Der Mann, der Nein sagte

Premierminister Metaxas sackte bekümmert in seinen Lieblingssessel in der Villa Kifisia und dachte mit Bitterkeit über die beiden unwägbaren Probleme in seinem Leben nach: »Was mache ich bloß mit Mussolini?« und »Was mache ich bloß mit Lulu?« Es war schwer zu sagen, welches ihm mehr Kummer und Sorge bereitete, denn beide waren zu ungleichen Teilen persönlich und politisch. Metaxas langte nach seinem Tagebuch und schrieb: »Heute Morgen versuchte ich, zu einem Einvernehmen mit Lulu zu kommen. Bis zu einem gewissen Punkt ging es recht gut, doch dann fingen wir wieder zu streiten an. Sie versteht mich einfach nicht. Ich weiß genau, wer sie anstachelt und täuscht. Ich habe sogar mein Treffen mit dem britischen Minister vergessen. Ich bin bis zum Mittag bei ihr geblieben. Sie tut mir so leid. Das Mädchen ist so unheilvoll verstrickt. Lulu, Lulu, meine so überaus geliebte Tochter. Wir sind uns um den Hals gefallen und haben gemeinsam über unser Schicksal geweint.«

Bei Lulu wusste er nie so ganz, was wirklich mit ihr los war; in Athen schienen mehr unwahrscheinliche Legenden über sie zu kursieren als im Altertum Gerüchte über Zeus. Da gab es die Geschichte von dem Polizisten, der seine Hose und seine Dienstmütze verloren hatte, die beide oben an einem Laternenpfahl gefunden wurden. Da war die Geschichte von dem jungen Mann mit dem Bugatti und den wilden Spritztouren nach Piräus – und dann der Bericht, dass sie bei einem englischen Spiel, das »Sardines« hieß, mitgemacht

Außerdem desavouierte und bekämpfte sie öffentlich seine Politik. Sie war wie Judas. Gerade dies schmerzte so sehr, diese zur Schau gestellte Illoyalität seiner Tochter. Sie liebe ihn, sagte sie. Er war sich auch wirklich sicher, dass sie das tat, aber warum machte sie sich dann über seine Nationale Jugendorganisation lustig? Warum lachte sie bei Witzen über seine kleine Gestalt? Warum war sie so verdammt individualistisch? Erkannte sie nicht, dass sie als eine Art weiblicher Playboy all das infrage stellte, was er sich für Griechenland wünschte? Wie konnte er über die Plutokraten herziehen, wenn seine eigene Tochter sich mit den schlimmsten von ihnen einließ und vergnügte? Wie konnte er da noch für Zucht und Selbstaufopferung eintreten?

Gott sei Dank hatte er die Presse zum Schweigen

Draußen verstärkten die stumme Ruhe der Pinien und das grelle Leuchten der Scheinwerfer das Gefühl, ein Gefangener hinter seinen eigenen Eisentoren geworden zu sein; er hatte die Anforderungen an die klassische Tragödie erfüllt, indem er die Umstände seiner eigenen Verstrickung selbst geschaffen hatte. Ganz Griechenland war auf diese bescheidene pseudobyzantinische Villa und ihr bürgerliches Mobiliar zusammengeschrumpft, aus dem ganz einfachen Grund, weil er das Schicksal und die Ehre seiner geliebten Heimat in der Hand hielt. Er besah sich seine Hände und dachte darüber nach, dass sie so klein waren wie alles an ihm. Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, er hätte sich lieber im Rang eines Obersts pensionieren lassen und in aller Stille an einen unbekannten Flecken ziehen sollen, einen Ort, wo er unbehelligt leben und sterben konnte.

Mit dem Sterben hatte er sich in letzter Zeit viel beschäftigt, denn er hatte gemerkt, dass sein Körper ihm den Dienst versagte. Ihm fehlte nichts Bestimmtes, es gab keinen Katalog

Er blickte im Geist zurück auf das unwahrscheinliche Auf und Ab seiner Laufbahn und fragte sich, ob die Geschichte barmherzig mit ihm umgehen würde. Es war ein weiter Weg gewesen von der Preußischen Militärakademie in Berlin bis hierher; es kam ihm so vor, als hätte er in einem anderen Leben schon Respekt bekommen vor dem teutonischen Sinn für Ernsthaftigkeit, Zucht und Ordnung, vor genau den Eigenschaften, die er seiner Heimat hatte einflößen wollen. Er hatte die allererste Grammatik der Landessprache in Auftrag gegeben und zur Pflichtlektüre in den Schulen gemacht, weil er die Theorie vertrat, dass das Erlernen der Grammatik logisches Denken fördern und daher die ungestüme Eigenwilligkeit der Griechen zügeln würde.

Er dachte daran, wie er den Streik der Tabakarbeiter in Saloniki niedergeschlagen hatte; zwölf waren gestorben. Wegen dieser Unruhen hatte er den König überzeugen können, die Verfassung aufzuheben, um den Kommunisten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er hatte den König so weit gebracht, ihn zum Ministerpräsidenten zu machen, obwohl er bloß der Anführer der unbedeutendsten Rechtsaußenpartei im Lande war. Doch warum hatte er das getan?

