riss dem Tier das Papier aus dem Maul und jagte es wieder nach draußen. Es sprang zur Tür hinaus, um dann ungehalten hinter dem breiten Stamm des Olivenbaums zu meckern.
»Pelagia«, schimpfte der Arzt, »dein verdammter Wiederkäuer hat alles aufgefressen, was ich heute Abend geschrieben habe. Wie oft muss ich dir noch sagen, das Vieh nicht reinzulassen? Wenn das noch mal vorkommt, wird es am Spieß enden. Das ist mein letztes Wort. Es ist schon schwer genug, bei der Sache zu bleiben, ohne dass dieses Tier alles sabotiert, was ich mir ausgedacht habe.«
Pelagia blickte lächelnd zu ihrem Vater hoch. »Wir werden um etwa zehn Uhr essen.«
»Hast du mir überhaupt zugehört? Ich habe gesagt, keine Ziegen mehr im Haus, kapiert?«
Sie hielt beim Aufschneiden einer Peperoni inne, strich sich eine störrische Strähne aus dem Gesicht und erwiderte: »Du magst sie so gern wie ich.«
»Erstens mag ich diesen Wiederkäuer nicht, und zweitens hast du mir keine Widerworte zu geben. Zu meiner Zeit hat keine Tochter sich ihrem Vater widersetzt. Ich dulde das nicht.«
Pelagia stemmte eine Hand in die Hüfte und verzog das Gesicht. »Papas«, sagte sie, »es ist immer noch deine Zeit. Du bist doch noch nicht tot, oder? Jedenfalls mag dich die Ziege.«
Dr. Iannis gab sich geschlagen und räumte das Feld. Es war wirklich der Gipfel, wenn die eigene Tochter ihre weibliche Tücke gegen ihn ausspielte und ihn dabei noch an ihre Mutter erinnerte. Er ging zurück an seinen Tisch und nahm sich ein neues Blatt Papier vor. Ihm fiel wieder ein, dass er in seinem letzten Schreibversuch vom Thema Götter auf das Thema Fische gekommen war. Aus literarischer Sicht geschah es ihm recht, dass die Ziege das Blatt gefressen hatte. Nun schrieb er: »Nur eine so unverschämte Insel wie Kephallonia kann die Unverfrorenheit besitzen, sich auf einer Verwerfungslinie niederzulassen, die sie der ständigen Gefahr von verheerenden Erdbeben aussetzt. Nur eine so unbekümmerte Insel wie diese wehrt sich nicht gegen eine Invasion gleichgültiger und aufdringlicher Ziegen.«