Ich, Carlo Piero Guercio, versichere, dass ich in der Armee meine Familie fand. Ich habe zwar Vater und Mutter, vier Schwestern und drei Brüder, aber seit der Pubertät hatte ich keine Familie mehr. Ich musste heimlich unter ihnen leben, wie jemand, der nicht zeigen will, dass er Lepra hat. Es war nicht ihre Schuld, dass ich zum Schauspieler wurde. Auf Festen musste ich mit Mädchen tanzen, auf dem Pausenhof der Schule und beim abendlichen Corso auf der Piazza mit ihnen flirten. Ich musste meiner Großmutter Rede und Antwort stehen, was für ein Mädchen ich heiraten möchte und ob ich Söhne oder Töchter haben wollte. Ich musste vor meinen Freunden Entzücken heucheln, wenn sie die weiblichen Geschlechtsmerkmale in allen Einzelheiten beschrieben, musste lernen, sagenhafte Anekdoten von meinen Abenteuern mit Mädchen zum Besten zu geben. Ich lernte, einsamer zu sein, als es normalerweise zu ertragen ist.
In der Armee gab es die gleichen derben Sprüche, aber es war eine Welt ohne Frauen. Für den Soldaten ist eine Frau ein imaginäres Wesen. Es geht noch an, rührselig über die eigene Mutter zu reden, aber das ist schon alles. Ansonsten gibt es die armseligen Geschöpfe in den Militärbordellen, die erfundenen oder untreuen Bräute zu Hause und die Mädchen, denen auf der Straße nachgepfiffen wird. Ich bin nicht misogyn, aber Sie sollten verstehen, dass mich die Gesellschaft einer Frau schmerzlich berührt, weil sie mich daran erinnert, was ich nicht bin und was ich geworden wäre, wenn Gott im Schoß meiner Mutter nicht herumgepfuscht hätte.
Zuerst hatte ich Riesenglück. Ich wurde nicht nach Abessinien oder Nordafrika, sondern nach Albanien geschickt. Es gab kaum nennenswerte Kämpfe, und wir hatten nicht die leiseste Ahnung davon, dass der Duce uns den Befehl zur Invasion Griechenlands geben würde. Es hatte eher den Anschein, als würden wir uns schließlich auch noch mit den Jugoslawen anlegen müssen, aber die hielten wir für so untauglich und feige wie die Albaner. Es war allgemein bekannt, dass die Jugoslawen einander noch mehr Hassgefühle entgegenbrachten, als sie je gegen Fremde oder Eroberer aufbringen konnten.
Bald wurde klar, dass das totale Chaos herrschte. Kaum hatte ich mich bei einer Einheit eingelebt und Freundschaften geschlossen, wurde ich schon wieder versetzt, um bei der zahlenmäßigen Aufstockung eines anderen Truppenteils zu helfen, von wo ich dann abermals weggeschickt wurde. Wir hatten fast keine Fahrzeuge und mussten von der jugoslawischen Grenze zur griechischen und wieder zurück marschieren, anscheinend auf eine Laune des Oberkommandos hin. Ich glaube, ich muss in ungefähr sieben verschiedenen Einheiten gewesen sein, bevor ich in die Division Julia fest eingegliedert wurde. Es gab viele Gründe, warum der Griechenlandfeldzug ein Fiasko wurde, doch einer davon war, dass die Mannschaften so sehr hin- und hergeschoben wurden, dass sich unmöglich ein Korpsgeist entwickeln konnte. Ich hatte am Anfang nicht die Zeit, für meinen David einen Jonathan zu finden.
Doch in der Division Julia genoss ich jede Sekunde. Kein Zivilist kann die Freude am Soldatenleben verstehen. Das ist schlichtweg eine unbestreitbare Tatsache. Des Weiteren steht fest, dass Soldaten, ganz abgesehen vom Geschlechtlichen, einander lieben lernen und dies, ganz abgesehen vom Geschlechtlichen, eine Liebe ist, für die es im Zivilleben nichts Vergleichbares gibt. Alle sind jung und stark und strotzen vor Lebenskraft, und alle sitzen gemeinsam in der Scheiße.
Du lernst allmählich jede Stimmungsschwankung der anderen kennen; du weißt genau, was der andere sagen wird; du weißt genau, wer wie lang über welchen Witz lachen wird; du wirst innig vertraut mit dem Fuß- und Schweißgeruch eines jeden Mannes; du kannst im Dunkeln die Hand auf ein Gesicht legen und weißt, wem es gehört; du erkennst eine Ausrüstung über der Stuhllehne, auch wenn sie genauso aussieht wie alle anderen; du kannst sagen, von wem die Bartstoppeln in der Waschschüssel sind; du bist dir sicher, wer dir eine Karotte gegen deine Kartoffel, eine Schachtel Zigaretten gegen dein übriges Paar Strümpfe, eine Postkarte von Siena gegen einen Bleistift eintauschen wird. Du gewöhnst dich daran, die anderen ungeniert zu sehen, nichts bleibt verborgen. Es sei denn, deine Begierden sind die gleichen wie die meinen.
