Als in der Dämmerung plötzlich die Tür aufgestoßen wurde, war Pelagias erster Gedanke, es wären die Deutschen. Sie wusste, dass alle Italiener tot waren.
Wie alle anderen hatte sie den ersten Kampflärm gehört – das mechanische Rattern der MGs, das abgehackte Knallen der Gewehre, die kurzen Feuerstöße der Selbstladepistolen, die gedämpften, tiefen Paukenschläge der Granaten – und danach das endlose Feuern der Exekutionskommandos. Durch die Fensterläden hatte sie Lastwagen auf Lastwagen vorbeifahren sehen, alle entweder voll von triumphierenden Grenadieren oder erschlafften Körpern von Italienern, denen das Blut aus den Mundwinkeln rann und deren Augen in die Unendlichkeit starrten. Nachts war sie mit ihrem Vater hinausgegangen, dessen Wangen vor Zornestränen und Mitleid bebten, und hatte sich aufgemacht, um unter den bei den ungeheuerlichen Feuern verstreut liegengelassenen Körpern Überlebende zu finden, die noch zu retten waren.
Sie hatte die Sprache verloren, nicht vor Angst oder Kummer, sondern vor einer grauenhaften Leere.
Das Leben war also schon vorbei. Sie wusste, dass Frauen, die jung und hübsch waren, von den Deutschen abtransportiert wurden, da ihre Bordelle sich nicht aus Freiwilligen rekrutierten. Sie wusste, dass sie voller terrorisierter und gequälter Mädchen aus der Gegend zwischen Polen und Slowenien steckten und dass die Nazis sie bei den ersten Anzeichen von Widerstand oder Krankheit erschossen. Sie hatte am Tisch gesessen, die Gedanken voller Erinnerungen, während sie hin und wieder um sich blickte und zum letzten Mal die alltäglichen Kleinigkeiten des Lebens in sich aufnahm, die Verdickungen unten am Tischbein, die verbeulten Pfannen, die sie so dünn gescheuert hatte, die unerklärliche Farblosigkeit einer der Bodenfliesen, das verbotene Bild von Metaxas an der Wand, das ihr Vater dort aufgehängt hatte, obwohl er ein unversöhnlicher Venizelist war. Sie hatte die Hand in der Schürzentasche, und wenn die Deutschen kämen, würde sie einen von ihnen erschießen, sodass wiederum sie sie erschießen müssten. Die kleine Derringer schien für die Aufgabe ungeeignet, aber schließlich hatte ihr Vater noch eine italienische Pistole und fünfzig Patronen, die jemand, vielleicht ein Mitglied von »La Scala«, vor ihrer Tür als freudloses Vermächtnis hatte liegenlassen.
Demnach war sie, als die Tür aufflog, bestürzt, aber es lief alles mit der narrativen Unvermeidlichkeit eines oft gelesenen Schmökers ab. Sie stand rasch auf, schloss die Hand um die Waffe – aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen – und erblickte Velisarios, der wie ein Hund keuchte, von der Hüfte abwärts blutbesudelt war und dessen Augen in der übernatürlichen Kraft strahlten, mit der ihn das Schicksal von Geburt an ausgestattet hatte. »Ich bin gerannt«, stieß er hervor und schritt zum Tisch, wo er sanft das jämmerliche Bündel niederlegte, das so schlaff, entspannt und friedlich wie alle anderen der tausend Toten war, die sie in der letzten Nacht gesehen hatte. »Wer ist das?«, fragte Pelagia, die sich wunderte, warum der starke Mann sich mit einem unter den vielen abgegeben hatte.
»Er lebt noch«, sagte Velisarios. »Es ist der verrückte Hauptmann.«
Sie bückte sich rasch, während Entsetzen und Hoffnung in ihrem Herzen miteinander rangen. Sie erkannte ihn nicht. Zu viel geronnenes Blut, zu viele Fetzchen und Klümpchen Fleisch, zu viele Löcher im Brustgewebe, aus denen immer noch Blut sickerte. Sein Gesicht und sein Haar glänzten und waren blutverkrustet. Sie wollte ihn berühren, zog aber die Hand wieder zurück. Wo sollte sie so einen Mann berühren? Sie wollte ihn umarmen, aber wie sollte sie einen so gebrochenen Mann in die Arme nehmen?
