Die Auferstehung der Geschichte

Das Erdbeben änderte das Leben auf der Insel so grundlegend, dass es bis zum heutigen Tag das allerwichtigste Gesprächsthema ist. Wenn anderswo Familien darüber diskutieren, ob der Sozialismus eine Zukunft hat oder ob es eine gute Idee war, die Monarchie abzuschaffen, reden die Kephallonier darüber, ob es ein neues Erdbeben geben wird und ob es so schlimm wie das letzte sein wird. Sie leben im Schatten der Apokalypse, und wenn sie offenbar über den Sozialismus oder die Monarchie reden, denken sie in Wirklichkeit an 1953. Das zeigt sich dann an einer Pause, in der jemand vergisst, was gerade gesprochen wurde, oder an einem kurzfristigen Anhalten der Gabel auf dem Weg zum Mund. Wie in der Ballade vom alten Seemann können sie es nicht lassen, sich Fremde vorzuknöpfen und mit allen Fakten zu behelligen, und Fremdenführer werden die Einzelheiten in Sätze einbauen, die eigentlich von den guten Wetteraussichten hätten handeln sollen. Alte Menschen legen ein Jahr dadurch fest, dass sie erwähnen, ob es vor oder nach dem Erdbeben war, genauso wie sich der Brauch gehalten hat, die Ereignisse des Jahres danach einzuteilen, ob sie vor oder nach dem Fest des Heiligen stattfanden. Die Katastrophe ließ den Leuten den Krieg vergleichsweise belanglos vorkommen, und sie erneuerte ihr Lebensgefühl. Nun war es möglich, am Morgen aufzuwachen und verwundert und dankbar dafür zu sein, noch zu leben und in einem festen Haus zu wohnen,

Liebespaare, die gezaudert hatten, heirateten vom Fleck weg, und seit langer Zeit unglücklich verheiratete Paare sahen einander verwundert über so viel vergeudete Jahre an und ließen sich auf der Stelle scheiden. Enge Familienbande wurden noch enger, und weitläufig verwandte Streithähne emigrierten in verschiedene Länder, um das Meer zwischen sich zu haben.

Die drei Bewohnerinnen des neuen Matriarchenhauses wuchsen enger zusammen, wandten den Blick ihrem häuslichen Miteinander zu und richteten ihr Leben auf die eine Säule von Pelagias furchtbarer Schuld aus. In Anfällen von Schlaflosigkeit und gelegentlicher Hysterie warf sie sich gnadenlos vor, den Tod ihres Vaters verschuldet zu haben. »Er war siebzig«, sagte Drosoula einsichtig, »und schuldete Gott einen Tod. Es war das Beste für ihn, bei dem Versuch, uns zu retten, zu sterben, und das so schnell.«

Doch Pelagia wollte nichts davon hören. Sie wusste, dass im Augenblick der Katastrophe ihr Verstand von nichts anderem als dem Bedürfnis, sich selbst zu retten, erfüllt war, und sie wusste, dass sie, als ihr Vater hingefallen war, ihn ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben durch die Tür hätte ziehen sollen, bevor das Dach einfiel. Immer wieder spielte sie in Gedanken durch, wie sie so machtlos wie eine Schmeißfliege im Sturm geworden, wie jeder vernünftige Gedanke aus ihrem Verstand gehämmert und wie die Blutsbande und Zuneigung durch das ehrfurchtgebietende Brüllen und Wogen der Erde annulliert worden waren. Aber es führte zu nichts. Was sie auch an Rationalisierungen und Entschuldigungen vorbrachte, es blieb doch die unumstößliche Tatsache, dass sie ihren eigenen Vater in der Stunde seiner größten Not im Stich gelassen hatte; er hatte sie gerettet, indem er sie zum Handeln angespornt hatte, doch sie hatte ihn sterben lassen.

