Der Arzt und der Hauptmann saßen drinnen am Küchentisch. Corelli entfernte eine gerissene Saite von seiner Mandoline und beklagte sich darüber, dass neue Saiten unmöglich zu bekommen waren.
»Wie wär’s mit Chirurgendraht?«, erkundigte sich der Arzt, der sich vorbeugte und die kaputte Saite durch die Brille betrachtete. »Ich glaube, ich habe welchen von der gleichen Stärke.«
»Er muss genau richtig sein«, erwiderte Corelli. »Wenn er zu dick wäre, müsste ich ihn straffer spannen, als es das Instrument aushält. Wenn er zu dünn ist, bleibt er zu schlaff, um einen anständigen Ton hervorzubringen, und schlägt an die Bünde.«
Der Arzt lehnte sich zurück und seufzte. Plötzlich fragte er: »Haben Sie und Pelagia vor, zu heiraten? Als ihr Vater glaube ich ein Recht zu haben, es zu erfahren.«
Der Hauptmann war von der Offenheit der Frage so verblüfft, dass er viel zu fassungslos war, um zu antworten. Alles hatte sich nur auf der Grundlage entwickeln können, dass niemand die Angelegenheit offen ansprach; es ging überhaupt nur unter der stillschweigenden Voraussetzung gut, dass es sich um ein dunkles Geheimnis handelte, das jeder kannte. Er sah den Arzt entsetzt an, sein Mund klappte wortlos auf und zu wie bei einem unachtsamen Fisch, den eine Welle unvermutet auf eine Sandbank gespült hat.
»Sie können hier nicht leben«, sagte der Arzt. Er deutete auf die Mandoline. »Wenn Sie Musiker sein wollen, ist hier der allerletzte Ort für Sie. Sie müssten nach Hause gehen oder nach Amerika. Und ich glaube nicht, dass Pelagia in Italien leben könnte. Sie ist Griechin. Sie würde eingehen wie eine Blume, die kein Licht bekommt.«
»Ah«, brachte der Hauptmann heraus, weil ihm auf Anhieb keine geistreiche Bemerkung einfiel.
»Es stimmt«, meinte der Arzt. »Wusste ich es doch, dass Sie das nicht bedacht haben. Italiener handeln immer, ohne zu denken, das ist der Ruhm und Untergang Ihrer Kultur. Ein Deutscher plant einen Monat im Voraus, wie seine Verdauung zu Ostern sein wird, und die Briten planen alles im Nachhinein, sodass es immer so ausschaut, als wäre alles wie beabsichtigt eingetroffen. Die Franzosen planen alles, während es so aussieht, als feierten sie ein Fest, und die Spanier … Na ja, weiß Gott, was die machen. Jedenfalls ist Pelagia Griechin, das ist der Punkt. Kann es also gut gehen? Selbst wenn wir die offensichtliche Undurchführbarkeit außer Acht lassen?«
Der Hauptmann wickelte die Saite von dem Wirbel ab und erwiderte: »Das ist nicht der Punkt, mit Verlaub. Es ist etwas Persönlicheres. Im Vertrauen gesagt, Dottore: Pelagia hat mir gestanden, dass Sie und ich einander sehr ähnlich sind. Ich bin von meiner Musik besessen und Sie von Ihrer Medizin. Wir sind beide Männer, die sich einen Lebenszweck geschaffen haben, und wir beide kümmern uns nicht viel um das, was andere von uns halten. Sie ist nur fähig gewesen, sich in mich zu verlieben, weil sie zuerst gelernt hat, einen anderen Mann, der mir gleicht, zu lieben. Und dieser Mann sind Sie. Ob Grieche oder Italiener, ist also unerheblich.«
Der Arzt war von dieser Annahme so gerührt, dass er einen Kloß in die Kehle bekam. Er würgte ihn hinunter und sagte: »Sie verstehen uns nicht.«
»O doch, das tu ich.«