Die Leiche öffnete die Augen, und der Mund lächelte. »Kalimera, Koritsimou«, sagte der.
Sie erkannte die Stimme. »Es ist schon Abend«, sagte sie idiotischerweise, da ihr nichts Tiefsinniges einfiel.
»Dann Kalispera«, murmelte er und schloss die Augen.
Pelagia blickte mit vor Verzweiflung weit offenen Augen zu Velisarios auf und sagte: »Velisarios, du hast noch nie etwas Großartigeres getan. Ich werde meinen Vater holen. Bleib bei ihm.«
Es war das erste Mal, dass eine Frau je die Kapheneia betrat. Dort war nicht mehr alles beim Alten, aber der Ort war noch immer den Männern heilig, und als sie hereinplatzte und die Tür des riesigen Schranks aufzog, wo die Männer BBC hörten (die gesamte Division Venezia der italienischen Armee war zu Titos Partisanen übergelaufen), war die Explosion der Entrüstung fühlbar. Eine Wolke von Zigarettenqualm drang aus dem Inneren, und da waren ihr Vater und vier Männer, alle kerzengerade in diesem engen Raum, die sie mit einer Verärgerung anstarrten, die schon an Hass grenzte. Kokolios brüllte sie an, aber sie zog ihren protestierenden Vater an der Hand aus dem Lokal.
Der Arzt sah sich den Körper an und wusste, dass er nie einen schlimmeren Fall vor sich gehabt hatte. Da war genug Blut, um die Adern eines Pferdes zu füllen, und es gab genug Fleischfetzen, um die Krähen monatelang zu füttern. Zum ersten Mal in seiner ärztlichen Laufbahn fühlte er sich bezwungen und nutzlos, und er ließ die Hände sinken. »Es wäre gütiger, ihn zu töten«, sagte er, und bevor Velisarios sich anschließen konnte mit »Das hab ich mir auch gedacht«, hämmerte Pelagia empört und aufgebracht mit beiden Händen auf die Brust ihres Vaters ein und trat mit den Füßen gegen seine Schienbeine. Velisarios ging dazwischen, legte ihr einen Arm um die Taille und lüpfte sie dorthin, wo gewöhnlich seine Muskete ihren Platz hatte, auf den natürlichen Sims seiner Hüfte, wo sie heulend auf seine Schenkel einschlug.
Und so kam es, dass Wasser aufgesetzt und die Fetzen von Corellis Uniform behutsam weggeschnitten wurden. Pelagia riss in wilder Hast nicht nur ihre eigenen Bettlaken, sondern auch noch die ihres Vaters in Streifen. Danach holte sie jede Flasche Spiritus, die ihr Vater versteckt hatte, und sicherheitshalber noch seinen geschätzten Vorrat an Inselwein.
Dr. Iannis jammerte, als er das Blut abwischte. »Was soll ich denn machen? Ich bin nicht entsprechend ausgebildet. Ich bin kein richtiger Chirurg. Ich habe keinen Kittel, kein Haarnetz, keine Handschuhe, nichts von dem Penizillin, von dem ich gehört habe. Kein Röntgengerät, kein steriles Wasser, kein Serum, kein Plasma, kein Blut …«
»Sei still, sei still, sei still«, schrie Pelagia, deren Herz nun vor Panik und Entschlossenheit raste. »Ich hab schon gesehen, wie du einen Bruch mit einem Zehn-Zentimeter-Nagel zusammengefügt hast. Halt den Mund und mach dich an die Arbeit.«
»Jesus!«, sagte der eingeschüchterte Arzt.
Weil Dr. Iannis nicht wusste, dass das meiste Blut und Fleisch vom breiten Rücken Carlo Guercios stammte, erschien es ihm wohl wie ein Wunder des Heiligen, dass Antonio Corelli dann tatsächlich so wenige Wunden aufwies. Sobald er gesäubert war und ein Haufen blutiger Lumpen vom Boden aufgeklaubt und zum Abkochen gebracht worden war, wurde deutlich, dass der Hauptmann sechs Kugeln in der Brust, eine im Unterleib, einen Einschuss im rechten Arm und eine hässliche, aber ungefährliche Schramme an der Wange hatte.