»Metaxas«, überlegte er, »die Geschichte wird sagen, es sei Opportunismus gewesen, weil du mit demokratischen Mitteln nicht zum Ziel gekommen wärst. Es wird niemand zur Hand sein, um an meiner Stelle die Wahrheit zu verkünden, die da lautet, dass es eine Krise gab und unsere Demokratie zu lax war, um sie zu überwinden. Was hätte sein sollen, das ist immer leicht gesagt, viel schwerer fällt es, die unerbittliche Macht der Notwendigkeit anzuerkennen. Ich habe die Notwendigkeit verkörpert, das war alles. Wenn nicht ich, dann hätte es ein anderer getan. Zumindest habe ich den Deutschen keinen Einfluss eingeräumt, obwohl sie weiß Gott schon fast die gesamte Wirtschaft in der Hand hatten. Zumindest habe ich die Beziehungen zu den Briten aufrechterhalten, zumindest habe ich versucht, die glorreichen Errungenschaften der

Aber es war nicht daran zu zweifeln, dass er zu sehr von einem Geschichtsbewusstsein, von der Vorstellung besessen gewesen war, er sei dazu berufen, eine messianische Mission zu erfüllen. Er hatte gedacht, niemand außer ihm hätte das griechische Volk am Schlafittchen packen und mit Tritten und Vorhaltungen zum rechten Ziel schleifen können. Er war sich wie ein Arzt vorgekommen, der dem Patienten wehtun musste und dabei wusste, dass dieser zwar fluchen und protestieren, ihn aber später doch dankbar mit Blumen bekränzen würde. Er hatte immer das getan, was er für richtig hielt, doch vielleicht hatte ihn am Ende nur Eitelkeit getrieben, etwas so Schlichtes und Schändliches wie Größenwahn.

Doch nun hatte er seine geistige Feuerprobe zu bestehen, und er wusste, dass sein Charakter im Schmelzofen des Schicksals geprüft wurde. Würde er der Mann werden, der Griechenland rettete? Der Mann, der Griechenland hätte

War es nicht eine Form von Ironie, dass sich das Schicksal so über ihn mokierte? Hatte er sich nicht selbst die Rolle des »Ersten Bauern«, des »Ersten Arbeiters«, des »Landesvaters« ausgesucht? Hatte er sich nicht mit den pompösen Insignien eines modernen Faschisten umgeben? Einem »Regime des 4. August 1936«? Einer dritten hellenischen Kultur als Antwort auf Hitlers Drittes Reich? Einer Nationalen Jugendorganisation, die Paraden abhielt und Fahnen schwenkte, genau wie die Hitlerjugend? Verachtete er nicht Liberale, Kommunisten und Parlamentarismus ebenso sehr wie Franco, Salazar, Hitler und Mussolini? Hatte er nicht unter den Linken Zwietracht gesät, wie es im Buche stand? Was allerdings wäre leichter gewesen angesichts ihres lächerlichen Parteiengezänks und ihres Übereifers, sich wegen falschen Bewusstseins und aller überhaupt nur denkbaren ideologischen Abweichungen gegenseitig zu verraten? Hatte er nicht die Plutokratie angeprangert? Kannte nicht die Geheimpolizei das exakte Aroma und die chemische Zusammensetzung jedes subversiven Furzes in Griechenland?

Warum also hatten ihn seine internationalen Brüder im Stich gelassen? Warum sandte ihm Ribbentrop abwiegelnde Beteuerungen, die nicht zu glauben waren? Warum tüftelte Mussolini Grenzzwischenfälle und diplomatische Zwickmühlen aus? Was war schiefgegangen? Wie war es gekommen, dass er

Ministerpräsident Metaxas schrieb die Unterschiede zwischen sich und den anderen auf einen Zettel. Er war kein Rassist. Das besagte nicht viel. Plötzlich kam ihm ein Gedanke in den Sinn, der eigentlich auf der Hand lag: Die anderen wollten Imperien und waren damit beschäftigt, sie aufzubauen, wohingegen er immer nur die Vereinigung aller Griechen gewollt hatte. Er wollte Mazedonien, Zypern, die Dodekanes und – wenn Gott ihm gnädig war – Konstantinopel. Er wollte nicht Nordafrika, wie Mussolini, und schon gar nicht die ganze Welt, wie Hitler.

Vielleicht sahen ihn die anderen an und meinten, ihm fehle der Ehrgeiz; der Drang zur Größe, der grundlegende Wille zur Macht eines Übermenschen sei bei ihm nicht ausgeprägt und deswegen stehe er als Pudel unter Wölfen da. In der neuen Welt, in der die Stärksten das Recht zu herrschen hatten, eben weil sie die Stärksten waren, in der Stärke eine natürliche Überlegenheit anzeigte, in der natürliche Überlegenheit einem das moralische Recht gab, andere Völker und minderwertigere Rassen zu vereinnahmen, war er eine Anomalie. Er wollte nur sein eigenes Volk. Deswegen war Griechenland eine natürliche Zielscheibe. Metaxas schrieb das Wort »Pudel« hin und strich es dann wieder aus. Er schaute auf die zwei Wörter »Rassismus« und »Imperium«. »Die glauben, dass wir minderwertig sind«, murmelte er, »die wollen uns ihrem Imperium einverleiben.« Es war ekelhaft und empörend, es war zum Verzweifeln. Er klammerte die