Premierminister Metaxas sackte bekümmert in seinen Lieblingssessel in der Villa Kifisia und dachte mit Bitterkeit über die beiden unwägbaren Probleme in seinem Leben nach: »Was mache ich bloß mit Mussolini?« und »Was mache ich bloß mit Lulu?« Es war schwer zu sagen, welches ihm mehr Kummer und Sorge bereitete, denn beide waren zu ungleichen Teilen persönlich und politisch. Metaxas langte nach seinem Tagebuch und schrieb: »Heute Morgen versuchte ich, zu einem Einvernehmen mit Lulu zu kommen. Bis zu einem gewissen Punkt ging es recht gut, doch dann fingen wir wieder zu streiten an. Sie versteht mich einfach nicht. Ich weiß genau, wer sie anstachelt und täuscht. Ich habe sogar mein Treffen mit dem britischen Minister vergessen. Ich bin bis zum Mittag bei ihr geblieben. Sie tut mir so leid. Das Mädchen ist so unheilvoll verstrickt. Lulu, Lulu, meine so überaus geliebte Tochter. Wir sind uns um den Hals gefallen und haben gemeinsam über unser Schicksal geweint.«
Bei Lulu wusste er nie so ganz, was wirklich mit ihr los war; in Athen schienen mehr unwahrscheinliche Legenden über sie zu kursieren als im Altertum Gerüchte über Zeus. Da gab es die Geschichte von dem Polizisten, der seine Hose und seine Dienstmütze verloren hatte, die beide oben an einem Laternenpfahl gefunden wurden. Da war die Geschichte von dem jungen Mann mit dem Bugatti und den wilden Spritztouren nach Piräus – und dann der Bericht, dass sie bei einem englischen Spiel, das »Sardines« hieß, mitgemacht hatte, eine Art Versteckspiel, bei dem die Suchenden sich mit den Gejagten in ihrem Versteck zusammenpferchen mussten; anscheinend war Lulu in enger Umarmung mit einem jungen Mann in einem Schrank aufgespürt worden. Einige Leute meinten, sie rauche Opium und betrinke sich sinnlos. Sie kannte alle diese schnellen amerikanischen Tänze wie den Tango (so unelegant und vulgär, ein sogenannter »Tanz« aus den Bordellen von Buenos Aires), den Quickstepp, die Samba und Tänze mit unübersetzbaren und idiotischen Namen wie Jitterbug, bei dem Hände und Beine rasend herumgewirbelt wurden. Das grenzte schon an Schamlosigkeit. Das roch nach Zuchtlosigkeit und Ausschweifung. Junge Leute waren so leicht zu beeindrucken, neigten zu Marotten und Moden aus so unreifen Kulturen wie der amerikanischen; sie verabscheuten Zucht und Würde, die mit einem natürlichen Gefühl der Selbstachtung einhergehen. Was konnte er da unternehmen? Sie leugnete immer alles oder, schlimmer noch, tat seine Sorgen mit einem Lachen und einer geringschätzigen Geste ab. Weiß Gott, man ist nur einmal jung, aber bei ihr war es einmal zu oft.
Außerdem desavouierte und bekämpfte sie öffentlich seine Politik. Sie war wie Judas. Gerade dies schmerzte so sehr, diese zur Schau gestellte Illoyalität seiner Tochter. Sie liebe ihn, sagte sie. Er war sich auch wirklich sicher, dass sie das tat, aber warum machte sie sich dann über seine Nationale Jugendorganisation lustig? Warum lachte sie bei Witzen über seine kleine Gestalt? Warum war sie so verdammt individualistisch? Erkannte sie nicht, dass sie als eine Art weiblicher Playboy all das infrage stellte, was er sich für Griechenland wünschte? Wie konnte er über die Plutokraten herziehen, wenn seine eigene Tochter sich mit den schlimmsten von ihnen einließ und vergnügte? Wie konnte er da noch für Zucht und Selbstaufopferung eintreten?
Gott sei Dank hatte er die Presse zum Schweigen gebracht, denn jeder Pressefritze im Land hatte eine pikante Lulu-Geschichte parat. Gott sei Dank waren seine Minister zu diskret, um davon zu reden; Gott sei Dank hatte ihn die Respektlosigkeit noch nicht betroffen. Doch das hielt Leute wie Grazzi nicht davon ab, auf ihre schmierige Art zu lächeln und zu fragen: »Und wie geht es Ihrer lieben Tochter Lulu? Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie eine missratene kleine Göre ist. Ach, was wir Väter zu leiden haben!« Konnte er nicht schon das Lachen und Flüstern hinter seinem Rücken hören? Dass er ganz Griechenland beherrschte, aber seine Tochter nicht unter Kontrolle hatte? Anscheinend war sogar die Geheimpolizei zu peinlich berührt, um über ihre Eskapaden eingehend Bericht zu erstatten. Es hieß, dass Leute, wenn sie zu Partys einluden, ihre Gäste beschworen: »Bring bloß nicht Lulu mit.« Kummer und Scham waren schon nicht mehr auszuhalten.