Aber es schien dennoch aussichtslos. Der Arzt kannte sich zu gut aus, um Optimist zu sein, und wusste zu wenig Bescheid, um seinem Pessimismus abzuhelfen. In diesen Löchern würden sich Uniformfetzen und von den Kugeln nach innen gedrückte Lufttaschen befinden, dazu Rippensplitter, die er nicht lokalisieren könnte. Aus der Entzündung durch eine Myriade von Mikroben würde sich Osteomyelitis entwickeln, die ihr Gift durch das Mark ins Blut schicken und zum Tod durch Sepsis führen würde. Der Arzt wusste, dass Kugeln an Stellen sitzen konnten, die einen massiven Blutverlust auslösen würden, wenn er sie entfernte, aber eine unaufhaltsame Infektion herbeiführen würden, wenn er sie nicht herausnähme. Es konnte sich auch schon ein Hämothorax gebildet haben, ein Bluterguss in der Brusthöhle. Über kurz oder lang könnte Gasbrand entstehen. Knochensplitter wären von Stellen zu entfernen, die er beim besten Willen nicht aufspüren konnte. Der Arzt öffnete eine der Rakiflaschen, nahm einen tiefen Zug und reichte sie an Velisarios weiter, der aus Solidarität das Gleiche tat und im Raum blieb, gebannt von dem ganzen Vorgang.
Dr. Iannis nahm seinen Verstand zusammen und erkannte, dass es keinen Sinn hatte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ein Chirurg untersucht erst und denkt später. Noch den Anisgeschmack im Mund und das tröstliche Brennen des Schlückchens Alkohol im Magen, holte er sich eine Sonde und führte sie sanft in jede Wunde ein, bis sie auf die Kugel stieß. Ihm fiel auf, dass die Löcher überraschend weit waren und alle einen gelben Prellungsrand aufwiesen. Warum waren die Löcher so weit?
Er richtete sich verdutzt auf. Die Löcher waren nicht einmal tief. Die Kugeln hätten eigentlich saubere Durchschüsse verursachen und im Rücken des Opfers Krater hinterlassen sollen, aus denen das Blut nur so spritzte, fiel ihm plötzlich ein. »Tochter«, sagte er, »ich schwöre bei allen Heiligen, dass dieser Mann ein Fleisch aus Eisen hat. Ich glaube, er wird durchkommen.« Er langte nach seinem Stethoskop und horchte. Das Herz schlug schwach, aber regelmäßig. »Antonio«, rief er, und Corelli schlug die Augen auf und versuchte zu lächeln. »Antonio, ich werde Sie operieren. Ich habe nicht viel Morphium. Können Sie trinken? Es wird Ihr Blut verdünnen, aber es muss trotzdem sein.«
»Pelagia«, hauchte Corelli. Velisarios hielt den Kopf des Hauptmanns hoch, und Pelagia flößte ihm eine Tasse Raki ein, während der Arzt ein Dreiviertelgramm Morphium präparierte. Er würde die gleiche Menge jede halbe Stunde injizieren, wenn nötig, und jede halbe Stunde würde der Hauptmann Raki schlucken müssen, wenn das gleichfalls notwendig war. »Ich brauche so viel Licht wie möglich«, sagte der Arzt, und Pelagia holte aus den Zimmern alle Lampen, die Velisarios dann in der Küche anzündete. Draußen war es finster, die Eulen schrien zu dem metallischen Zirpen der Grillen und den anderen Naturgeräuschen dieses trügerischen Friedens. Psipsina kam mit der ersten in der Nacht gefangenen Maus im Maul herein, und Pelagia scheuchte sie hinaus.