Dr. Iannis wurde etwas gereizt und deshalb ein wenig heftig. »Aber das tun Sie nicht. Glauben Sie, Sie werden ein nettes, zugängliches Mädchen bekommen und alle Wege werden mit Rosen bestreut sein? Erinnern Sie sich nicht mehr daran, wie Sie mich gefragt haben, warum alle Griechen lächeln, wenn sie wütend sind? Also lassen sie mich Ihnen mal was sagen, junger Mann. Jeder Grieche, ob Mann, Frau oder Kind, hat zwei Griechen in sich. Es gibt sogar spezielle Ausdrücke dafür. Sie sind ein Teil von uns, so unvermeidlich wie die Tatsache, dass wir alle Gedichte schreiben und dass jeder von uns glaubt, er weiß alles, was es zu wissen gibt. Wir alle sind Fremden gegenüber gastfreundlich, wir alle haben Sehnsucht nach etwas, unsere Mütter behandeln ihre erwachsenen Söhne wie Babys, wir alle hassen die Einsamkeit, wir alle versuchen, von einem Fremden herauszufinden, ob wir nicht mit ihm verwandt sind, wir alle benutzen sämtliche langen Wörter, die wir kennen, wo immer möglich, wir alle gehen am Abend spazieren, damit wir bei den anderen über den Zaun spähen können, wir alle meinen, wir sind den Besten ebenbürtig. Verstehen Sie?«
Der Hauptmann war verwirrt. »Sie haben mir noch nichts von den zwei Griechen in jedem Griechen erzählt.«
»Habe ich das nicht? Nun, ich muss vom Thema abgekommen sein.« Der Arzt erhob sich und schritt auf und ab, wobei er mit der rechten Hand beredt gestikulierte und mit der linken seine Pfeife hielt. »Schauen Sie, ich bin auf der ganzen Welt herumgekommen. Ich habe Santiago de Chile gesehen, Schanghai, Stockholm, Addis Abeba, Sydney, alles. Und während dieser ganzen Zeit habe ich den Arztberuf erlernt, und ich kann Ihnen sagen, dass kein Mensch so sehr er selbst ist, als wenn er krank oder verletzt ist. Da zeigen sich die wahren Eigenschaften. Und ich bin fast immer auf Schiffen gewesen, deren Besatzungen hauptsächlich aus Griechen bestanden. Verstehen Sie? Wir sind ein Volk von Exilanten und Seefahrern. Ich will damit sagen, dass ich besser als die meisten darüber Bescheid weiß, wie ein Grieche ist.
Ich werde Ihnen zuerst vom Hellenen erzählen. Der Hellene hat eine Eigenschaft, die wir ›Sophrosyne‹ nennen. Dieser Grieche vermeidet jedes Übermaß, kennt seine Grenzen, unterdrückt die Gewalttätigkeit in sich, sucht Harmonie und kultiviert ein Gefühl der Ausgewogenheit. Er glaubt an die Vernunft, ist der geistige Erbe von Platon und Pythagoras. Diese Griechen hüten sich vor ihrer natürlichen Impulsivität und der Liebe zur Veränderung um der Veränderung willen, und sie beherrschen sich selbst, damit ihnen nicht die Gäule durchgehen. Sie lieben die Bildung um ihrer selbst willen, achten nicht auf Macht und Geld, wenn sie den Wert eines anderen einschätzen, halten sich streng ans Gesetz, meinen, dass Athen der einzige wichtige Ort auf der Welt ist, verabscheuen unehrliche Kompromisse und halten sich für die Quintessenz Europas. Das stammt aus dem Blut unserer antiken Vorfahren, das immer noch in uns fließt.«