Wir waren alle gemeinsam jung. Wir würden nie wieder so gut aussehen, nie schlanker oder stärker sein, wir würden uns nie wieder solche Wasserschlachten liefern, wir würden uns nie wieder so unbesiegbar und unsterblich fühlen. Wir konnten an einem Tag fünfzig Meilen zurücklegen, während wir kämpferische und schmutzige Lieder sangen, durcheinanderschwankten oder im Gleichschritt marschierten und die schwarzen Hahnenfedern an unseren Helmen glitzerten und zitterten. Wir konnten gemeinsam gegen die Räder des Fahrzeugs vom Oberst pinkeln, wenn wir voll wie Strandhaubitzen waren; wir konnten ohne Schamgefühl gemeinsam scheißen; wir konnten die Briefe der anderen lesen, sodass es schien, als hätte die Mutter eines jeden Sohns an uns alle geschrieben; wir konnten die ganze Nacht im strömenden Regen einen Schützengraben aus massivem Fels hauen und im Morgengrauen abmarschieren, ohne je darin geschlafen zu haben; bei Übungen mit scharfer Munition konnten wir ohne Genehmigung Mörsergranaten in hohem Bogen auf Kaninchen abfeuern; wir konnten nackt und schön wie Phoibos baden, und einer deutete vielleicht auf den Penis eines anderen und sagte: »He du, warum hast du den nicht in die Waffenkammer gebracht?«, und wir alle lachten unbekümmert darüber, und ein anderer mochte einwerfen: »Pass bloß auf, dass es keine versehentliche Entladung gibt«, worauf der Angeschmierte erwiderte: »Damit wirst du kein Glück haben.«
Wir waren frisch und schön, wir liebten uns mehr als brüderlich, das ist sicher. Schlimm war nur, dass keiner von uns wusste, warum wir in Albanien waren, denn bei diesem Wiederaufbau des Römischen Reiches war uns allen mulmig zumute. Wir prügelten uns oft mit Mitgliedern der faschistischen Verbände. Sie waren aufgeblasene, dumme Taugenichtse, und viele von uns waren Kommunisten. Niemand macht es was aus, für eine edle Sache zu sterben, aber uns machte insgeheim die auffallende Sinnlosigkeit zu schaffen, ein Leben zu lieben, für das es keine vernünftige Begründung gab. Ich sah uns als Gladiatoren, die dazu bereit waren, ihre Pflicht zu tun, bereit waren, gleichmütig zu bleiben, aber stets über alles im Unklaren waren. Graf Ciano spielte Golf, Mussolini führte Rachefeldzüge gegen Katzen, und wir befanden uns in einer nirgendwo verzeichneten Wildnis, vergeudeten unsere Zeit, bis sie uns ausging und wir in eine miserabel vorbereitete Schlacht gegen ein Volk geworfen wurden, das wie die Götter kämpfte.
Ich bin kein Zyniker, aber ich weiß, dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Ich weiß, dass es im Fall unseres Sieges schockierende Berichte von britischen Gräueltaten geben wird, dass ganze Bände vollgeschrieben werden, um die Unvermeidbarkeit und Gerechtigkeit unserer Sache zu zeigen, dass unwiderlegliche Beweise zusammengetragen werden, um die Verschwörungen jüdischer Plutokraten aufzudecken, Fotografien von Knochenbergen, die in Massengräbern in Londoner Vororten gefunden wurden. Ich weiß, dass der Duce deutlich gemacht hat, dass der Griechenlandfeldzug ein durchschlagender Erfolg für Italien war. Aber er war nicht dabei. Er weiß nicht, was sich abgespielt hat. Er weiß nicht, dass Geschichte nur die endgültige Wahrheit enthält, wenn sie aus den Anekdoten der kleinen Leute besteht, die direkt dabei waren. Er sollte wissen, dass wir in Wahrheit auf ganzer Linie geschlagen waren, bis die Deutschen von Bulgarien aus vorstießen. Er wird das nie zugeben, weil die Wahrheit immer den Siegern gehört. Aber ich bin dabeigewesen und weiß, was in meinem Kriegsabschnitt passiert ist. Für mich war dieser Krieg eine Erfahrung, die mein ganzes Denken geformt hat, es war der tiefste persönliche Schock, den ich jemals erlebt habe, die schlimmste und gründlichste Tragödie meines Lebens. Es hat meinen Patriotismus zerstört, meine Ideale verändert, meinen Pflichtbegriff infrage gestellt, mich entsetzt und mit Trauer erfüllt.
