Pelagia sollte die Zeit von Corellis Genesung und Flucht nicht als eine Periode denkwürdiger und berauschender Abenteuer, nicht einmal als ein Zwischenspiel voller Furcht und Hoffnung in Erinnerung behalten, sondern als das langsame Einsetzen ihrer Sorgen.
Der Krieg hatte sie ohnehin ausgezehrt. Ihre Haut war wegen der mangelhaften Ernährung durchscheinend, spannte sich straff über den Knochen und verlieh ihr ein ausgemergeltes und seelenvolles Aussehen, wie es erst fünfundzwanzig Jahre später Mode werden sollte. Ihre wohlgeformten Brüste waren etwas verwelkt und abgesackt, wodurch sie eher zweckmäßigen Beuteln als Verkörperungen der Schönheit oder Objekten der Begierde entsprachen. Manchmal bekam sie Zahnfleischbluten, und beim Essen kaute sie vorsichtig, um keinen Zahn zu verlieren. Ihr üppiges schwarzes Haar wurde dünn und strähnig, und es kamen schon die ersten grauen Härchen zum Vorschein, die frühestens in zehn Jahren hätten auftauchen sollen. Der Arzt, der wegen seines höheren Alters weniger gelitten hatte, untersuchte sie häufig und wusste, dass sie seit Beginn der Besetzung fünfzig Prozent ihres Körperfetts verloren hatte. Aus der Analyse des Stickstoffs in ihrem Urin konnte er ersehen, dass sie auch ständig an Muskeln verlor, weil sie das Protein aufbrauchte, und es fiel ihr schwer, eine anstrengende Tätigkeit länger als ein paar Minuten durchzuhalten. Er stellte nichtsdestoweniger fest, dass Herz und Lungen immer noch gesund waren, und gab ihr, wenn er konnte, mehr als ihren normalen Anteil an Milch und Fisch, wenn dies zu haben war, indem er mangelnden Appetit vorschützte. Sie wiederum gab aus der gleichen Zuneigung heraus, mit der sie niemand täuschen konnte, ihr eigenes Essen an Corelli weiter. Es tat dem Arzt in der Seele weh, sie so ausgemergelt zu sehen, und bei ihrem Anblick fielen ihm jene ausgefransten Rosen ein, die es schafften, den Herbst zu überleben und sich noch bis Dezember an den letzten Rest ihrer Schönheit zu klammern, als würden sie irgendwie durch den Dispens eines Schicksals am Leben erhalten, das sich nach der Vergangenheit sehnte, aber darauf erpicht war, sie schließlich doch zu zerstören. Nun gab es keinen beschämt blickenden italienischen Offizier, der für sie Rationen stibitzte, und keinen dicken Quartiermeister mehr, den er für sich einnehmen konnte, und so musste sich der Arzt darauf beschränken, Eidechsen und Schlangen in Fallen zu fangen, war aber immer noch nicht geneigt, es mit Katzen und Ratten zu versuchen. Die Lage war nicht so schlimm wie in Holland, wo Katzen als »Dachhase« serviert wurden, und auch nicht so hart wie auf dem Festland. Es gab ja immer noch die See, Kephallonias Existenzgrundlage, aber auch der Ursprung all ihrer trüben Vergangenheit und strategischen Bedeutung, die nun eine merkwürdige Erinnerung war; die gleiche See, die in der Zukunft neue Invasionen von Italienern und Deutschen auslösen würde, die sich nebeneinander zum Bräunen an den Strand legten und einen Sonnenölfilm auf dem Wasser hinterließen, Touristen, die nichts anzufangen wussten mit dem leeren und argwöhnischen Blick älterer Griechinnen in Schwarz, die, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen, wortlos vorübergingen.
Sobald Corelli wieder auf den Beinen war, ging er um Mitternacht in der Gesellschaft des Arztes und Velisarios’ zur »Casa Nostra«, während Pelagia zu Hause blieb und sich im Verlies versteckte, wo wieder die Mandoline, die Insel-Geschichte des Arztes und Carlos Aufzeichnungen untergebracht waren. Solange sie auf der Insel Gefahr lief, vergewaltigt zu werden, verließ sie kaum das Haus, und in diesem Loch unter dem Boden hing sie ihren Erinnerungen nach, häkelte und trennte ihre Decke auf und dachte an Antonio. Er hatte ihr seinen Ring geschenkt, der für jeden ihrer Finger viel zu groß war, und sie drehte ihn im Lampenlicht, sah sich den auffliegenden halben Falken mit dem Ölzweig im Schnabel und den Worten »Semper fidelis« darunter an. Sie fürchtete insgeheim, dass er sie in seiner Heimat vergessen würde, dass die Worte nur für sie galten, dass sie für immer treu und vergessen wie Penelope auf die Wiederkehr ihres Mannes warten würde.
