Schnecken

Der Arzt blickte aus dem Fenster und sah Hauptmann Corelli, der auf Lemoni zuschlich, um sie zu überraschen. Zur gleichen Zeit sprang Psipsina mit allen vieren auf die Seite, die er gerade über die französische Besetzung schrieb, und diese beiden Umstände zusammen gaben ihm eine wunderbare Idee ein. Er legte seinen Füller hin und begab sich in das Sonnenlicht des Frühnachmittags hinaus.

»Fischio!«, rief der Hauptmann, und Lemoni kreischte auf.

»Entschuldigt, Kinder«, sagte der Arzt.

»Ah«, sagte Corelli, der sich linkisch aufrichtete. »Kalispera, Iatre. Ich habe gerade …«

»Gespielt?« Er wandte sich an das Mädchen. »Koritsimou, erinnerst du dich noch, wie du Psipsina gefunden hast, als sie noch ganz klein war und im Zaun gehangen hat? Und wie du mich geholt hast, um sie zu retten?«

Lemoni bejahte mit wichtiger Miene, und der Arzt fragte: »Gibt es dort noch so viele Schnecken?«

»Ja«, sagte sie. »Ganz viele. Ganz große.« Sie zeigte auf Corelli. »Noch größer als er sogar.«

»Wann ist die beste Zeit, um sie zu finden?«

»Früh und spät.«

»Aha. Kannst du heute Abend herkommen und mir noch mal zeigen, wo sie sind?«

»Am besten, wenn’s schon dunkel ist.«

»Wir können da nicht mehr rausgehen, es herrscht Ausgangssperre.«

»Worum ging es denn?«, wollte der Hauptmann wissen, als Lemoni gegangen war.

Der Arzt erwiderte steif: »Wir haben es Ihnen zu verdanken, dass es kaum noch etwas zu essen gibt. Wir gehen heute Abend raus, um Schnecken zu suchen.«

Der Hauptmann warf sich in die Brust. »Die Blockade machen die Briten. Sie meinen, dass sie Ihnen am besten helfen können, wenn sie Sie hungern lassen. Wie Sie sehr wohl wissen, habe ich mein Bestes getan, um zu helfen.«

»Das, was Sie auf Kosten der Armee besorgen, schätzen wir sehr, doch es ist bedauerlich, dass sich diese Situation überhaupt ergibt. Wir brauchen das Protein. Sie sehen ja, in was für einem Zustand wir sind.«

»Bei uns daheim sind Schnecken ein teurer Luxus.«

»Und bei uns hier sind sie eine bedauerliche Notwendigkeit.«

Der Hauptmann wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Gestatten Sie mir, dass ich mitkomme und helfe.«

Am Abend, eine Stunde vor Sonnenuntergang, als die Luft schon kühler geworden war, krochen also Pelagia und ihr Vater, Lemoni und der Hauptmann durch das unzugängliche Gewirr aus Wildwechseln und Dornbüschen, nachdem sie über die bröckelige Mauer geklettert waren und sich unter den Zweigen uralter und ungepflegter Olivenbäume einen Weg gebahnt hatten.

Der Arzt kroch hinter Lemoni, die plötzlich innehielt und sich zu ihm umblickte: »Du hast gesagt«, tadelte sie ihn, »dass du weggebracht und eingesperrt wirst, wenn du Schnecken suchen gehst.«

»Piräus«, erklärte der Arzt. »Ich hab gesagt, ich würde nach Piräus gebracht werden. Aber heutzutage sind wir sowieso alle eingesperrt.«

Im Zwielicht zeigte sich, dass es auf den Unterseiten der

Das Kind und die drei Erwachsenen waren so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie nicht merkten, wie sie voneinander getrennt wurden. Der Arzt und Lemoni verschwanden in einem Gang und der Hauptmann und Pelagia in einem anderen. Irgendwann fiel dem Hauptmann auf, dass er ganz allein war, und er hielt einen Augenblick inne, um über die merkwürdige Tatsache nachzudenken, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er sich je so zufrieden gefühlt hatte. Er bedauerte leichthin, wie seine Hose an den Knien aussah, und blinzelte zur Sonne hoch, deren rotes Licht weich auf den Zweigen und Blättern lag. Er atmete tief durch, seufzte und ruhte sich auf den Fersen aus. Mit dem Zeigefinger stupste er eine Schnecke an, die aus dem Eimer zu kriechen versuchte. »Böse Schnecke«, sagte er und war erleichtert, dass niemand in der Nähe war, der ihn solche Albernheiten von sich geben hörte. In der Ferne belferte eine Flak, und er zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war es weiter nichts.

