Herber Wein
Fast auf die Minute pünktlich ist der letzte Kunde abkassiert, sodass einem rechtzeitigen Feierabend nichts im Wege steht. Die Kollegen von der Fleisch- und Käsetheke haben bereits vor einer Viertelstunde den Laden verlassen und auch die Mitarbeiter aus dem Lager sind mittlerweile zu Hause.
Rasch verschließe ich den Haupteingang von innen und lösche das Außenlicht. Bevor ich jedoch die Kasse abrechne, schlendere ich noch einmal durch den Laden, um zu checken, in welchem Zustand sich der Markt befindet. Dabei kommt mir eine Idee. Ich könnte doch eine leckere Flasche Wein und etwas Salzgebäck für Miriam und mich mitnehmen. Das wäre sicherlich eine nette Überraschung und würde unseren mittlerweile etwas eintönigen Alltag vielleicht ein wenig aufpeppen.
Entschlossen schlendere ich zum Weinregal, nehme mir eine wohlschmeckende Sorte heraus, entscheide mich kurzerhand für ein paar Kräcker, die wir mit Frischkäse bestreichen könnten, kassiere die Sachen mit meinem Personalrabatt ab, bezahle und nehme anschließend den Einsatz aus dem Registriergerät, um das Geld zu zählen und den Bestand zu kontrollieren.
Während ich die Scheine in meinem Büro durch die Hände gleiten lasse, werfe ich einen weiteren Blick auf die Kaffeetasse, in der sich nach wie vor einige Stücke dieser ungeheuer leckeren Schokolade befinden. Irgendwie kann ich nicht widerstehen. Ich muss einfach noch etwas davon essen. Ohne weiter darüber nachzudenken, greife ich in die Tasse und genieße ein wenig von der Leckerei. Dieser Mailo, er hat echt Sinn für köstliche Dinge, ich sollte wirklich mal mit ihm in dem Laden, in dem er diese Süßigkeit gekauft hat, einen Kaffee trinken gehen. Eventuell könnte sich ja sogar eine Freundschaft daraus entwickeln, das wäre sicherlich keine schlechte Sache. Schließlich haben Miriam und ich keinen allzu großen Bekanntenkreis, da würde die eine oder andere Person mehr bestimmt nicht schaden.
Nach einem letzten Schokoladenstück für diesen Tag verschließe ich die Tageseinnahmen in dem dafür vorgesehenen Tresor und mache mich auf den Weg nach Hause.
Die wenigen Minuten bis zu meinem Ziel verbringe ich damit, den Arbeitstag Revue passieren zu lassen. Dieser Feuerwehreinsatz war echt schräg, zumal der Alarm ja lediglich durch Wasserdampf ausgelöst wurde. Darüber werden wir im Personalmeeting noch einmal reden müssen, denn ein solches Gerät darf wirklich nur in der Küche in Betrieb genommen werden. Aber gut, das wird sich unter Garantie regeln lassen.
Ich stelle fest, dass die Kunden mir heute mit ihren Nachfragen, was denn passiert wäre, ziemlich auf den Geist gegangen sind. Wie kann man nur so neugierig sein? Sie sollen doch froh sein, dass nichts Schlimmes passiert ist und wir alle im Nachhinein darüber lachen können. Aber wahrscheinlich hätten die Leute lieber einen großen Flächenbrand gesehen, der den Supermarkt völlig zerstört hätte. Menschen sind manchmal echt schrecklich, sie sind nur geil auf Sensationen und sehnen sich förmlich danach, dass etwas passiert. Bis auf Mailo. Der war ganz normal und hat nicht mal gefragt, warum es denn ein Feuerwehraufgebot vorm Laden gegeben hatte, denn zumindest das Gerede der Kunden über das Ereignis hat er garantiert mitbekommen. Nein, mit ihm konnte ich mich über alltägliche Dinge unterhalten und über Schokolade reden. Er scheint anders zu sein als andere. Das macht ihn auf eine ganz bestimmte Art sympathisch. Außerdem hätte ich auch gerne ein solches Augenpaar wie er. Dieses leuchtende Grün fasziniert mich auf eine mir unerklärliche Weise. Ich bin zwar mit meinem Äußeren nicht unbedingt unzufrieden und vielleicht passen meine braunen Iriden auch ganz gut zu meinem Haar, dennoch verleiht ihm dieses einzigartige Grün das gewisse Etwas. Kopfschüttelnd und ein klein wenig irritiert über meine Gedankengänge erreiche ich mein Ziel, parke mein Auto ein, schnappe mir meine Mitbringsel und gehe in die Wohnung, in der mich Miriam bereits erwartet.