Draußen verstärkten die stumme Ruhe der Pinien und das grelle Leuchten der Scheinwerfer das Gefühl, ein Gefangener hinter seinen eigenen Eisentoren geworden zu sein; er hatte die Anforderungen an die klassische Tragödie erfüllt, indem er die Umstände seiner eigenen Verstrickung selbst geschaffen hatte. Ganz Griechenland war auf diese bescheidene pseudobyzantinische Villa und ihr bürgerliches Mobiliar zusammengeschrumpft, aus dem ganz einfachen Grund, weil er das Schicksal und die Ehre seiner geliebten Heimat in der Hand hielt. Er besah sich seine Hände und dachte darüber nach, dass sie so klein waren wie alles an ihm. Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, er hätte sich lieber im Rang eines Obersts pensionieren lassen und in aller Stille an einen unbekannten Flecken ziehen sollen, einen Ort, wo er unbehelligt leben und sterben konnte.
Mit dem Sterben hatte er sich in letzter Zeit viel beschäftigt, denn er hatte gemerkt, dass sein Körper ihm den Dienst versagte. Ihm fehlte nichts Bestimmtes, es gab keinen Katalog verräterischer Symptome, er fühlte sich nur erschöpft genug zum Sterben. Er wusste, dass diejenigen, die an der Schwelle zum Tod stehen, von einer Art losgelöstem und ergebenem Gram befallen werden, und genau diese Losgelöstheit und Ergebenheit bemächtigten sich seiner, während die äußeren Umstände ihn gleichzeitig zwangen, in ungekanntem Maße Stärke, Zielstrebigkeit und hehre Gesinnung an den Tag zu legen. Manchmal wollte er die Zügel des Staates in andere Hände legen, aber er wusste, dass das Schicksal ihn zum Protagonisten in der Tragödie ausgesucht hatte und er gar keine andere Wahl hatte, als den Schwertknauf zu packen und blankzuziehen. »Ich hätte noch so viele Dinge erledigen sollen«, dachte er, und es dämmerte ihm, dass das Leben so angenehm hätte werden können, wenn er vor dreißig Jahren schon gewusst hätte, wie das Ergebnis der ärztlichen Untersuchungen zu diesem damals noch weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt ausfallen würde, der langsam, aber bedrohlich auf ihn zugekommen und zur unausweichlichen, harten und unerträglichen Gegenwart geworden war. »Wenn ich mein Leben im Bewusstsein dieses Todes zugebracht hätte, wäre alles anders gewesen.«
Er blickte im Geist zurück auf das unwahrscheinliche Auf und Ab seiner Laufbahn und fragte sich, ob die Geschichte barmherzig mit ihm umgehen würde. Es war ein weiter Weg gewesen von der Preußischen Militärakademie in Berlin bis hierher; es kam ihm so vor, als hätte er in einem anderen Leben schon Respekt bekommen vor dem teutonischen Sinn für Ernsthaftigkeit, Zucht und Ordnung, vor genau den Eigenschaften, die er seiner Heimat hatte einflößen wollen. Er hatte die allererste Grammatik der Landessprache in Auftrag gegeben und zur Pflichtlektüre in den Schulen gemacht, weil er die Theorie vertrat, dass das Erlernen der Grammatik logisches Denken fördern und daher die ungestüme Eigenwilligkeit der Griechen zügeln würde.
Er erinnerte sich an das Fiasko des Großen Krieges, als Venizelos sich der Entente hatte anschließen wollen, der König aber für Neutralität eingetreten war. Damals hatte er damit argumentiert, dass Bulgarien die Gelegenheit zu einer Invasion ergreifen würde, wenn Griechenland beiträte; wie edelmütig er seinen Posten als Stabschef geräumt, wie vornehm er das Exil hingenommen hatte. Den versuchten Putsch von 1923 wollte er lieber vergessen. Und nun sah es so aus, als würde Bulgarien tatsächlich eine Invasion vorbereiten und die Gelegenheit ausnutzen, die ihm diesmal von Italien durch den Versuch geboten wurde, das von den Türken hinterlassene Machtvakuum auszufüllen.