»Au, o nein«, ertönte eine Stimme aus der Nähe, die zweifellos Pelagia gehörte. »Oh, verflixt noch mal.«

Von dem schrecklichen Gedanken verstört, dass sie vielleicht von einem fallenden Granatsplitter getroffen worden war, kroch der Hauptmann auf allen vieren rasch auf den Platz zu, von dem der Ausruf gekommen war.

Er fand Pelagia, die in verdrehter Haltung mit zurückgebogenem Hals offenbar festhing. Sie war auf Händen und Knien,

»Mein Haar hat sich verfangen«, erwiderte sie ungehalten. »Ein Dorn hat mir die Backe geritzt, und ich habe meinen Kopf herumgerissen, und dann bin ich mit dem Haar in diesem Gestrüpp hängengeblieben. Ich krieg’s nicht wieder los. Ach, lachen Sie doch nicht.«

»Ich lache doch nicht«, sagte er lachend. »Ich hatte Angst, Sie wären verwundet.«

»Ich bin verwundet. Meine Backe brennt.«

Corelli langte in die Tasche nach einem Taschentuch und tupfte die Schramme ab. Er zeigte ihr das Blut und sagte leichtfertig: »Das werde ich ewig in Ehren halten.«

»Wenn Sie mich nicht losmachen, werde ich Sie umbringen. Hören Sie doch auf zu lachen.«

»Wenn ich Sie nicht losmache, werden Sie mich nie erwischen, um mich umzubringen, oder? Halten Sie still.« Er war gezwungen, die Hände über ihre Schultern auszustrecken und an ihrem Ohr vorbeizuspähen, um zu sehen, was er tat. Sie spürte, wie ihr Gesicht gegen seine Brust gedrückt wurde, und nahm das grobe Gewebe und das staubige Aroma seiner Uniform wahr. »Sie zerquetschen mir die Nase«, protestierte sie.

Corelli schnupperte anerkennend; Pelagia roch stets nach Rosmarin. Es war ein junger, frischer Geruch, der ihn an Festmahle daheim erinnerte. »Ich werde es wohl abschneiden müssen«, sagte er, vergeblich an den schwarzen Strähnen ziehend, die sich um die Dornen gewunden hatten.

»Au, au, ziehen Sie nicht so daran, seien Sie doch vorsichtig. Und Sie werden es nicht abschneiden.«

»Sie sind in einer sehr verletzlichen Lage«, bemerkte er, »also versuchen Sie gefälligst, sich dankbar zu geben.« Er

Sie berührte die geküsste Stelle mit den Fingerspitzen und sagte vorwurfsvoll: »Das hätten Sie nicht tun sollen.«

Er setzte sich auf die Knie und hielt sie mit seinem Blick fest. »Ich konnte nicht anders.«

»Sie haben die Situation ausgenützt.«

»Ich entschuldige mich.« Sie sahen einander lange an, und dann, aus ihr selbst unerfindlichen Gründen, fing Pelagia an zu weinen.

»Was ist los? Was ist los?«, fragte Corelli, das Gesicht voller Sorgenfalten. Pelagias Tränen kullerten die Wangen herab und fielen in den Eimer zu den Schnecken. »Sie ertränken sie«, sagte er, mit dem Finger darauf deutend. »Was ist los?«

Sie lächelte kläglich und weinte weiter. Er nahm sie in die Arme und tätschelte ihren Rücken. Sie merkte, dass ihr die Nase lief, und bekam Angst, dass Schleim auf die Epaulette seiner Uniform tropfen könnte. Sie schniefte fest, um dem zuvorzukommen. Plötzlich platzte sie los: »Ich halt es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr. Es tut mir leid.«

»Alles ist lausig«, pflichtete ihr der Hauptmann bei und fragte sich, ob er auch der Versuchung zu weinen nachgeben sollte. Er nahm ihren Kopf sanft in die Hände und drückte die Lippen auf ihre Tränen. Sie sah ihn verwundert an, und auf einmal – mitten im Dornengestrüpp, bei Sonnenuntergang, von zwei Eimern mit davonkriechenden Schnecken flankiert, mit verdreckten und aufgeriebenen Knien – fanden