„Hey, Schatz!“, begrüße ich meine Frau, die ich in der Küche antreffe.
„Hallo, Elias. Was hast du denn da in der Hand?“
„Ich dachte, dass wir den Abend mit einem leckeren Glas Wein und etwas Salzigem ausklingen lassen. Mir war so danach.“
„Keine schlechte Idee“, kommt es aus ihrem Mund. „Aber wir haben doch noch so viele Chips im Schrank. Die hätten wir sicherlich auch erst mal essen können.“
Das ist wieder typisch Miriam. Statt sich bloß spontan über meine kleine Geste zu freuen, muss sie sofort dagegen steuern und mir durch die Blume mitteilen, dass ich unnützes Zeug gekauft habe. Innerlich zähle ich rückwärts von zwanzig bis null und schlucke ihre Bemerkung unkommentiert runter. Hatten wir nicht gerade am Morgen darüber gesprochen, dass wir unser Einkaufsverhalten ändern wollen?
„Was ist das denn für ein Wein?“, will Miriam wenig später von mir wissen. „Ist der herb oder lieblich? Du weißt, dass ich keine süße Traube mag.“
„Ja, daran habe ich gedacht. Was hast du Leckeres gekocht? Es duftet so gut hier.“
In der Hoffnung, mit meiner Anmerkung ihre Laune zu verbessern und ihr unter Umständen sogar ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, schaue ich in den Topf, der auf dem Herd steht, und erblicke Nudeln in einer Tomatensoße.
„Ging nur was auf die Schnelle heute. Ich bin auch noch nicht lange zu Hause. Musste ein paar Überstunden in der Drogerie schieben, weil eine Kollegin krank ist. Nimmst du dir was davon? Ich habe schon gegessen.“
Ich nicke und öffne den Schrank, um mir einen Teller herauszuholen. Innerlich stelle ich mir die Frage, warum Miriam nicht der Lage war, mit dem Essen auf mich zu warten, vor allem, wenn sie selbst erst kurz vorher eingetroffen ist. Lange kann das Gericht demzufolge ja noch nicht fertig sein. Für einen knappen Moment überlege ich, darüber mit ihr zu diskutieren, entscheide mich jedoch dagegen, weil ich unseren gemütlichen Abend nicht gefährden und erst recht keine weitere Nacht auf dem Sofa verbringen will. Daher entschließe ich mich, mir etwas von den Nudeln auf den Teller zu füllen, anschließend die eigens mitgebrachten Kräcker mit etwas Frischkäse, der sich glücklicherweise tatsächlich im Kühlschrank anfindet, zu bestreichen und alles zusammen mit dem Wein sowie zwei Gläsern ins Wohnzimmer zu schaffen, in das sich Miriam nach ihrem letzten Satz bereits verkrümelt hat.
„Wie war dein Tag? Hattest du viel zu tun?“, fragt sie wenig später nach, nachdem ich mich gesetzt habe.
„Es gab einen Feuerwehreinsatz. Zum Glück nur ein Fehlalarm“, berichte ich ihr, während ich meine Nudeln esse, und stelle dabei erstaunt fest, dass sie gar nicht aufnimmt, was ich gesagt habe, sondern stattdessen prompt von ihrer Arbeit erzählt.
„Oh, und ich habe heute jemanden beim Ladendiebstahl erwischt. Wer, zum Teufel, klaut eine Dose Haargel? Wieso ist man so dumm?“
Ich zucke mit den Schultern und resigniere. Wenn man von einem Feuerwehreinsatz hört, fragt man doch zumindest nach, was denn genau geschehen ist. Erneut zweifle ich ein wenig daran, ob Miriam wirklich daran interessiert ist, was ich am Tag erlebt habe. Und ich bin davon überzeugt, dass mir Mailo eher zuhören würde als meine eigene Frau. Irgendwie habe ich das im Gefühl und das schockiert mich ein wenig.