Aber Antonio redete ganz anders. Er kam oft in der Dunkelheit, beschwerte sich, dass ihre ehemalige Zuflucht kalt und zugig war, und erzählte haarsträubende Geschichten, wie er nur ganz knapp der drohenden Gefangennahme entgangen war, aber davon waren nur ein paar wahr. Sein neuer Bart kratzte sie, wenn sie Wange an Wange angezogen auf ihrem Bett lagen, sich umarmten und von der Zukunft und der Vergangenheit sprachen.
»Ich werde die Deutschen immer hassen«, sagte sie.
»Günter hat mir das Leben gerettet.«
»Er hat all deine Freunde massakriert.«
»Er hatte keine andere Wahl. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sich danach selbst erschossen hätte. Er hat versucht, nicht zu weinen.«
»Es gibt immer eine Wahl. Was der Körper auch anstellt, schuld ist der Geist. So heißt es bei uns.«
»Er war nicht so tapfer wie Carlo. Carlo hätte sich geweigert, uns zu erschießen, aber Günter war eine andere Sorte Mensch.«
»Hättest du dich geweigert?«
»Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. Vielleicht wäre ich den einfachen Weg gegangen. Ich bin auch nur ein Mensch, aber Carlo war wie einer dieser Helden in unseren alten Geschichten, wie Horatius Codes oder wer es auch war, der den Pons Sublicius allein gegen die ganze Armee von Porsenna gehalten hat. Nur einer in einer Million ist aus diesem Holz geschnitzt, du darfst dem armen Günter keine Schuld geben.«
»Trotzdem, die Deutschen werde ich immer hassen.«
»Viele Deutsche sind gar keine Deutschen.«
»Was? Sei nicht albern.«
»Weißt du, an den Uniformen ist er nicht zu erkennen. Sie haben Leute aus Polen, der Ukraine, Lettland, Litauen, der Tschechoslowakei, Kroatien, Slowenien und Rumänien eingezogen. Von überall. Du weißt das nicht, aber auf dem Festland haben sie Griechen, die sie ›Sicherheitsbataillone‹ nennen.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch. Tut mir leid, aber so ist es. In jedem Volk gibt es Scheißkerle. All diese Meuchelmörder und Nullen, die sich überlegen fühlen wollen. In Italien ist doch genau das Gleiche passiert, sie haben sich alle den Faschisten angeschlossen, um zu schauen, was sie kriegen konnten. Alles Angestelltensöhne und Bauernlümmel, die wer sein wollten. Bloß Ehrgeiz und keine Ideale. Kennst du nicht die Anziehungskraft einer Armee? Wenn du ein Mädchen willst, vergewaltige es. Wenn du eine Uhr willst, nimm sie dir. Wenn du schlechter Laune bist, bring jemand um. Du fühlst dich besser, stärker. Es tut gut, zum auserwählten Volk zu gehören, du kannst tun, was du willst, und du kannst alles rechtfertigen, indem du sagst, es sei ein Naturgesetz oder Gottes Wille.«
»Bei uns gibt es ein Sprichwort: ›Mach einem Bauern Mut, und er hüpft zu dir ins Bett.‹«
»Ich mag das andere, das du mir erzählt hast.«
»›Böhnchen für Böhnchen füllt sich das Säckchen‹? Was hat das damit zu tun?«
»Nein, nein, nein. ›Wenn du bei Babys schläfst, wirst du vollgepinkelt.‹ Ich bin vollgepinkelt worden, Koritsimou, und ich wünschte, ich wäre nie zum Militär gegangen. Damals hörte sich das alles gut an, aber du siehst ja, was daraus geworden ist.«
»Antonia hat ihre Saiten verloren, und du steckst voller Draht. Vermisst du die Jungen? Ich schon.«
»Koritsimou, diese Jungen habe ich geliebt, es waren meine Kinder. Wie geht es Lemoni? Wenn wir eine Tochter haben, werden wir sie Lemoni nennen. Nach dem Krieg.«
»Wenn wir zwei Söhne haben, muss der zweite Carlo heißen. Sein Name soll weiterleben, wir sollten jeden Tag an ihn denken.«
»Jede Minute.«
