»Es stimmt, Antonio, einige deiner Männer machen irgendwelche Schiebereien, und nach meiner Ansicht und der meiner Offizierskollegen wirft das ein schlechtes Licht auf dich. Nicht auf dich persönlich, aber auf die italienische Armee. Es ist so skandalös wie diese Schmähschrift über den Duce, die alle lesen. Es ist Ausdruck des gleichen Missstandes.«
Corelli wandte sich an Carlo: »Stimmt das, was Günter sagt?«
»Frag mich nicht. Du müsstest einen Griechen fragen.«
»Iatre«, rief Corelli. »Stimmt das?«
Der Arzt kam aus der Küche, wo er sorgfältig die Klingen alter Skalpelle an einem Wetzstein geschliffen hatte, und fragte: »Stimmt was?«
»Dass einige unserer Soldaten den Hungernden mit Lebensmittelkarten Waren abkaufen, und dann kommen andere Leute her und konfiszieren die Karten wieder, weil sie illegal erworben wurden.«
»Das sind nicht ›andere Leute‹«, sagte der Arzt. »Es ist nur die andere Hälfte derselben Bande. Der Kreis schließt sich perfekt. Letzte Woche hat es Stamatis erwischt. Er hat eine wertvolle Uhr und zwei silberne Kerzenhalter verloren und stand am Ende ohne Lebensmittelkarten und mit so leerem Magen wie zuvor da. Sehr raffiniert.« Der Arzt wandte sich schon um, hielt dann aber inne. »Und noch etwas: Eure Soldaten stehlen von den Gemüsebeeten der Leute. Als ob wir nicht alle Hungers sterben würden.«
»Wir Deutschen tun das nicht«, warf Günter selbstgefällig ein und konnte sich einer gewissen Schadenfreude auf Corellis Kosten nicht enthalten.
»Die Deutschen können nicht singen«, konterte Corelli ausweichend, »und überhaupt, ich werde der Sache nachgehen und für Abhilfe sorgen. Das ist zu arg.«
Weber lächelte: »Du legst dich für die Rechte der Griechen ganz schön ins Zeug. Ich frage mich manchmal, ob du begreifst, warum du hier bist.«
»Ich bin nicht hier, um mich schweinisch aufzuführen«, sagte Corelli, »und ganz offen gesagt, mir behagt das alles nicht. Ich versuche, es als Urlaub zu sehen. Ich habe nicht diese Überlegenheit wie du, Günter.«
»Überlegenheit?«
»Ja. Ich habe nicht diese Überheblichkeit, dass ich andere Rassen für minderwertiger als meine halte. Ich fühle mich nicht dazu berechtigt, das ist es.«
»Da geht es doch um Wissenschaft«, meinte Weber. »Wissenschaftliche Tatsachen lassen sich nicht ändern.«
Corelli runzelte die Stirn. »Wissenschaft? Die Marxisten halten sich auch für Wissenschaftler und glauben genau das Gegenteil von dem, was du glaubst. Die Wissenschaft ist mir egal. Sie tut nichts zur Sache. Moralische Grundsätze sind unveränderlich, aber wissenschaftliche Tatsachen nicht.«
»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Weber gutmütig. »Für mich ist es offensichtlich, dass die Ethik sich so wie die Wissenschaft im Lauf der Zeit ändert. Die Ethik hat sich aufgrund der Theorien von Darwin geändert.«
»Du hast recht, Günter«, warf Carlo ein, »aber deshalb muss es niemand gutheißen. Ich mag es nicht, genauso wenig Antonio, das ist es. Und die Wissenschaft beschäftigt sich mit Fakten, die Moral aber mit Werten. Das ist nicht das Gleiche und lässt sich auch nicht vereinbaren. Auf dem Objektträger eines Mikroskops findest du keinen Wert. Es mag ja stimmen, dass die Juden beispielsweise böse oder minderwertig sind, wie soll ich das wissen? Aber wieso muss das bedeuten, dass wir sie ungerecht behandeln sollen? Ich verstehe den Gedankengang nicht.«
»Erinnerst du dich noch«, sagte Weber und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »wie du eine Pistole auf mich gerichtet hast, als ich den Baummarder wegen seines Fells erschlagen wollte? Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich habe ja nicht gewusst, dass es ein Haustier ist. Vor einer Pistole konnte ich nicht argumentieren. Das ist die neue Moral. Stärke benötigt keine Entschuldigung und muss keine Begründungen liefern. Das ist Darwinismus, wie gesagt.«
»Sie muss die Begründungen der Geschichte überlassen«, meinte Corelli, »sonst ist sie zu verurteilen. Es geht auch darum, mit sich selbst im Reinen zu sein. Erinnerst du dich, als dieser Kanonier jenes Mädchen, das durch das vermeintliche Wunder geheilt worden ist, vergewaltigen wollte? Mina, so hieß sie. Weißt du, warum ich das getan habe?«
»Du meinst, als du ihn bis auf einen Stahlhelm und einen Rucksack unbekleidet in der Sonne hast strammstehen lassen?«
»Es war ein Rucksack voller Steine. Ja. Ich habe es getan, weil ich mir vorgestellt habe, dass diese Frau meine Schwester wäre. Ich habe es getan, weil ich mich sehr viel wohler fühlte, als er gut durchgebraten war. Das ist meine Moral. Ich gebe mich der Vorstellung hin, dass sie etwas Persönliches ist.«
»Du bist ein guter Mensch«, sagte Günter.