Ist es nicht absurd, wenn man vermutet, dass einem ein Fremder wahrscheinlich mehr Beachtung entgegenbringt als der Mensch, mit dem man sein Leben teilt? War Miriam schon immer so und es ist mir bisher bloß nicht weiter aufgefallen, weil unsere gemeinsame Freizeit ja eher beschränkt ist? Sobald beide Partner im Einzelhandel tätig sind, passen die Arbeitszeiten aufgrund verschiedener Schichten leider recht häufig nicht wirklich zusammen. Zudem komme ich als Marktleiter meistens erst ziemlich spät aus dem Laden raus, Miriam ist dann oft schon müde und verkrümelt sich früh ins Bett. Oder hat sich bei uns bloß die ganz normale eheliche Langeweile eingeschlichen und wir haben es schlicht und ergreifend nicht bemerkt? Dabei sind wir nun wirklich noch nicht alt. Innerlich schüttele ich den Kopf und stecke mir dabei die letzte Gabel voll Nudeln in den Mund. Quatsch, ich bin sicher heute bloß überempfindlich, kein Wunder nach einem solchen Tag mit Feuerwehr und Co.
„Hat gut geschmeckt“, lobe ich Miriam, schiebe meinen leeren Teller auf den Tisch und ergänze schnell: „Nee, Haargel ist nun echt nichts, was man klauen muss. Magst du jetzt einen Wein?“
„Ja, ein Glas geht sicherlich. Hoffentlich schmeckt der auch.“
Mit Mühe und Not kann ich mir verkneifen, auf diese Bemerkung hin mit den Augen zu rollen und gieße stattdessen unsere Gläser voll. Dunkelrot schimmert das Getränk in den Weinkelchen, sodass ich einen Moment lang versonnen darauf blicke und irgendwie alles um mich herum vergesse.
„Huhu, Erde an Elias, wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?“ Kopfschüttelnd greift Miriam nach ihrem Glas und nippt vorsichtig daran, bevor sie nickt. „Okay, kann man trinken.“
Ehrlich? Kann man trinken? Mehr nicht? Fassungslos sehe ich meiner Frau ins Gesicht, nehme ebenfalls einen Schluck und lasse den Wein genießerisch meine Kehle hinabrinnen. Ich bin zwar kein absoluter Weinkenner, allerdings lernt man durch die Vertreter eine ganze Menge, das gilt natürlich auch für Getränke wie Bier, Wein und Sekt. Mir jedenfalls hatte genau diese Sorte bei einer kleinen Verkostung extrem gut geschmeckt, deswegen habe ich mich heute eben genau dafür entschieden. Aber was weiß ich schon? Frau Becker ist da sicher viel besser informiert. Einen Moment lang bereue ich bereits, dass ich uns den Abend überhaupt schön machen wollte, denn zusätzlich zu ihrer stillen Verachtung für den Wein plappert Miriam ununterbrochen über Ladendiebstähle, Lippenstifte, blöde Kolleginnen und das Sommerfest, das ihre Filiale plant.
Sinnend betrachte ich sie, während sie sich ordentlich in Rage redet, allerdings handelt es sich bei dem Gespräch bisher um einen Monolog. Ich habe nicht einmal die Chance, irgendwo einzuhaken, auch beim Tempo kann sie sich offensichtlich kaum noch bremsen. So erfahre ich innerhalb weniger Minuten Sachen, die ich eigentlich nicht zwingend hätte wissen wollen, aber okay, eventuell kann ich ja im Anschluss an die Litanei wenigstens kurz von meinem Tag erzählen, also nur, damit zumindest so etwas Ähnliches wie ein Austausch stattfindet.
Endlich macht Miriam eine Pause und greift nach einem Kräcker, schiebt ihn in den Mund und sieht mich an, als würde sie etwas erwarten. Bloß was? Ich kenne die Kolleginnen nicht, mit Kosmetika habe ich keine Erfahrungen, Ladendiebstähle gibt es bei uns ebenfalls zur Genüge und das Sommerfest ist erst in zwei Monaten geplant. Was soll ich also dazu sagen? Ich weiß es nicht, obwohl ich tatsächlich zugehört habe. Bevor ich allerdings auch nur ansatzweise überhaupt den Mund aufmachen kann, nickt meine Frau, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, das absoluten Vorrang hat.
