Eine unerwartete Musikstunde

Im Oktober 1993 war Iannis ungeduldige vierzehn Jahre alt und hatte gerade einen ganzen Sommer hinter sich, in dem er mit Spiridon öffentlich im Duo aufgetreten und mit roten Rosen bombardiert worden war. Um seine Großmutter nicht durch sein ständiges Üben aus der Fassung zu bringen – eigentlich, um sie nicht dauernd zum Weinen zu bringen –, war er in die Ruine des alten Hauses hinaufgegangen, um ganz allein zu spielen, und konzentrierte sich gerade ganz fest darauf, ein anständiges Tremolo hervorzubringen, indem er sein Handgelenk eher rotieren ließ, als es auf und ab zu schlenkern, was ihn nämlich erschöpfte und rasch aus dem Takt geraten ließ. Er biss sich vor Anstrengung auf die Lippe und bemerkte den alten Mann nicht, der näher trat und ihm mit kritischem, aber freudigem Interesse zusah. Er fuhr beinahe aus der Haut, als eine Stimme mit sehr merkwürdigem Akzent sagte: »Entschuldigen Sie, junger Mann.«

»Huch!«, rief er, »Sie haben mich aber erschreckt.«

»Zu jung für einen Herzanfall«, sagte der Mann. »Die Sache ist die, dass mir nicht entgangen ist, dass Sie etwas falsch machen.«

»Ich hab Schwierigkeiten mit diesem Tremolo. Es bricht dauernd ab.« Es tat gut, mit einem alten Mann auf gleicher Ebene zu reden. Alte Menschen waren oft so entrückt oder unbegreiflich, aber der hier hatte strahlende Augen und verbreitete eine energiegeladene und fröhliche Stimmung. Es kam ihm schmeichelhaft vor, seine Aufmerksamkeit zu

»Nein, nein, nein, das wird schon noch. Es ist Ihre linke Hand. Sie versuchen, den ersten und zweiten Finger für alles einzusetzen, und das geht nicht.« Er beugte sich herab und rückte die Finger des Jungen zurecht, wobei er sagte: »Schauen Sie, der erste Finger dämpft die Saiten am ersten Bund, der zweite dämpft die am zweiten Bund, der dritte die am dritten und der vierte die am vierten. Es ist zunächst noch anstrengend, weil der kleine Finger nicht besonders stark ist, aber dann brauchen Sie Ihre Hand nicht mehr zu verdrehen und vermeiden es dadurch, aus Versehen die Diskantsaiten zu dämpfen.«

»Das ist mir schon aufgefallen. Es ist äußerst ärgerlich.«

»Halten Sie immer das gleiche Verhältnis der Finger zu den Bünden ein, auf welcher Höhe der Saite Sie auch immer sind, und alles wird viel leichter.« Er richtete sich auf und fügte hinzu: »Ein wirklich guter Musiker ist immer zu erkennen, weil ein guter Musiker seine Hände anscheinend gar nicht bewegt und es so aussieht, als würde die Musik wie durch Zauber erzeugt. Wenn Sie meinem Rat folgen, werden Sie Ihre Hand kaum noch zu bewegen brauchen. Bloß Ihre Finger. Und das trägt auch dazu bei, dass das Instrument nicht mehr herumrutscht. Das ist immer das Problem bei einer rundbäuchigen Mandoline, und ich habe oft daran gedacht, mir eine portugiesische mit einem flachen Bauch zu besorgen. Ich bin nie dazu gekommen.«

»Sie scheinen eine Menge darüber zu wissen.«

»Das sollte ich auch. Ich bin fast mein ganzes Leben lang Mandolinenspieler von Beruf gewesen. Ich sehe schon, dass Sie gut werden.«

Der alte Mann fuhr mit der Hand in die Manteltasche und brachte sein eigenes Plättchen zum Vorschein. »Ich benutze immer mein eigenes, nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte er. Er ergriff die Mandoline, legte sie unterhalb des Zwerchfells an den Körper, schlug versuchsweise einen Akkord an und spielte dann das Siziliano von Hummels Großer Sonate in G. Iannis blieb vor Staunen der Mund offen stehen, als der alte Mann unvermittelt aufhörte, die Mandoline umdrehte, sie mit äußerst ungläubiger Miene musterte und dann ausrief: »Madonna Maria, das ist ja Antonia.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Iannis, zugleich überrascht und argwöhnisch. »Ich meine, Sie können doch nicht wissen, dass es Antonia ist, oder? Haben Sie sie schon vorher gesehen?«