In den einen Arm injizierte der Arzt Morphium, und in den anderen sicherheitshalber und aus keinem bestimmten Grund außer seiner Intuition zehn Zentiliter einer Lösung aus Zucker und Salz, die Pelagia in einem Tiegel zusammengemischt hatte. Sie konnte kaum mit ansehen, wie der Körper des von ihr geliebten Mannes gepikt und gestochen wurde, aber sie wusste, dass sie gleich noch sehen würde, wie er aufgeschlitzt und aufgeschnitten wurde. Aber während sie auf diesen bleichen, durchlöcherten, hilflos wie ein Wurm daliegenden Körper voller Blut blickte, erkannte sie, dass es nicht direkt der Körper war, der geliebt wurde. Sie liebte den Menschen, der aus den Augen hervorleuchtete und seinen Mund zum Lächeln und Sprechen gebrauchte. Sie hielt die Finger des Musikers in der Hand und schaute auf die sorgfältig gepflegten Nägel. Wenigstens war die Nagelhaut rosig. Sie bewunderte nicht die Hände, sondern den Mann, der sie über die Mandolinenbünde gleiten lassen konnte. Wie oft hatte sie sich schon vorgestellt, wie sie über ihre Brüste glitten? Der Arzt nahm ihre Verträumtheit wahr und sagte: »Sitz nicht so rum. Mach dich an die Wunden im Gesicht und am Arm. Säubere sie, schneide die Fetzen ab, desinfiziere sie und nähe sie zu. Willst du Ärztin werden oder nicht? Und wir brauchen noch mehr kochendes Wasser, eine ganze Menge. Und wasch dir die Hände, besonders unter den Nägeln.«
Sie stand auf, blinzelte und rührte keinen Finger. »Bist du sicher, dass er bewusstlos ist? Ich möchte ihm nicht wehtun.«
»Ich werd ihm noch viel mehr wehtun als du.« Er schlug Corelli ins Gesicht und schrie: »Antonio, deine Mutter ist eine Hure.« Es kam keine Reaktion, und so sagte der Arzt: »Er ist weg.«
»Seine Mutter ist tot«, sagte Pelagia vorwurfsvoll. »Trink keinen Raki mehr, wenn dir davon solche Worte in den Mund kommen.«
Draußen rumpelte ein deutscher Panzerwagen vorüber, und alle drei blieben stocksteif stehen, bis er vorbei war. »Schweine«, sagte Velisarios.
Pelagia wurde in dieser Stunde die ganze Ungeheuerlichkeit dessen deutlich, um was sie ihren Vater gebeten hatte. Ihr zitterten die Hände, und sie konnte sich kaum überwinden, diese Wunden zu berühren. Zunächst betupfte sie sie zaghaft und war entsetzt, als sie aufblickte und ihren Vater sah, wie er tatsächlich großzügig das Fleisch um die Schusswunden wegschnitt. »Das nennt man Wundexzision«, erklärte er ihr, »und ich mag’s auch nicht, aber es hilft; wenn du es nicht magst, dann schau nicht hin. Ich entferne das gesamte geschädigte Gewebe. Du solltest es genauso machen.« Pelagia kämpfte den Drang, sich zu übergeben, nieder, und Velisarios trat zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf den Boden. Er würde ihnen bei der Arbeit zuschauen, sich aber die Einzelheiten ersparen.
Der Arzt fing mit der Kugel im Unterleib an, da er mit etwas beginnen musste, was relativ ungefährlich war, um sein Selbstvertrauen zu stärken. Er fand sie nicht weit unter der Haut, pickte sie mit seiner Zange heraus und wunderte sich über die abgeplattete und verzogene Form. »Es ist ein Wunder«, sagte er, während er sie Pelagia zeigte, die mit einer flachen Arztschere ein eingerissenes Fleischfetzchen abschnippelte. »Wie erklärst du dir das?«
»Er war hinter dem Mann, der so groß ist wie ich«, meldete sich Velisarios. »Der große Mann hat ihn hinter sich gehalten, so.« Velisarios stand auf und streckte die Hände nach hinten aus, um vorzuführen, wie jemand die Handgelenke eines anderen umklammern konnte. »Er hat den verrückten Hauptmann immer noch festgehalten, als ich ihn aufhob. Ich habe erst gemeint, er sei zu schwer. Ich glaube, er hat diesen Mann zu retten versucht.«
»Carlo«, sagte Pelagia und brach plötzlich in Tränen aus. Ihr Vater wollte sie schon trösten, merkte aber, dass er ihr den Kopf nur mit Blut vollschmieren würde. Carlo war das erste Mitglied von »La Scala«, von dessen sicherem Tod sie nun wussten. »Kein Mann, der so gestorben ist, ist umsonst gestorben«, verkündete der Arzt, der an den Worten fast erstickte. Er wollte in Tränen ausbrechen, beherrschte sich aber und entfernte und inspizierte, um sich abzulenken, einen Fetzen versengten Stoff aus der Wunde vor ihm. Pelagia wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleids die Tränen ab und sagte: »Antonio hat immer gesagt, Carlo sei der Tapferste in der Armee.«
»Alles nutzlos«, kommentierte der Arzt, der damit unbemerkt seiner früheren Aussage widersprach. »Velisarios, ist die Leiche des Mannes noch dort? Wir würden sie gern beerdigen, damit sie nicht verbrannt wird.«
»Wir haben schon Ausgangssperre, Iatre«, sagte der starke Mann, »aber ich werde gehen, wenn du es verlangst. Auf dem Weg könnte ich eventuell einen Deutschen umbringen, wer weiß?« Er ging fort und war froh, aus dem schauerlichen Operationszimmer zu kommen, wo die Emotionen so hochschlugen und die Seufzer so zahlreich waren, dass sie ihn krank machten. Er atmete tief die kühle Herbstluft ein und machte sich noch einmal auf den Weg über die Felder.