»Carino, glaubst du an Gott und den Himmel und an all das?«
»Nein. Nicht nach alldem, es ergibt keinen Sinn mehr. Wenn du Gott wärst, würdest du das alles zulassen?«
»Ich habe gefragt, weil ich möchte, dass Carlo und die Jungen im Paradies sind. Ich kann mir nicht helfen, also bin ich wohl gläubig.«
»Sag Gott, wenn du Ihn siehst, ich möchte Ihm eins auf die Rübe geben.«
»Küss mich, bald wird’s hell.«
»Ich muss gehen. Morgen bringe ich dir ein Kaninchen mit. Ich habe einen Bau gefunden, und wenn ich mich drüberlege, kann ich eines packen, wenn es rauskommt. Und ich werde für uns noch mehr Schnecken besorgen.«
»Psipsina fängt Kaninchen, aber sie gibt sie nicht her. Sie knurrt und rennt weg.«
»Wenn jetzt Frühling wäre, könnte ich nach Eiern schauen.«
»Nimm mich in die Arme.«
»Santa Maria, meine Rippen.«
»Entschuldige, entschuldige, ich vergesse es andauernd.«
»Ich wünschte, ich könnte das. Merda. Trotzdem, ich liebe dich.«
»Für immer?«
»In Sizilien heißt es, dass ewige Liebe zwei Jahre hält. Zum Glück bin ich kein Sizilianer.«
»Griechische Männer lieben sich und ihre Mütter ewig. Ihre Gattinnen lieben sie sechs Monate lang. Zum Glück bin ich eine Frau.«
»Zum Glück.«
»Wirst du zurückkommen? Nach dem Krieg?«
»Ich werde Antonia als Pfand dalassen. Auf die Art wirst du wissen, dass du mir trauen kannst.«
»Du könntest dir eine andere besorgen.«
»Sie ist unersetzlich.«
»Bin ich nicht auch unersetzlich?«
»Warum vertraust du mir nicht? Warum schaust du mich so an? Weine nicht. Wie könnte ich die Gelegenheit auslassen, einen so tollen Schwiegervater zu bekommen?«
»Scheusal!«
»Au, meine Rippen.«
»Oh, carino, es tut mir so leid.«
»Ich muss gehen. Bis morgen Abend. Küss mich. Ich liebe dich.«
Er verschwand hinaus in die Nacht, kroch von Hecke zu Mauer, fuhr bei dem geringsten Ton zusammen, und bis zur Morgendämmerung war er unter seinen Decken schon in Schlaf gesunken, während die Kalziumklumpen unter seinem Fleisch sich nach und nach zu Knochen verfestigten und zärtliche Erinnerungen seine Träume mit Bildern von Pelagia und seinen Opernsängern füllten. Am frühen Nachmittag wachte er gewöhnlich auf und suchte nach Beeren, machte ein paar Übungen, um seine Finger geschmeidig zu erhalten, und durchsuchte das Unterholz nach Schnecken. Der Arzt ließ ihn nicht nur die Tiere essen, sondern er zerrieb auch die Schneckenhäuser in einem Mörser, und die ganze Familie spülte die körnige Masse mit Wein hinunter, denn es war Dr. Iannis’ Absicht, dass niemand, wie dünn und ausgemergelt er auch war, ohne ein ausgezeichnetes Knochengerüst sein sollte; das war nicht schlechter als die uralten Vorräte vertrockneter Bohnen, die den Bauch füllten, aber Koliken hervorriefen.
Pelagia war hin und her gerissen. Sie wollte ihren Hauptmann auf der Insel behalten, wusste aber, dass sie ihn damit umbringen würde. Es gab Leute, die für Brot jeden Verrat begehen würden, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Nazis etwas von seiner verstohlenen Anwesenheit unter ihnen merkten. Zudem wurde das Wetter schlecht, das Dach der »Casa Nostra« leckte, und der Hauptmann hatte nichts zum Warmhalten im strömenden Regen oder in der unerbittlichen Kälte. Für ihren Vater und sie gab es immer weniger zu essen, und manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie sehnsüchtig auf Spinnen an den Mauern blickte. Sie gab Kokolios und Stamatis den Auftrag, nach dem Verrückten zu suchen, der mit Arsenios umhergewandert war, und ihm zu sagen, er solle sie aufsuchen, wenn er konnte.