Er dachte daran, wie er den Streik der Tabakarbeiter in Saloniki niedergeschlagen hatte; zwölf waren gestorben. Wegen dieser Unruhen hatte er den König überzeugen können, die Verfassung aufzuheben, um den Kommunisten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er hatte den König so weit gebracht, ihn zum Ministerpräsidenten zu machen, obwohl er bloß der Anführer der unbedeutendsten Rechtsaußenpartei im Lande war. Doch warum hatte er das getan?
»Metaxas«, überlegte er, »die Geschichte wird sagen, es sei Opportunismus gewesen, weil du mit demokratischen Mitteln nicht zum Ziel gekommen wärst. Es wird niemand zur Hand sein, um an meiner Stelle die Wahrheit zu verkünden, die da lautet, dass es eine Krise gab und unsere Demokratie zu lax war, um sie zu überwinden. Was hätte sein sollen, das ist immer leicht gesagt, viel schwerer fällt es, die unerbittliche Macht der Notwendigkeit anzuerkennen. Ich habe die Notwendigkeit verkörpert, das war alles. Wenn nicht ich, dann hätte es ein anderer getan. Zumindest habe ich den Deutschen keinen Einfluss eingeräumt, obwohl sie weiß Gott schon fast die gesamte Wirtschaft in der Hand hatten. Zumindest habe ich die Beziehungen zu den Briten aufrechterhalten, zumindest habe ich versucht, die glorreichen Errungenschaften der mittelalterlichen und antiken Kultur zu einer neuen Kraft zu verschmelzen. Niemand wird mir je nachsagen können, dass ich nicht das Wohl Griechenlands im Auge gehabt hätte. Mit Griechenland bin ich wahrhaftig verheiratet gewesen. Vielleicht wird die Geschichte mich in Erinnerung behalten als den Mann, der den Vortrag der Grabrede von Perikles verbot und die Bauern vergraulte, indem er die Zahl der Ziegen begrenzte, die unsere Wälder ruinieren. O Gott, vielleicht werde ich nichts als ein lächerliches Männlein gewesen sein. Aber ich habe mein Bestes getan, habe alles unternommen, um uns auf diesen Krieg vorzubereiten, den ich immer noch zu vermeiden suche. Ich habe Eisenbahnen und Bunker gebaut, habe die Reserve einberufen, habe die Bevölkerung durch Ansprachen vorbereitet, habe bis zur Lächerlichkeit diplomatisch antichambriert. Soll die Geschichte doch sagen, dass ich der Mann gewesen bin, der alles nur Mögliche zur Rettung seines Heimatlandes unternommen hat. Alles endet im Tode.«
Aber es war nicht daran zu zweifeln, dass er zu sehr von einem Geschichtsbewusstsein, von der Vorstellung besessen gewesen war, er sei dazu berufen, eine messianische Mission zu erfüllen. Er hatte gedacht, niemand außer ihm hätte das griechische Volk am Schlafittchen packen und mit Tritten und Vorhaltungen zum rechten Ziel schleifen können. Er war sich wie ein Arzt vorgekommen, der dem Patienten wehtun musste und dabei wusste, dass dieser zwar fluchen und protestieren, ihn aber später doch dankbar mit Blumen bekränzen würde. Er hatte immer das getan, was er für richtig hielt, doch vielleicht hatte ihn am Ende nur Eitelkeit getrieben, etwas so Schlichtes und Schändliches wie Größenwahn.
Doch nun hatte er seine geistige Feuerprobe zu bestehen, und er wusste, dass sein Charakter im Schmelzofen des Schicksals geprüft wurde. Würde er der Mann werden, der Griechenland rettete? Der Mann, der Griechenland hätte retten können, es aber nicht tat? Der Mann, der Griechenland nicht hatte retten können, aber sich nach besten Kräften bemüht hatte, dessen Ehre zu bewahren? Das war es; es ging vor allem um die persönliche und nationale Ehre, weil am wichtigsten war, dass Griechenland diese Prüfung überstand, ohne der Niedertracht bezichtigt zu werden. Wenn Soldaten tot sind, wenn ein Land verwüstet und zerstört ist, überlebt und überdauert nur die Ehre. Die Ehre haucht einem Gefallenen wieder Leben ein, wenn die schlimmen Zeiten vorüber sind.