»Übrigens habe ich dich daran gehindert, Psipsina zu erschlagen, weil ich dein Leben retten wollte«, sagte Corelli. »Ich habe dich aufgehalten, weil dich Pelagia sonst umgebracht hätte.«
»Aaargh«, stöhnte Weber, wobei er so tat, als würde er sich erwürgen. »Wo ist Pelagia? Ich habe gedacht, sie mag unseren Gesang.«
»Das tut sie auch, aber es ist ihr peinlich, die einzige Frau in einer Horde von Jungen zu sein. Ich schätze, sie hört in der Küche zu.«
»Nein, das tu ich nicht«, rief sie.
»Ah«, sagte Weber, »da sind Sie ja. Antonio hat gerade vorgeschlagen, wir sollten einige Mädel von der Casa Rosetta mitbringen, um das Geschlechterverhältnis auszugleichen. Was halten Sie davon?«
»Mein Vater würde ›La Scala‹ vor die Tür setzen, und ihr müsstet wieder auf der Latrine singen.«
»Wir könnten aber mit zwei Panzerwagen anrücken«, sagte Weber. Er blickte sich um und sah kein Gesicht, das über seine Bemerkung lächelte. »Nur ein kleiner Scherz.«
»Unsere Panzerwagen würden den Hügel gar nicht raufkommen«, sagte einer der Baritone. »Wir müssten uns welche von euch ausleihen.«
»Lügen und Verleumdungen«, ereiferte sich ein Tenor. »Sie laufen einwandfrei, wenn die Panzerung weg ist. Kommt, jetzt singen wir was.«
»La Giovinezza«, schlug Weber begeistert vor, und alle anderen stöhnten. »Schon gut, schon gut, ich hole mein Grammophon aus dem Wagen, und wir können alle mit Marlene singen.«
»Und danach können wir Liebeslieder singen«, sagte Corelli, »weil heute ein wunderschöner Abend ist, und alles ist so friedlich, da sollten wir uns doch etwas romantisch geben.«
Weber ging zu seinem Kübelwagen und kehrte voll Besitzerstolz mit seinem Grammophon zurück. Er stellte es auf den Tisch und legte die Nadel auf. Es kam ein Geräusch wie fernes Meeresrauschen, und dann ertönten die ersten markigen Takte von Lili Marken. Die Dietrich fing an zu singen, ihre Stimme voll träger Melancholie, Mondänität, trauriger Erkenntnis und Sehnsucht nach Liebe. »Oh«, rief Weber, »sie ist die Inkarnation des Erotischen. Vor ihr schmelze ich dahin.«
Einige der Jungen fielen in das Lied mit ein, und Corelli nahm die Melodie mit seiner Mandoline auf. »Antonia mag das«, sagte er, »Antonia wird singen.« Er fügte ein paar Schnörkel ein und füllte mit rascher Fingerfertigkeit die Notenintervalle. Bei der letzten Strophe verfiel er in ein Tremolo, das eine Oberstimme über die Musik legte, sie mit leichten Glissandi, Pausen und Ritardandi verschönerte und ehrgeizig zum höchsten und dünnsten Ton des Instruments hochstieg, bis es dann wohltönend auf die sonore Mittellage der dritten und vierten Saite zurückfiel. Die Leute im Dorf ließen alles stehen und liegen und lauschten Corelli, der die Nacht zum Klingen brachte. Als die Musik aufhörte, seufzten sie, und Kokolios sagte zu seiner Frau: »Der Mann ist verrückt, und er ist ein Spaghetti, aber er hat Nachtigallen in seinen Fingern.«
»Es ist besser, als die ganze Nacht auf dein Schnarchen und Furzen zu hören«, meinte sie.
»Ein proletarischer Furz ist eine herrlichere Musik als ein bourgeoises Lied«, bemerkte er, worauf sie das Gesicht verzog und erwiderte: »Das hättest du wohl gern.«
Pelagia kam aus der Küche, ihre schlanke Silhouette erschien geisterhaft im trüben Licht der Kerzen drinnen. »Bitte, spiel das noch mal«, verlangte sie. »Es war so wunderschön.« Sie trat an Webers Grammophon und strich über das polierte Holz. Das Gerät war wie Corellis Motorrad ein weiteres Wunder der modernen Welt, das bis zu den Kriegsjahren nicht zur Welt Kephallonias gehört hatte. Es war etwas Erlesenes und Prächtiges inmitten des Verlusts und der Trennung, der Entbehrung und Angst.
»Mögen Sie es?«, fragte Weber, und sie nickte sehnsüchtig. »Na schön«, fuhr er fort. »Wenn ich nach dem Krieg heimfahre, werde ich es Ihnen hinterlassen. Sie können es haben. Es würde mich sehr freuen, und Sie werden immer an Günter denken. Ich kann in Wien leicht ein anderes finden, und Sie können es als Entschuldigung an Psipsina annehmen.«
Pelagia war gerührt und fast außer sich vor Freude. Sie schaute den lächelnden Jüngling mit der schmucken Uniform, dem gestutzten ausgeblichenen Haar und den braunen Augen an und war voll freudiger Dankbarkeit. »Sie sind so süß«, sagte sie und küsste ihn ganz ungeniert auf die Wange. Die Jungen von »La Scala« jubelten, Weber errötete und hielt sich die Hände vor die Augen.