Sie versank in einen Sumpf aus Selbstvorwürfen und Gewissensbissen. Sie vernachlässigte ihr Äußeres und ihre Haushaltspflichten, saß lieber an seinem Grab und beobachtete die ewige Flamme, die sie in einer roten Gaslaterne hütete. Sie zerbiss sich die Lippen, bis sie bluteten, und wünschte sich, sie könnte mit ihm reden. Sie hätte durch die schwarze Marmorplatte mit seinem alten, aber fröhlichen Foto sprechen können, hielt sich aber nicht für wert, ihn anzureden. Mit ungekämmtem ergrauendem Haar und bleichem Gesicht saß sie bloß da und sah zu, als erwartete sie, dass sein Schatten sich aus der Erde erhob und sie mit Vorwürfen überhäufte. Wenn im Januar ein kräftiger Wind blies oder ein Sturm tobte, zog sie ihren schwarzen Schal übers Haupt, erhob sich von ihrem Stuhl neben dem Herd, zog den Kopf ein, um gegen die Elemente anzukämpfen, und mühte sich auf ihrer endlos wiederholten Pilgerschaft den Hügel hinauf, nur von dem einen Gedanken besessen, dass seine Flamme verlöschen könnte. Sie kniete sich in den heulenden Wind und beugte sich über die Laterne, um sie vor dem Regen zu schützen, wärmte die Hände am Glas und wandelte ihr Leben in eine lange Buße und Abbitte um. Sie war in jener Zeit imstande, zu glauben, dass Gott ihr Antonio weggenommen hatte, weil Er in seiner göttlichen Voraussicht gewusst hatte, dass sie eines Tages ihren Vater im Stich lassen würde, und den Tod des Ersteren als ihre Strafe auserkoren, während er den des Letzteren als ihre Sünde vorhergesehen hatte. Drosoula konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie und Antonia gezwungen gewesen waren, zum Friedhof zu gehen und besorgt und flehend Pelagia wegzuzerren, deren Hände zitterten und deren Beine von den Knien abwärts wie aus Butter zu sein schienen.

Eines Tages hielten es Antonia und Drosoula nicht mehr aus; ihr Mitleid hatte sich Schritt für Schritt unmerklich in

»Ist das der Geist, von dem sie dauernd spricht?«

»Ja. Er hieß Corelli, ein Musiker.«

»Glaubst du, dass sie ihn wirklich sieht, oder meinst du, sie ist verrückt geworden?«

»Vorher ist sie nicht verrückt gewesen. Geister haben es so an sich, dass sie jedem beliebigen Menschen erscheinen und niemand sonst sie sehen kann. Nach Großvaters Tod ist etwas in ihr zerbrochen.«

Das Mädchen erschauerte: »Armer Großvater.«

»Ich überlege schon, ob wir nicht den Priester um Rat fragen sollen«, meinte Drosoula.

»Aber der ist doch auch verrückt, schon seit dem Erdbeben. Was ist, wenn wir uns als Großvaters Geist verkleiden, vor ihr erscheinen und ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld war?«

Drosoula zog die Stirn in Falten. »Das ist eine gute Idee, aber Pelagia ist ja nicht dumm, auch wenn sie zerbrochen ist. Weißt du, es ist nicht so einfach, als Geist aufzutreten. Ich bin zu groß, und du bist zu klein, und wir können überhaupt nicht wie er sprechen. All diese Wörter, die drei Seiten lang sind, wenn du sie hinschreibst, und die Sätze, die über ein ganzes Buch von Anfang bis Ende gehen können, und du musst auch bedenken, dass dadurch alles noch schlimmer werden könnte.«

»Warum binden wir sie nicht einfach ans Bett und schlagen sie?«

Drosoula seufzte sehnsüchtig bei dem verlockenden Bild und fragte sich, ob es funktionieren würde oder nicht. Früher, als sie noch ein Kind in der Türkei war, hatten sie die Irrsinnigen geheilt, indem sie sie so lange schlugen, bis sie

Und so verkündete Antonia beim Frühstück am nächsten Morgen: »Ich habe heute Nacht von Opa geträumt.«

»Das ist komisch«, sagte Drosoula, »ich auch.«

Sie blickten Pelagia an, ob sie etwa reagierte, aber sie fuhr lediglich fort, ein Stück Brot in kleine Brocken zu reißen.