Sokrates hat gesagt, dass der Genius der Tragödie der Gleiche ist wie der der Komödie, aber die Bemerkung wurde im Text nicht weiter erklärt, weil die Menschen, an die er sie damals richtete, entweder schliefen oder betrunken waren. Es klingt nach dem, was Aristokraten einander auf Festen sagen, aber um zu illustrieren, dass es vollkommen zutrifft, brauche ich nur zu erzählen, was während dieses Feldzugs in Nordgriechenland vorfiel.
Ich möchte mit dem Bekenntnis anfangen, dass ich, Carlo Piero Guercio, seit ich zur Division Julia stieß, mich in einen jungen, verheirateten Unteroffizier verliebte, der mich als seinen besten Freund annahm, ohne je zu argwöhnen, dass er die ganze Belegschaft meiner fieberhaftesten Träume bildete. Er hieß Francisco und kam aus Genua, was untrüglich an seinem Dialekt und seinen in Epirus völlig unnützen seemännischen Kenntnissen zu bemerken war. Er gehörte ganz ohne Zweifel in die Marine, doch die verdrehte Logik der damaligen Zeit wollte es so, dass er sich freiwillig zu den Seestreitkräften meldete, den Carabinieri zugeteilt wurde und sich unversehens im Heer wiederfand. Er war über ein Regiment der Alpini und eines der Bersaglieri zu uns gestoßen, die zwei Tage bei den Grenadieren gar nicht mitgerechnet.
Er war ein bildschöner Junge, dunkler als ich, eher wie ein Südländer, aber er war schlank und hatte eine glatte Haut. Ich erinnere mich, dass er nur drei Haare mitten auf der Brust hatte und dass seine Beine völlig unbehaart waren. Jede Sehne seines Körpers zeichnete sich ab, und ich habe mich immer besonders über die Muskeln gewundert, die nur an besonders durchtrainierten Menschen zu sehen sind, die parallelen Linien am Unterarm und die seitlich an den Leisten, die bogenförmig auf den Unterleib zulaufen. Er glich einer jener grazilen, schmächtigen Katzen, die den Eindruck ungeheurer, aber lässiger Kraft vermitteln.
Am meisten reizte mich sein Gesicht. Er hatte eine widerspenstige schwarze Stirnlocke, die ihm in die Augen fiel. Diese waren sehr dunkel und lagen wie bei einem Slawen über vorstehenden Wangenknochen. Sein Mund war breit, ständig zu einem ironischen Lächeln verzogen, und er hatte eine etruskische Nase, die unerklärlicherweise am Rücken einen Knick abbekommen zu haben schien. Er hatte große Hände mit feingliedrigen Fingern, die ich mir nur zu leicht auf meinem Körper verweilend vorstellen konnte. Ich sah ihn einmal ein kleines Glied an einer filigranen Goldkette ausbessern, und ich kann bezeugen, dass seine Finger mit der ganzen makellosen Präzision einer Stickerin arbeiteten. Er hatte die denkbar zartesten Fingernägel.
Sie werden verstehen, dass wir Männer bei den verschiedensten Gelegenheiten zusammen nackt waren und dass ich mir sämtliche Einzelheiten einer jeden Stelle an ihm merkte, aber ich verwahre mich gegen jegliche Anschuldigung der Perversion und Obszönität, die gegen mein Gedächtnis vorgebracht werden dürfte, also werde ich diese Erinnerungen für mich behalten. Für mich sind sie nicht obszön, sondern wertvoll, erlesen und rein. Es würde sowieso niemand begreifen, was sie für mich bedeuten. Sie sind für das Privatmuseum bestimmt, das jeder in seinem Kopf beherbergt und zu dem nicht einmal die Fachleute oder die gekrönten Häupter Europas Zutritt haben.
Francisco war ein ungestümer und ganz und gar respektloser Mensch, immer zu Späßen aufgelegt. Er machte kein Hehl daraus, vor niemand Achtung zu empfinden, und war imstande, uns mit den draufgängerischen Posen des Duce und dem gestelzten Preußentum Adolf Hitlers zu unterhalten. Er konnte die Gesten und die Sprechweise von Visconti Prasca wiedergeben und in dessen Manier blödsinnige Reden halten, gespickt mit extravagantem Optimismus, verwegenen Vorhaben und kriecherischen Verweisen auf die Rangordnung. Alle liebten ihn, er wurde nie befördert, aber das machte ihm nichts aus. Er hielt sich eine Feldmaus und nannte sie Mario; die meiste Zeit lebte sie in seiner Tasche, doch auf Geländemärschen sahen wir sie oft, wie sie ihr Schnäuzchen aus seinem Rucksack reckte und ihr Gesicht putzte. Sie verzehrte gewöhnlich Obstschalen und Gemüse und war ärgerlicherweise ganz wild auf Leder. Ich habe immer noch ein kleines rundes Loch an einem Stiefelschaft.
