Die unergründlichen Ziegen auf dem Berg Ainos stellten sich in den Wind und sogen im Morgengrauen die Meeresdünste auf, die in diesem trockenen, wilden und unwirtlichen Land das Wasser ersetzten. Ihr Hirte Alekos, der so wenig an menschliche Gesellschaft gewöhnt war, dass ihm sogar beim Selbstgespräch die Worte fehlten, regte sich unter seinen Felldecken, streckte die Hand vergewissernd nach dem Schaft seines Gewehrs aus und fiel wieder in Schlaf. Es blieb noch genug Zeit zum Wachsein, zum Verzehren eines mit Oregano bestreuten Brots und zum Zählen seiner Herde, um sie dann auf einen neuen Weidegrund zu treiben. Sein Leben war zeitlos, er hätte auch einer seiner Vorfahren sein können, und auch seine Ziegen würden sich so verhalten, wie kephalonische Ziegen es schon immer getan hatten; sie würden sich mittags an den steilen Nordhängen der Felsen vor der Sonne verstecken und schlafen, und am Abend waren ihre laut tönenden Glocken wohl noch auf Ithaka zu hören, von der stummen Luft hinübergeweht, und die Dorfbewohner in der Ferne mochten aufblicken und sich wundern, welche Herde in der Nähe vorbeizog. Alekos war ein Mann, der mit sechzig derselbe sein würde wie mit zwanzig, dünn und stark, von bewundernswerter Zähigkeit und Ausdauer, so wenig zur Sprunghaftigkeit fähig wie seine Ziegen.
Weit unter ihm stieg feiner Rauch kerzengerade in die Luft, weil es in einem Tal brannte. Es war unbewohnt, und die Macchia flammte ungehindert auf, nur von denen mit Sorge betrachtet, die fürchteten, dass Wind aufkommen könnte, der die Funken zu den wertvollen Flächen um ihre Behausungen, zu ihren Kräutern oder ihren winzigen steinigen Feldern tragen könnte, die von den im Lauf der Jahrhunderte aufgehäuften Felsbrocken umringt waren. Sie waren an passender Stelle zu Wällen zusammengetragen worden, die bei jeder Berührung wackelten, aber nur bei Erdbeben einfielen. Weil die Griechen die Farbe der Jungfräulichkeit liebten, waren viele Wälle weiß gestrichen, als genügte die blendende Helligkeit der Sonne noch nicht. Ein umherstreifender Patriot hatte auf die meisten in Türkis ENOSIS gemalt, und kein Kephallonier hatte sich veranlasst gesehen, ihre ursprüngliche Reinheit wiederherzustellen. Jeder Wall erinnerte sie wohl an ihre Zugehörigkeit zu einer Familie, die von den anomalen Grenzen uralter rivalisierender Reiche auseinandergerissen, von der aufrührerischen See in alle Winde zerstreut und Opfer einer Geschichte geworden war, die sie am Scheideweg der Welt angesiedelt hatte.
Nun brandeten neue Reiche an die Küsten der alten. Binnen Kurzem würde nicht mehr bloß ein Tal eingeäschert werden oder würden Eidechsen, Igel und Heuschrecken den Feuertod sterben, sondern Juden, Homosexuelle, Zigeuner und Geisteskranke würden verbrennen. Es würde so weit kommen, dass Guernica und Abessinien groß an den Himmeln Europas, Nordafrikas, Singapurs oder Koreas geschrieben standen. Die selbst ernannten Herrenrassen, berauscht von Darwin und nationalistischem Übermut, betört von Eugenik und verführt von Mythen, waren dabei, eine Völkermordmaschinerie in Gang zu setzen, die bald auf eine Welt losgelassen würde, die solche maßlose Dummheit und niederträchtige Eingebildetheit bereits herzlich leid war.
Doch Stärke erregt überall Bewunderung und verführt jeden, so auch Pelagia. Als sie von einer Nachbarin hörte, dass auf dem Dorfplatz ein starker Mann Wundertaten vollbrachte, die sogar eines Atlas würdig waren, stellte sie gleich den Besen in die Ecke, mit dem sie den Hof gefegt hatte, und eilte hinaus, um sich der neugierigen Schar der leicht zu Beeindruckenden anzuschließen, die beim Brunnen zusammengelaufen war.