Der Arzt säuberte die Wunde fertig, tupfte sie mit Alkohol ab und füllte sie mit Sulfonamidpulver. Das hatte er vom hypochondrischen Quartiermeister mit den Hühneraugen bekommen. Zweifellos hatte seine Seele ihn inzwischen zusammen mit all seinen eingebildeten Wehwehchen verlassen, und zweifellos waren seine wohligen Fettpolster viel zu früh dem Feuer anheimgefallen. Eine unermessliche Wolke der Traurigkeit hing für jeden greifbar in der Luft. Es war besser, sich auf den Hauptmann zu konzentrieren. Dr. Iannis schnitt einen Hautlappen ab, drehte ihn und bedeckte das von ihm erzeugte Loch. »Wenn du fertig bist«, sagte er seiner Tochter, »dann stickst du das zusammen. In meiner Tasche ist Fallschirmleine, du musst sie nur auffasern. Es gibt nichts Besseres.«
Pelagia überkam ein Gefühl empörender Unwirklichkeit. Da stand sie und flickte ihren Geliebten so akkurat und sorgfältig zusammen, wie sie es bei der Arbeit an der asymmetrischen Weste und von den geduldigen Anweisungen einer Tante gelernt hatte, und neben ihr war ihr Vater, der behutsam Knochensplitter und platt gedrückte Kugeln aus der Brust desselben Mannes holte und dabei alles über Krepitation, Facies hippocratica und alle möglichen anderen Komplikationen erzählte, deren Bedeutung ihr zu unklar war, um erschreckende Prognosen heraufzubeschwören. Sie widmete sich dem Gesicht des Hauptmanns und säuberte die tiefe Schramme. Sie überlegte, ob sie sie von selbst heilen lassen oder vernähen sollte. »Das hängt davon ab«, sagte der Arzt, der eine weitere Morphiumspritze präparierte, »ob du ihn mit einem schiefen Lächeln haben willst oder nicht. Du hast die Wahl zwischen dem oder einer breiten Narbe. Beides kann ganz reizend sein, wer weiß?«
»Eine Narbe kann ganz romantisch sein«, meinte Pelagia.
»Diese Narben«, sagte der Arzt und deutete mit dem Skalpell auf die Brust, »werden ziemlich scheußlich sein. Wenn er’s überlebt.«
Velisarios begrub die sterblichen Reste von Carlo Guercio noch in dieser Nacht im Hof des Arzthauses. Als er sich über Mauern und Felder schleppte, vom ekligen Geruch des Todes verfolgt, die Hände schleimig und schmierig, hatte er sich wie Atlas unter dem Gewicht der Welt gefühlt. Er hatte bald erkannt, dass seine Bürde zu schwer war, um sie so wie den Hauptmann in den Armen zu tragen, und so stolperte er schließlich mit dieser gewaltigen Last auf den Schultern dahin, als trüge er einen schweren Sack Weizen.
Im Dunkeln band er Carlos zerschmetterten Kiefer mit einem Lakenstreifen fest und fing dann an zu graben. Er musste einige Wurzeln des Ölbaums durchhacken, förderte uralte Schichten von Steinen und Asche zutage und warf Tonscherben und Schulterblätter von Schafen heraus. Er wusste es zwar nicht, aber er begrub Carlo in einer Bodenschicht aus Odysseus’ Zeit, als hätte der Schütze schon immer dorthin gehört.
Kurz vor Tagesanbruch, die Operation des Hauptmanns war endlich abgeschlossen, waren Vater und Tochter unsagbar erschöpft, aber sie kamen noch heraus, um Abschied zu nehmen von den Gebeinen dieses Helden.