Seit einiger Zeit schon hatte Bunny Warren, ausgerüstet mit Goldsovereigns, die britische Politik befolgt, Bootsbesitzer dazu zu ermutigen, den Deutschen die Benutzung ihrer Boote zu verweigern, und es gab nicht wenige überlebende italienische Soldaten, die nachts auf Seefahrzeugen, die aus Streichhölzern gebaut zu sein schienen, in die aber die Besitzer das unbeirrbarste und optimistischste Vertrauen setzten, die Reise nach Siracusa, Bianco oder Valletta angetreten hatten. Von Wellenkamm zu Wellental schaukelten sie wie Nomaden an Schnellbooten und Scheinwerfern, an Schlachtschiffen und Minen vorbei, während die Seeleute aus voller Kehle sangen, ihre Passagiere aber mit aufgerissenen Augen, verfroren und von der Seekrankheit gequält, schließlich auf trockenes Land gelangten und entdeckten, dass die Stille dort sie krank machte.
Deshalb war es für Warren nur Teil seiner Tagesroutine, die Abreise des Hauptmanns in die Wege zu leiten. Um drei Uhr früh stellte er sich bei Pelagias Haus ein und klopfte sacht ans Fenster ihres Zimmers. Als sie sich aus Corellis Armen gelöst hatte, öffnete sie die Fensterläden und erblickte den Mann, dessen Hilfe sie sowohl gesucht wie gefürchtet hatte. »Oha«, sagte er, als er durch die Tür trat, und fügte hinzu: »Kalimera, Kyria Pelagia.« Sehr förmlich gab er ihr die Hand und machte eine Bemerkung über das Wetter.
Bunny Warrens Griechisch war mittlerweile lebhaft und umgangssprachlich, aber er hatte immer noch seinen perfekten englischen Oberklassenakzent. Er schaffte es, den griechischen Begriff für »Gehen wir« zu »In Taxi« zu verwandeln, das seinen englischen Ohren geläufiger war, für ihn einen Sinn ergab, aber auch den Griechen noch verständlich war. Da sein gewöhnliches Sortiment an Adjektiven und Adverbien nicht übertragbar war, mischte er in seine Sätze noch die englischen Ausdrücke für »piekfein«, »einfach mordsmäßig« und »absolut schauderhaft«, deren Wirkung eher verwirrend und überflüssig als unsinnig war.
»Wer ist das?«, fragte Corelli, der einen Augenblick lang befürchtet hatte, die Deutschen wären gekommen.
»Bunnios«, sagte Pelagia, ohne auf seine Frage zu antworten, »das ist ein italienischer Soldat, den wir wegbringen müssen.«
Warren lächelte und streckte die Hand aus. »Ave«, sagte er, da er nicht so ausgiebig Gelegenheit gehabt hatte, sein Italienisch so wie sein Griechisch auf den aktuellen Stand zu bringen. Corelli spürte, dass seine Hand beinahe zerquetscht wurde, und ihm blieb ein übertriebener Eindruck von der allgemeinen Stärke der Briten. Er wusste nicht, dass in England der Versuch, dem anderen die Finger zu brechen, ein Zeichen sowohl von Männlichkeit wie von Gutmütigkeit ist. Er war auch von der schlaksigen Größe des Mannes verblüfft und fühlte sich durch die blauen und äußerst nordischen Augen verstörend an einen Deutschen erinnert.
Es stellte sich heraus, dass in der folgenden Nacht ein Segelboot nach Sizilien auslaufen würde, sofern das Wetter es zuließe, und dass es kinderleicht wäre, den Hauptmann an Bord zu bringen, »obwohl wir den einen oder anderen Drecksflegel abmurksen müssten«. Es ging einfach nur darum, um ein Uhr früh an die Bucht zu gehen und eine abgeschirmte Lampe in Antwort auf die Signale vom Boot zum Meer hin aufblitzen zu lassen. Warren versprach, an Ort und Stelle zu sein, und versicherte ihnen, dass alles wie geschmiert laufen und erstklassig und »tipptopp« ausgehen würde.