Megalo Velisarios, auf allen Ionischen Inseln berühmt, mit Pluderhose und verschnörkelten Sandalen wie ein türkischer Spielmann gekleidet, laut eigener Aussage der stärkste Mann, der je auf der Welt gelebt hatte, das Haar so erstaunlich lang wie das des Nazareners oder gar Samsons, hüpfte zum Takt klatschender Hände auf einem Bein. Dabei trug er auf jedem verblüffenden Bizeps seiner ausgestreckten Arme einen erwachsenen Mann. Der eine klammerte sich eng an seinen Körper, der andere, versierter in der Kunst der Schaustellerei, rauchte in aller Gemütsruhe eine Zigarette. Zur Krönung des Ganzen saß auf Velisarios’ Kopf ein verängstigtes, etwa sechsjähriges Mädchen, das seine Hopserei noch dadurch erschwerte, dass sie ihre Hände fest auf seine Augen gedrückt hielt. »Lemoni!«, brüllte er. »Nimm die Hände von meinen Augen und halt dich an meinem Haar fest, sonst muss ich aufhören.«
Lemoni war zu überwältigt, um ihre Hände wegzunehmen, also hielt Megalo Velisarios inne. Mit einer graziösen Bewegung, ähnlich der eines Schwans kurz vor dem Aufsetzen, stellte er beide Männer auf die Füße. Dann hob er Lemoni von seinem Kopf, warf sie hoch in die Luft, fing sie wieder auf, küsste sie demonstrativ auf die Nasenspitze und setzte sie dann ab. Lemoni verdrehte erleichtert die Augen und hielt ihm entschlossen die offene Hand hin. Es war üblich, dass Velisarios seine kleinen Opfer mit Süßigkeiten belohnte. Lemoni verzehrte ihre Belohnung vor allen Zuschauern, wohl wissend, dass ihr Bruder sie ihr wegnehmen würde, wenn sie versucht hätte, sie sich aufzuheben. Der stattliche Hüne tätschelte ihr liebevoll den Kopf, streichelte über ihr glänzendschwarzes Haar, küsste sie nochmals und streckte sich dann zu voller Größe. »Ich werde etwas hochheben, was sonst nur drei Männer schaffen«, rief er, und die Dorfbewohner fielen in seine Worte ein, die sie schon so oft gehört hatten; es war ein gut einstudierter Chor. Velisarios mochte sich durch seine Kraft auszeichnen, doch es fiel ihm nie ein, seine Litanei zu ändern.
»Heb den Trog.«
Velisarios besah sich den Trog; er war aus einem einzigen, mindestens zweieinhalb Meter langen Felsblock gemeißelt. »Der ist zu lang«, entschied er. »Den kann ich nicht anpacken.«
Einige in der Menge machten skeptische Bemerkungen, und der Hüne schritt mit finsterem Blick auf sie zu, schüttelte die Fäuste und baute sich vor ihnen auf, doch mit dieser Karikatur eines zornigen Riesen machte er sich nur über sich selbst lustig. Die Leute lachten, denn sie wussten, dass Velisarios sanftmütig war und sich noch nie auf eine Rauferei eingelassen hatte. Unversehens schob er behände die Arme unter den Bauch eines Maultiers, spreizte seine Beine und hob es bis in Brusthöhe. Das völlig verdutzte Tier, dem vor Verblüffung die Augen aus den Höhlen traten, ließ sich zwar diese ungewohnte Behandlung gefallen, aber als es sanft wieder abgesetzt worden war, warf es den Kopf zurück, brüllte seinen Unwillen heraus und galoppierte die Straße entlang, sein Besitzer ihm hart auf den Fersen.
Genau in diesem Augenblick trat Pater Arsenios aus seinem Häuschen neben der Kirche und watschelte auf seinem Weg zum Gotteshaus gewichtig auf die Menge zu. Er wollte eigentlich nur zählen, wie viel in dem Holzkästchen war, in das die Leute Geld für die Kerzen warfen.
Pater Arsenios genoss kein Ansehen, nicht weil er eine wandelnde Tonne war, ständig schwitzte und beim Gehen vor Anstrengung ächzte, sondern weil er ein weltlicher Sünder war; ein Nimmersatt, ein Möchtegern-Lüstling, ein gnadenloser Almosen- und Opfereintreiber, ein wandelnder Schuldschein. Es hieß, er hätte die Regel verletzt, dass ein Priester nie ein zweites Mal heiratet, und sei den ganzen Weg von Epirus hergekommen, um ungeschoren zu bleiben. Es wurde auch gemunkelt, dass er seine Frau misshandelte. Doch das wurde über die meisten Ehemänner gesagt und traf auch oft zu.
»Heb mal Pater Arsenios«, rief jemand.
»Unmöglich«, rief ein anderer.
Unversehens sah sich Pater Arsenios unter den Achseln gepackt und auf eine Mauer gehoben. Dort saß er dann blinzelnd, zu erstaunt, um zu protestieren, während sein Mund wie bei einem Fisch auf- und zuging und die Sonne die Schweißtropfen auf seiner Stirn funkeln ließ.