Er verstummte, paffte an seiner Pfeife und fuhr dann fort: »Doch Seite an Seite mit dem Hellenen müssen wir mit den Romoi leben. Vielleicht sollte ich Sie darauf hinweisen, Hauptmann, dass dieses Wort ursprünglich ›Römer‹ bedeutete, und es bezeichnet Eigenschaften, die wir von Ihren Vorfahren erlernt haben, die in den Hunderten von Jahren ihrer Herrschaft keine einzige technische Weiterentwicklung zustande gebracht und ganze Völker unter völliger Missachtung der Moral versklavt haben. Die Romoi sind Ihren Faschisten sehr ähnlich, also müssten Sie mit ihnen vertraut sein, nur kommt es mir so vor, als hätten Sie persönlich keins von deren Lastern übernommen. Die Romoi improvisieren, sie streben nach Geld und Macht, sind nicht rational, weil sie nach Intuition und Instinkt handeln, sodass sie alles zu einem Kuddelmuddel machen. Sie zahlen keine Steuern und gehorchen nur dem Gesetz, wenn sie keine andere Wahl mehr haben, sie betrachten Bildung nur als Mittel, um voranzukommen, werden ein Ideal stets ihrer Selbstsucht opfern, betrinken sich, tanzen und singen gern und schlagen sich den Schädel mit Flaschen ein. Und sie befleißigen sich einer Bösartigkeit und Brutalität, von denen Ihre Vergasung von Eingeborenen in Äthiopien und Ihre Bombardierung von Feldspitälern des Roten Kreuzes auf sehr unschöne Weise einen Begriff geben. Der einzige Berührungspunkt dieser beiden Seiten eines Griechen ist die Stelle mit der Aufschrift ›Patriotismus‹. Romoi und Hellene werden beide freudig für Griechenland sterben, nur wird der Hellene klug und human kämpfen, während der Romoi mit allen Schikanen und Unmenschlichkeiten vorgehen und freudig das Leben seiner eigenen Männer opfern wird, ganz wie Ihr Mussolini. Tatsächlich bemessen sie ihren Ruhm nach der Zahl der in den Tod Geschickten, und ein Sieg ohne Blutvergießen ist eine Enttäuschung.«
Der Hauptmann setzte eine äußerst skeptische Miene auf. »Aber was wollen Sie mir sagen? Heißt das, Pelagia hat eine Seite, die ich nicht kenne und die mich sehr schockieren würde, wenn ich sie kennenlernte?«
Der Arzt beugte sich vor und hob mahnend den Zeigefinger. »Genau das ist es. Und noch etwas: Ich habe auch diese Seite. Sie haben sie nie gesehen, aber ich schon.«
»Mit Verlaub, Dottore, das glaube ich nicht.«
»Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie das nicht tun. Aber in meinen lichteren Momenten sehe ich die ganze Wahrheit vor mir.«
Schweigen herrschte zwischen den beiden Männern, und der Arzt setzte sich an den Tisch, um seine widerspenstige Pfeife mit ihrer abstoßenden Mischung aus Huflattich, Rosenblüten und anderen Kräutern neu anzuzünden, die nicht im Entferntesten etwas mit Tabak zu tun hatte. Er hustete und spuckte heftig.
»Ich liebe sie«, sagte Corelli schließlich, als ob dies die Antwort auf alle Probleme wäre, und für ihn war es auch so. Er hatte einen Verdacht. »Es ist doch nicht so, dass Sie sie ungern gehen lassen, oder? Wollen Sie mir den Mut rauben?«
»Sie müssten hier leben, das ist alles. Wenn sie nach Italien ginge, würde sie vor Heimweh sterben. Ich kenne meine Tochter. Sie müssten zwischen der Liebe zu ihr und der Musikerlaufbahn wählen.«
Der Arzt verließ das Zimmer, mehr der dramatischen Wirkung als eines anderen Zweckes wegen, und kam dann wieder herein. »Und noch etwas. Dies ist ein sehr altes Land, und wir hatten zweitausend Jahre lang nichts als Gemetzel. Opfer, Kriege, Morde, lauter schlimme Tode. Bei uns gibt es so viele Orte voll bitterer Geister, dass jeder, der sich ihnen nähert oder dort lebt, herzlos oder wahnsinnig wird. Ich glaube nicht an Gott, Hauptmann, und bin auch nicht abergläubisch, aber ich glaube an Geister. Auf dieser Insel gab es Massaker in Sami und Fiskardo und Gott weiß wo noch. Es wird weitere geben. Es ist nur eine Frage der Zeit. Also nehmen Sie sich nichts vor.«