Pelagia kämmte ihm das Haar und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Der Arzt, von Natur aus ein Heide und stets von alten Bräuchen angetan, legte auf jedes Auge eine Silbermünze und ins Grab eine Flasche Wein. Velisarios stand unten und bettete den Leichnam in die Erde. Er richtete sich auf, und da fiel ihm plötzlich etwas ein. Er holte eine zerknitterte Packung Zigaretten aus der Tasche, griff eine heraus, strich sie gerade und steckte sie dem Toten zwischen die Lippen. »Ich schulde ihm noch eine«, sagte er und kletterte heraus.
Der Arzt hielt eine feierliche Rede, während Pelagia neben ihm weinte und Velisarios den Hut in seinen Händen knetete.
»Unser Freund«, hob er an, »als Feind gekommen, ist über die Asphodeloswiesen gegangen. Wir haben herausgefunden, dass in ihm mehr Wissen um die Rechtschaffenheit steckte als in jedem anderen Sterblichen. Wir erinnern daran, dass er seine vielen Auszeichnungen für die Rettung von Leben, nicht für deren Auslöschung erhalten hat. Wir gedenken, dass er so edelmütig gestorben ist, wie er gelebt hat, tapfer und stark. Wir sind nur Eintagsfliegen, aber sein Geist wird nicht verblassen. Er war auf die schönen Seiten des Lebens bedacht und ist mitten auf seinem Pfad von blutrünstigen Männern zum Schweigen gebracht worden, deren Namen im Ablauf der Jahre in Ehrlosigkeit weiterleben werden. Auch sie werden vergehen, aber unbetrauert, und ihnen wird nicht verziehen; der Tod ist unser aller Lohn. Wenn der Tod diese Männer ereilt, so sollen sie zu nutzlos im Dunkeln umherirrenden Geistern werden, denn vor dem Ende ist des Menschen Tag sehr kurz, und der Ruchlose, der voller Grausamkeit steckt, liegt verflucht, und nach dem Tod bleibt ihm sein Beiname. Doch der Geist von Carlo Guercio wird im Lichte leben, solange wir Zungen haben, um von ihm zu sprechen, und Geschichten, um sie unseren Freunden zu erzählen.
Es heißt, dass von allen Wesen, die auf ihr kriechen und atmen, die Erde nichts Schwächlicheres als den Menschen hervorbringt. Es stimmt, dass Carlo von einem unglücklichen Schicksal dazu ausersehen war, in der Welt herumgeworfen zu werden, aber in ihm haben wir keine Schwächlichkeit gefunden. In ihm war keine grobe Anmaßung, er war kein ruchloser Rüpel, der das Heim anderer schändet. In ihm haben wir die Zartheit einer Jungfrau und die geballte Festigkeit eines Felsens vereint gefunden, die vollkommene Gestalt des vollkommenen Menschen. Er war jemand, der hätte sagen können: ›Ich bin Bürger, nicht Athens oder Roms, sondern der Welt.‹ Er war ein Mann, von dem wir sagen möchten: ›Nichts kann einem guten Menschen schaden, sei es im Leben oder nach dem Tode.‹
Denkt an die Sprichwörter, die uns seit alters überliefert sind:
›Wen die Götter liebhaben, der stirbt jung.‹
›Eines Schattens Traum ist der Mensch.‹
›Selbst die Götter können die Vergangenheit nicht ändern.‹
›Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der
Menschen/einige streuet der Wind auf die Erd’ hin,
andere wieder/treibt der knospende Wald, erzeugt in
des Frühlinges Wärme.‹
Ich denke auch daran, dass der Dichter uns sagt, es gebe eine Zeit für lange Rede und eine Zeit für den Schlaf. Schlafe lange und gut. Du wirst vom Alter nicht gebeugt werden, du wirst nicht schwach werden, du wirst weder neuen Kummer noch Gebrechlichkeit kennen. Solange wir deiner gedenken, wirst du uns als jung und schön in Erinnerung bleiben. Kephallonia ist es die größte Ehre, sich als Hüter deiner Gebeine zu betrachten.«
Sich gegenseitig stützend, gingen der Arzt und seine Tochter ins Haus. Sie hörten noch, wie Velisarios’ Schaufel auf Stein kratzte und Erde niederklatschte. Behutsam trugen sie Corelli in Pelagias Bett, und draußen sangen die ersten Vögel.