»Wo haben Sie die gefunden? Wer hat sie Ihnen gegeben? Woher wissen Sie, dass sie Antonia heißt?«

»Die hab ich hier aus dem Loch heraufgeholt«, sagte Iannis und deutete auf das offene Verlies in der Mitte der Ruine. »Oma hat mir gesagt, sie sei da, und sie hat ihr diesen Namen gegeben, also hab ich sie auch so genannt. Oma hat sogar meiner Mutter den Namen Antonia gegeben, weil sie als Baby wie eine Mandoline geklungen hat.«

»Und ist deine Oma vielleicht Kyria Pelagia, die Tochter von Dr. Iannis?«

»Das bin ich. Ich heiße Iannis, nach ihm.«

Der alte Mann setzte sich neben den Jungen an die Wand und wischte sich, während er immer noch die Mandoline hielt, mit einem Taschentuch über die Stirn. Er schien sehr gespannt zu sein. Iannis fiel die Narbe quer über eine Wange auf, die kaum von den Strähnen eines weißen Bartes verdeckt wurde. Plötzlich sagte der alte Mann: »Als Sie die Mandoline gefunden haben, fehlten da vier Saiten?«

»Wissen Sie, wo sie sich befinden?«

»Nein.«

Die Augen des alten Mannes glitzerten, und er klopfte sich auf die Brust. »Sie sind da drin. Dr. Iannis hat mit ihnen meine Rippen zusammengeflickt, und ich habe sie mir nie rausmachen lassen. Ich war auch voller Kugeln, und der Arzt hat sie herausgeholt. Was halten Sie davon?«

Der Junge war tief beeindruckt. Seine Augen wurden größer. Da er nicht ins Hintertreffen geraten wollte, verkündete er: »Wir haben ein echtes Skelett da drüben.«

»Ja, das weiß ich. Das ist einer der Gründe, weswegen ich hier bin. Das ist Carlo Guercio. Er war der größte Mensch der Welt. Und er hat mir das Leben gerettet. Er hat mich bei einer Exekution hinter sich gezogen.«

Der Junge war mittlerweile so beeindruckt, dass er völlig sprachlos war; ein Mann mit Mandolinensaiten in den Rippen, der vor einem Erschießungskommando gestanden und den Träger des Skeletts gekannt hatte? Das war besser, als Spiro zu kennen.

»Sagen Sie mir, junger Mann, lebt Ihre Großmutter noch? Ist sie glücklich?«

»Sie weint manchmal, schon seit wir Antonia und all die anderen Sachen hier aus dem Loch geholt haben. Und sie hat steife Knie, und ihre Hände zittern.«

»Und was ist mit deinem Großvater? Geht es ihm gut?«

Der Junge schien verwirrt. Er kniff das Gesicht zusammen und fragte: »Welcher Großvater?«

»Nicht der Vater Ihres Vaters. Ich meine Kyria Pelagias Mann.« Der alte Mann wischte sich wieder über die Stirn und schien noch aufgeregter zu sein.

Der Junge zuckte die Achseln. »Da gibt es keinen. Ich hab nicht mal gewusst, dass sie einen hatte. Ich hab einen Urgroßvater.«

»Ich nehme an, dass ich einen haben muss, aber von dem hab ich nie gehört. Ich hab nur den Vater meines Vaters, und der ist halb tot. Das ist mein Vater auch die Hälfte der Zeit.«

Der alte Mann erhob sich. Er blickte sich um und sagte: »Das war ein wunderschöner Ort. Ich habe die besten Jahre meines Lebens hier verbracht. Und wissen Sie was? Ich wollte einmal Ihre Großmutter heiraten. Ich denke, es ist langsam Zeit, dass ich sie wiedersehe. Übrigens, diese Mandoline war einmal meine, aber ich habe Sie spielen hören und möchte gern, dass Sie sie behalten. Ich verzichte auf meine Rechte.«

Als sie zu zweit den Hügel hinabgingen, sagte Iannis: »Der größte Mann der Welt ist Velisarios.«

»Porco Dio, lebt der auch noch?«

Iannis stolperte. »Wenn Sie derjenige sind, der Mandoline gespielt hat und Oma heiraten wollte … heißt das dann, dass Sie der Geist sind?« Die üppige Herbstsonne brach kurz durch eine Wolke über Lixouri, und der alte Mann hielt nachdenklich inne.