War es nicht eine Form von Ironie, dass sich das Schicksal so über ihn mokierte? Hatte er sich nicht selbst die Rolle des »Ersten Bauern«, des »Ersten Arbeiters«, des »Landesvaters« ausgesucht? Hatte er sich nicht mit den pompösen Insignien eines modernen Faschisten umgeben? Einem »Regime des 4. August 1936«? Einer dritten hellenischen Kultur als Antwort auf Hitlers Drittes Reich? Einer Nationalen Jugendorganisation, die Paraden abhielt und Fahnen schwenkte, genau wie die Hitlerjugend? Verachtete er nicht Liberale, Kommunisten und Parlamentarismus ebenso sehr wie Franco, Salazar, Hitler und Mussolini? Hatte er nicht unter den Linken Zwietracht gesät, wie es im Buche stand? Was allerdings wäre leichter gewesen angesichts ihres lächerlichen Parteiengezänks und ihres Übereifers, sich wegen falschen Bewusstseins und aller überhaupt nur denkbaren ideologischen Abweichungen gegenseitig zu verraten? Hatte er nicht die Plutokratie angeprangert? Kannte nicht die Geheimpolizei das exakte Aroma und die chemische Zusammensetzung jedes subversiven Furzes in Griechenland?
Warum also hatten ihn seine internationalen Brüder im Stich gelassen? Warum sandte ihm Ribbentrop abwiegelnde Beteuerungen, die nicht zu glauben waren? Warum tüftelte Mussolini Grenzzwischenfälle und diplomatische Zwickmühlen aus? Was war schiefgegangen? Wie war es gekommen, dass er durch Ausnutzen der Zeitströmungen zu solcher Höhe aufgestiegen war, nur um am Ende vor der größten Krise in der modernen Geschichte seines Vaterlandes zu stehen, die von genau den Personen herbeigeführt worden war, die er sich als Vorbilder und Mentoren gewählt hatte? War das nicht Ironie, dass er heutzutage nur noch den Briten vertrauen konnte – den parlamentaristischen, liberalen, demokratischen und plutokratischen Briten?
Ministerpräsident Metaxas schrieb die Unterschiede zwischen sich und den anderen auf einen Zettel. Er war kein Rassist. Das besagte nicht viel. Plötzlich kam ihm ein Gedanke in den Sinn, der eigentlich auf der Hand lag: Die anderen wollten Imperien und waren damit beschäftigt, sie aufzubauen, wohingegen er immer nur die Vereinigung aller Griechen gewollt hatte. Er wollte Mazedonien, Zypern, die Dodekanes und – wenn Gott ihm gnädig war – Konstantinopel. Er wollte nicht Nordafrika, wie Mussolini, und schon gar nicht die ganze Welt, wie Hitler.
Vielleicht sahen ihn die anderen an und meinten, ihm fehle der Ehrgeiz; der Drang zur Größe, der grundlegende Wille zur Macht eines Übermenschen sei bei ihm nicht ausgeprägt und deswegen stehe er als Pudel unter Wölfen da. In der neuen Welt, in der die Stärksten das Recht zu herrschen hatten, eben weil sie die Stärksten waren, in der Stärke eine natürliche Überlegenheit anzeigte, in der natürliche Überlegenheit einem das moralische Recht gab, andere Völker und minderwertigere Rassen zu vereinnahmen, war er eine Anomalie. Er wollte nur sein eigenes Volk. Deswegen war Griechenland eine natürliche Zielscheibe. Metaxas schrieb das Wort »Pudel« hin und strich es dann wieder aus. Er schaute auf die zwei Wörter »Rassismus« und »Imperium«. »Die glauben, dass wir minderwertig sind«, murmelte er, »die wollen uns ihrem Imperium einverleiben.« Es war ekelhaft und empörend, es war zum Verzweifeln. Er klammerte die beiden Wörter ein und schrieb »NEIN« daneben. Er stand auf und trat ans Fenster, um auf die friedlichen Pinien hinauszublicken. Auf das Fensterbrett gelehnt, dachte er über die erhabene Unschuld dieser träumenden, vom Mond versilberten Bäume nach. Ein Schauder überlief ihn, dann richtete er sich auf. Er hatte eine Entscheidung gefällt: Es würde eine zweite Schlacht bei den Thermopylen geben. Wenn dreihundert Spartaner den fünf Millionen tapfersten Persern standhalten konnten, was konnte er dann erst mit zwanzig Divisionen gegen die Italiener ausrichten? Wenn es nur so einfach wäre, sich auf die schreckliche und endlose Einsamkeit des Todes einzustellen. Wenn es nur so einfach wäre, mit Lulu zurechtzukommen.