Einige kicherten, doch sie verstummten bald schuldbewusst. Eine Minute lang herrschte betretenes Schweigen. Der Priester lief dunkelrot an, Velisarios wünschte, er könnte davonkriechen und sich verstecken, und in Pelagias Brust regten sich Unwillen und Mitleid; es war ein schreckliches Vergehen, Gottes Sprachrohr öffentlich zu demütigen, wie verachtenswert Arsenios als Mensch und als Priester auch sein mochte. Sie trat vor und streckte eine Hand aus, um ihm herunterzuhelfen. Velisarios bot auch eine Hand an, aber dennoch konnten die beiden nicht verhindern, dass der unglückliche Geistliche schwer in den Staub stürzte. Er raffte sich auf, bürstete sich ab und schritt mit einem ausgezeichneten Gespür für Theatralik wortlos davon. In der Kirche, hinter der Ikonostasis, vergrub er das Gesicht in den Händen. Es gab nichts Schlimmeres auf der Welt, als ein völliger Versager zu sein und keine Aussicht auf einen anderen Beruf zu haben.
Draußen auf dem Platz machte Pelagia ihrem Ruf als vorlaute Göre alle Ehre. Sie war erst siebzehn Jahre alt, aber voller Stolz und Entschiedenheit, und dass ihr Vater der Arzt war, verlieh ihr einen Rang, den selbst die Männer anerkennen mussten. »Du hättest das nicht machen sollen, Velisarios«, sagte sie. »Es war grausam und gemein. Denk doch, wie dem armen Mann jetzt zumute ist. Du solltest gleich in die Kirche gehen und dich entschuldigen.«
Er blickte aus seiner großen Höhe auf sie herab. Zweifellos befand er sich in einer Zwickmühle. Er dachte daran, sie über seinen Kopf zu heben. Vielleicht sollte er sie auf einen Baum setzen, das würde ihm einige Lacher aus der Menge einbringen. Er wusste aber genauso gut, dass er mit dem Priester wieder ins Reine kommen musste. Aus der plötzlichen Abneigung der Leute konnte er ersehen, dass er so auf keinen Fall viel Geld für seine Vorstellung einheimsen konnte. Was sollte er tun?
»Die Vorstellung ist aus«, verkündete er mit einer abschließenden Geste. »Ich werde heute Abend zurückkommen.«
Die feindselige Atmosphäre verwandelte sich augenblicklich in Enttäuschung. Der Priester hatte es schließlich verdient, oder nicht? Und wie oft gab es eine so gute Vorstellung im Dorf?
»Wir wollen die Kanone sehen«, rief eine alte Frau, und immer mehr Stimmen fielen ein: »Wir wollen die Kanone, wir wollen die Kanone.«
Auf seine Kanone war Velisarios ungeheuer stolz. Es war eine alte türkische Muskete, die sonst niemand heben konnte. Sie war aus gediegenem Messing hergestellt und hatte einen mit Eisenringen vernieteten Lauf aus damasziertem Stahl. Auf ihr waren das Datum 1739 und einige verschnörkelte Lettern eingraviert, die niemand entziffern konnte. Es war eine äußerst geheimnisvolle, unvergleichliche Kanone, die sehr schnell Patina ansetzte, egal, wie oft sie poliert wurde. Zum Teil beruhte Velisarios’ titanische Kraft darauf, dass er sie so lange mit sich herumgetragen hatte.
Er blickte zu Pelagia herab, die immer noch eine Antwort auf ihre Forderung erwartete, er solle sich beim Priester entschuldigen, und sagte ihr: »Ich werde später gehen, meine Hübsche.« Dann hob er die Arme und verkündete: »Ihr lieben Leute, wenn ihr die Kanone sehen wollt, dann müsst ihr mir bloß eure rostigen Nägel, eure zerbrochenen Riegel, eure Topfscherben und ein paar Steine von der Straße geben. Holt mir diese Sachen, ich stopfe derweil das Geschütz mit Pulver. Oh, und jemand muss mir einen Lumpen bringen, einen schönen großen.«
Kleine Jungen scharrten im Straßenstaub nach Steinen, alte Männer durchsuchten ihre Schuppen, die Frauen rannten los, um das eine Hemd ihres Mannes zu holen, das er ihrer Meinung nach schon längst hätte wegwerfen sollen, und binnen Kurzem waren alle in Erwartung der großen Explosion wieder versammelt. Velisarios schüttete reichlich Pulver ins Magazin, klopfte es, um ganz bewusst eine dramatische Verzögerung zu erzielen, umständlich fest, stopfte einen der Lumpen hinein und ließ dann die Jungen mehrere Handvoll der angesammelten Munition in den Lauf schütten. Darauf folgte ein weiterer Lumpen. Dann fragte Velisarios: »Auf was soll ich denn schießen?«
»Auf Ministerpräsident Metaxas«, rief Kokolios, der sich seiner kommunistischen Überzeugung nicht schämte und in der Kapheneia viel Zeit damit verbrachte, den Diktator und den König zu schmähen. Einige lachten, andere grollten, und ein paar dachten: »Immer dieser Kokolios.«
»Schieß auf Pelagia, bevor sie jemandem die Eier abbeißt«, schlug Nikos vor, ein junger Mann, dessen Annäherungsversuche sie durch bissige Bemerkungen über seine Intelligenz und seine Aufrichtigkeit im Allgemeinen erfolgreich abgewehrt hatte.