»Er hat mir gesagt, er sei froh, dass er tot ist«, sagte Antonia, »weil er jetzt bei der Mutter von Mama ist.«

»Mir hat er das nicht gesagt«, erwiderte Drosoula, woraufhin Pelagia fragte: »Warum redet ihr so, als wär ich nicht da?«

»Du bist es ja auch nicht«, bemerkte Drosoula barsch. »Du bist schon lange nicht mehr da.«

»Was hat er dir denn gesagt?«, wollte Antonia wissen.

»Mir hat er gesagt, dass er will, dass Mama die Geschichte Kephallonias schreibt, die bei dem Erdbeben verschüttet wurde, dass sie sie für ihn zu Ende bringt. Er hat gesagt, das Wissen, dass sie verloren gegangen ist, verdirbt ihm den ganzen Spaß am Totsein.«

Pelagia beäugte sie argwöhnisch, aber die beiden ignorierten sie weiterhin. Antonia entdeckte allmählich, dass diese Schauspielerei ungeheuer amüsant sein konnte. »Ich hab gar nicht gewusst, dass er an einer Geschichte geschrieben hat.«

»Aber ja doch, sie war ihm wichtiger als sein Arztberuf.«

Antonia wandte sich an Pelagia und wollte in aller Unschuld wissen: »Wirst du sie also schreiben?«

»Ich bin hier«, wandte Pelagia ein.

»Schön, dass du wieder da bist«, meinte Drosoula sarkastisch.

Pelagia ging wieder auf den Friedhof und erneuerte das Öl im ewigen Licht. Sie stand da und betrachtete die Inschrift (Geliebter Vater und Großvater, Treuer Gatte, Freund der Armen, Heiler aller Lebewesen, unendlich gebildet und tapfer), und ihr fiel ein, dass es tatsächlich einen Weg gab, seine Flamme am Leben zu erhalten, selbst wenn all das Getue um die Träume Humbug war. Sie ging nach Argostoli, fuhr hinten auf einem Mulikarren mit und kam mit Füllern und einem dicken Stoß Papier zurück.

Es ging überraschend einfach. Sie hatte das Manuskript so oft durchgelesen, dass all die alten Sätze durch die Tür und die Fenster der Küche hereinrollten, sich unhörbar vernehmlich machten, in ihren rechten Arm und weiter in die Hand flossen, aus der Spitze ihrer Feder austraten und eine Seite Papier nach der anderen füllten. »Die halb vergessene Insel Kephallonia erhebt sich leichtsinnig und unbesonnen aus dem Ionischen Meer; es ist eine so ungeheuer geschichtsträchtige Insel, dass selbst die Felsen noch Nostalgie ausdünsten und die rote Erde nicht nur von der Sonne betäubt daliegt, sondern auch vom unsäglichen Gewicht der Erinnerung …«

Drosoula und Antonia beobachteten sie heimlich, wie sie gelehrtenhaft an ihrem Tisch saß, mit der Feder an ihre Zähne tippte und immer wieder mit leerem Blick aus dem Fenster starrte. Die beiden Verschwörerinnen stahlen sich weit genug weg, umarmten einander und führten einen Freudentanz auf.