Wir Soldaten wussten so gut wie nichts von dem, was sich in den Zentren der Macht abspielte. Wir erhielten so viele Befehle und Gegenbefehle, dass es Zeiten gab, wo wir gar keine befolgten, da wir wussten, dass sie fast auf der Stelle widerrufen werden würden. Albanien war eine Art Ferienkolonie ohne Annehmlichkeiten, und wir glaubten, dass diese Befehle nur den Zweck hatten, uns auf Trab zu halten, und völlig belanglos waren.
Im Nachhinein jedenfalls scheint klar zu sein, dass eine Invasion Griechenlands das Endziel gewesen sein muss, denn es gab untrügliche Anzeichen, wenn sie uns nur aufgefallen wären. Zum einen wurden wir mit Propaganda eingedeckt, das Mittelmeer sei das Mare Nostrum, und unsere ganze Straßenbauerei, die angeblich zum Wohle der Albaner war, führte zu nichts anderem als zu Schnellstraßen an die griechische Grenze. Zum anderen stimmten die Soldaten Kampflieder unbekannter Herkunft und von anonymen Komponisten an, in denen es hieß: »Wir werden zur Ägäis vordringen, wir werden Piräus einnehmen, und wenn alles gut läuft, nehmen wir uns auch noch Athen.« Wir pflegten die Griechen dafür zu verfluchen, dass sie dem »Operetten«-König Zog Zuflucht gewährten, und in den Zeitungen war dauernd von angeblichen britischen Angriffen aus griechischen Gewässern auf unsere Schiffe zu lesen. Ich sage »angeblich«, weil ich heute nicht mehr glaube, dass sie wirklich stattgefunden haben. Ich habe einen Freund bei der Marine, der mir gesagt hat, dass keines unserer Schiffe, soweit ihm bekannt ist, verloren ging.
Ich glaube auch nicht mehr an die Geschichte, dass die Griechen Daut Hoggia ermordeten. Ich meine, wir haben es getan und versucht, es den Griechen in die Schuhe zu schieben. Es ist schrecklich von mir, so etwas zu behaupten, weil es zeigt, wie sehr ich den Glauben ans Vaterland verloren habe, aber Tatsache ist, dass ich nun die griechische Version des Ablaufs kenne, die ich von Doktor Iannis erfuhr, als ich ihn wegen eines entzündeten Zehennagels aufsuchte. Es sieht so aus, als sei der Mann Hoggia überhaupt kein albanischer irredentistischer Patriot gewesen. Im Verlauf von zwanzig Jahren war er für den Mord an fünf Moslems, Viehdiebstahl, Räuberei, Erpressung, versuchten Mord, Geldforderungen durch Einschüchterung, das Tragen verbotener Waffen und Vergewaltigung verurteilt worden. Das also ist der Mann, den sie uns als Märtyrer aufzuschwatzen versucht haben. Uns ist nie gesagt worden, dass die Griechen zwei Albaner wegen der Ermordung dieses Mannes verhaftet hatten und auf ein Auslieferungsgesuch warteten. Jedenfalls frage ich mich heute, wie das ganze italienische Volk so naiv gewesen sein konnte, und ich wundere mich, warum uns die Albaner angeblich so am Herzen hätten liegen sollen, wo wir gerade ihr Land eingenommen hatten und uns allen klar geworden war, dass es ihnen nur darum ging, sich gegenseitig umzubringen. Die beiden Männer, die den »Patrioten« Hoggia ermordeten, vergifteten ihn offenbar und schnitten ihm dann den Kopf ab, womit er nach albanischem Maßstab noch recht glimpflich davonkam.
Sehr viele Dinge haben mich den Glauben verlieren lassen, und ich vertraue dem Papier hiermit einen Bericht an, der Francisco und mich betrifft und eindeutig zeigt, dass unsere Seite den Krieg begonnen hat und nicht die Griechen. Wenn wir den Krieg gewinnen, werden diese Tatsachen nie an die Öffentlichkeit dringen, das weiß ich, weil diese Papiere unterdrückt würden. Doch wenn wir verlieren, dürfte die Chance bestehen, dass die Welt die Wahrheit erfährt.
Es ist schon schwer genug, mit dir selbst in Frieden zu leben, wenn du sexuell ein Außenseiter bist, doch es ist noch schwerer, wenn du weißt, dass du in Erfüllung der Pflicht die abscheulichsten und übelsten Taten begangen hast. Heutzutage habe ich häufig Todesahnungen, und im Folgenden werden Sie ein Schuldbekenntnis finden, für das ich von einem Priester bereits die Absolution erteilt bekommen habe. Doch weder die Griechen noch die Familien der betroffenen italienischen Soldaten werden mir je vergeben.