»Ich werd gleich dich erschießen«, grollte Velisarios. »Du solltest deine Zunge im Zaum halten, wenn anständige Menschen anwesend sind.«
»Ich hab eine alte, an Spat erkrankte Eselin. Ich trenne mich ungern von einer alten Freundin, aber sie taugt wirklich nichts mehr. Sie frisst bloß und fällt um, wenn ich sie belade. Die wär ein gutes Ziel, ich wär sie los, und es gäb eine schöne Sauerei.« Das war Stamatis.
»Du solltest nur weiblichen Nachwuchs und Schafböcke bekommen, weil du an so was Schreckliches überhaupt denkst«, rief Velisarios. »Glaubst du, ich bin ein Türke? Nein, ich werd das Geschütz einfach auf die Straße abfeuern, wenn kein besseres Ziel da ist. Alle aus dem Weg jetzt. Tretet zurück, alle Kinder sollen sich die Ohren zuhalten.«
Mit einem sicheren Gespür für Theatralik entzündete der Hüne die Lunte des Geschützes, das an die Wand gelehnt war, hob es auf, als wäre es leicht wie ein Karabiner, und stellte sich, einen Fuß nach vorn gestreckt, die Kanone auf der Hüfte, in Positur. Ringsum herrschte Schweigen. Die Lunte sprühte hell. Alle hielten den Atem an. Kinder pressten die Hände auf die Ohren, schnitten Grimassen, machten ein Auge zu und hüpften von einem Fuß auf den anderen. Es kam der unerträglich spannende Augenblick, als die Flamme das Zündloch erreichte und erstarb. Vielleicht war das Pulver nicht entfacht worden. Doch dann gab es ein kolossales Getöse, orangefarbene und violette Flammen schossen hervor, eine gewaltige, beißende Rauchwolke stieg hoch, der Staub spritzte herrlich auf, als sich die Projektile in die Straßenoberfläche bohrten, und dann war ein langes, schmerzvolles Aufstöhnen zu hören.
Für einen Augenblick waren alle verwirrt und wie gelähmt. Die Leute blickten einander an, um zu sehen, wer wohl einen Querschläger abbekommen hatte. Als das Stöhnen erneut ertönte, ließ Velisarios seine Kanone fallen und rannte nach vorn. Er hatte im niedergehenden Staub eine zusammengekrümmte Gestalt entdeckt.
Mandras sollte Velisarios später dafür dankbar sein, dass dieser mit einer türkischen Muskete auf ihn geschossen hatte, als er am Eingang zum Dorf um die Biegung gekommen war. Doch erst einmal hatte er sich darüber geärgert, in den Armen eines Riesen zum Haus des Arztes getragen zu werden, statt würdevoll auf eigenen Füßen dorthin zu gehen, und er hatte es gar nicht genossen, als der verbogene Hufnagel eines Esels ihm ohne Betäubung aus der Schulter entfernt wurde. Er hatte es noch weniger genossen, von dem Hünen festgehalten zu werden, als der Arzt ihn behandelte, da er die Schmerzen sehr gut auch so ertragen hätte. Es war auch eine wirtschaftliche Einbuße gewesen, denn zwei Wochen lang, während die Wunde ausheilte, musste er aufs Fischen verzichten.
Allerdings war er Megalo Velisarios dankbar dafür, dass er im Haus des Arztes dessen Tochter Pelagia aus der Nähe erblickt hatte. Irgendwann war ihm bewusst geworden, dass er verbunden wurde, dass das lange Haar einer jungen Frau, das nach Rosmarin roch, ihn im Gesicht kitzelte. Er hatte die Augen aufgemacht und in zwei vor Sorge funkelnde Augen geblickt. »In diesem Augenblick«, pflegte er zu sagen, »ist mir mein Schicksal bewusst geworden.« Es trifft zu, dass er das nur in einigermaßen bezechtem Zustand sagte, aber es war ihm nichtsdestoweniger ernst damit. Am Ainos, dem Dach der Welt, hatte Alekos das Donnern des Geschützes gehört und sich gefragt, ob dies den Anfang eines neuen Krieges bedeutete.