Pelagia verwandelte sich beinahe in den Arzt. Wie in der Zeit ihres Kummers und wie er zu seinen Lebzeiten tat sie praktisch nichts mehr im Haus, überließ alles den Frauen. Von den wenigen aus den Ruinen gebuddelten Andenken

Die Freude daran verwandelte sie. Ihr Akt töchterlicher Ergebenheit machte eine Metamorphose durch und wuchs sich aus zu einem großen Vorhaben, das Ausflüge in die Bibliothek und ernsthafte Nachforschungsschreiben an Bildungsstätten, Schifffahrtsmuseen, die British Library, Napoleon-Experten und amerikanische Professoren für Geschichte der Großmächte nach sich zog. Zu ihrer Verwunderung und Zufriedenheit entdeckte sie, dass es überall auf der Welt Menschen gab, die so auf Wissen und dessen schlüssige Erklärung versessen waren, dass sie sogar monatelang für sie recherchierten und ihr schließlich zusammen mit persönlichen Worten der Ermunterung und mit Listen anderer Fachgelehrter und Institutionen, die sie konsultieren sollte, viel mehr zusandten, als sie erbeten hatte. Als der Stapel mit der Korrespondenz immer höher wurde, sah sie sich schon in Gefahr, am Ende eine »Universalgeschichte der ganzen Welt« zu schreiben,

Sie war mit dem Projekt bis 1961 beschäftigt, dem Jahr, in dem Karamanlis die Wahl gegen Papandreou gewann, und am Jahresende sah sie ihr gewaltiges Dokument durch und erkannte, dass sich im Verlauf seiner Abfassung und Zusammenstellung in ihr ein Wandel vollzogen hatte.

Die Handschrift war am Anfang so spinnenbeinig und krakelig wie bei ihrem Vater während der langen Jahre seines Schweigens, aber im Lauf der Zeit war sie fester und abgerundeter geworden, sicherer und bestimmter. Aber noch wichtiger war, dass der Schreibprozess bei ihr Meinungen und philosophische Haltungen herauskristallisiert hatte, von deren Vorhandensein sie nichts gewusst hatte. Sie entdeckte, dass ihr Grundverständnis der ökonomischen Prozesse marxistisch war, dass sie aber paradoxerweise dachte, der Kapitalismus könnte am besten mit den Problemen umgehen. Sie

Drosoula besaß zu viel gesunden Menschenverstand, um den großartigen Theorien zuzuhören, und so impfte Pelagia diese Ideen der heranwachsenden Antonia ein. Die beiden blieben bis spät in die Nacht wach, vom Philosophieren zu berauscht, um sich loszureißen und die Blase zu leeren, die vor Pfefferminztee beinahe platzte, oder ins Bett zu gehen und die vor Erschöpfung brennenden Augen zu schließen.

Antonia, deren Jungmädchenschönheit und natürliche Eigensinnigkeit nun in frischester und vollster Blüte stand, lehnte sich gegen alle von ihrer Mutter vertretenen Ideen auf, nicht nur um der Auseinandersetzung willen, sondern aus Prinzip, und Pelagia entdeckte bald den Hochgenuss, eine Kontrahentin dazu zu zwingen, eine Haltung, die sie am Vortag eingenommen hatte, zu widerrufen. Das machte Antonia sprachlos und wütend, und sie zäunte ihre Kommentare sorgfältig mit Voraussetzungen und Vorbehalten ein, die sie in weitere Widersprüche verwickelten oder zu einer so gemäßigten Schlussfolgerung führten, dass sie fast gar keine Meinung mehr war. Pelagia steigerte die Frustration und den Verdruss des Mädchens noch, indem sie wiederholt verkündete: »Wenn du in meinem Alter bist, wirst du im Rückblick sehen, dass ich recht gehabt habe.«

Antonia hatte überhaupt nicht die Absicht, so alt wie Pelagia zu werden, und sagte das auch. »Ich will sterben, bevor ich fünfundzwanzig bin«, sagte sie. »Ich will nicht alt und mürrisch werden.« Sie sah eine Ewigkeit endloser Jugend

»Genieße nur deine Träume«, meinte Pelagia, die nicht überrascht, aber dennoch entsetzt war, als Antonia mit siebzehn verkündete, dass sie nicht nur heiraten wollte, sondern auch von nun an Kommunistin war.

»Ich wette, du weinst, wenn der König stirbt«, sagte Pelagia.