„Ehe ich es vergesse, du erinnerst dich sicher daran, dass ich morgen erst sehr spät zu Hause sein werde, der neue Filialleiter eben. Und genau deswegen werde ich jetzt auch ins Bett gehen, das verstehst du doch, oder? Es wird immerhin ein harter Tag und da muss ich fit sein. Außerdem bin ich heute schließlich sehr zeitig aus den Federn gekrochen und habe dir Frühstück gemacht.“
Ich schlucke meine Enttäuschung runter und nicke stattdessen. Was soll ich auch anderes tun?
„Natürlich, Schatz, mach dir keine Gedanken. Ich bekomme den morgigen Abend sicher allein rum. Schlaf gut, ich trinke noch aus, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Klar, ist okay. Bist du so lieb und räumst später den Tisch ab? Bitte stell das Geschirr gleich in die Maschine, ich hasse es, wenn etwas rumsteht, und morgen hab ich schließlich wenig Zeit.“
„Mach ich. Träum schön.“
Mit einem schnellen Kuss verabschiedet sich Miriam ins Bett und ist gleich darauf verschwunden. Nachdenklich drehe ich den Stiel meines Rotweinglases zwischen den Fingern. Habe ich mir einen gemeinsamen Abend so vorgestellt? Eher hatte ich ja darauf gehofft, dass sich seit langer Zeit wieder mal echte Zweisamkeit entwickeln würde, vielleicht sogar mit dem dazu passenden Abschluss, aber … aus irgendeinem Grund scheint Miriam sich mir sogar zu entziehen. Stört mich das nun sehr? Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann … ja dann muss ich zugeben, dass das nicht der Fall ist. Bin ich etwa schon ehemüde? Eventuell sollte ich mal mit jemandem darüber reden, aber mit wem? Ich nehme einen Schluck Wein und plötzlich durchfährt mich ein Gedanke. Ja … genau das ist die richtige Person dafür.
Ohne lange weiter darüber nachzudenken, greife ich nach meinem Handy und suche die Nummer meines besten Freundes Florian im Telefonbuch. Es ist eh schon viel zu lange her, dass wir mal einen echten Männerabend veranstaltet haben, hoffentlich hat Flo morgen Zeit. Gleich darauf tippe ich auf den Eintrag und lausche in den Hörer, bis sich am anderen Ende eine Stimme meldet.
„Hey, bist du das, Eli? Das ist ja eine Überraschung.“
Florian ist der einzige Mensch in meinem Umfeld, der mich Eli nennt, das allerdings schon seit Jahren.
„Jepp, bin ich. Sag mal, hast du Lust und Zeit, morgen herzukommen? Wir könnten mal wieder quatschen, ein paar Bier trinken, vielleicht irgendwo Fußball gucken oder whatever. Ich habe am Donnerstag frei und Miriam ist nicht da, wir sind also unter uns.“
Den letzten Satz lasse ich mit Absicht fallen, weiß ich doch, dass Flo und Miriam nicht so richtig miteinander können, ihm ist sie zu laut und eben auch zu pingelig.
„Klingt gut, wann soll ich da sein?“, erwidert Florian und ich kann die Erleichterung, dass er nicht auf meine Frau treffen wird, deutlich hören. Da er nach wie vor Single und damit zeitlich ungebunden ist, entscheidet er sich spontan, meine Einladung anzunehmen, was mich natürlich wahnsinnig freut.
„Um neunzehn Uhr ist Feierabend, danach muss ich abrechnen und so was, also wie klingt zwanzig Uhr für dich?“
„Perfekt“, bestätigt Florian.
Nach ein paar Verabschiedungsfloskeln unter Freunden beenden wir das Gespräch. Anschließend gieße ich mein Glas noch einmal voll und stelle den Fernseher an, da es für mich definitiv viel zu früh ist, mich jetzt schon hinzulegen. Mehrmals schalte ich um und entscheide mich für einen deutschen Krimi, von dem ich mich berieseln lasse. Gegen zehn Uhr beende ich nach einem letzten Schluck Wein den Abend auf dem Sofa, räume rasch auf und gehe ins Bad, um mich bettfein zu machen. Beim Zähneputzen stelle ich fest, dass ich mich auf das morgige Treffen mit Florian freue. Mehr als auf die normalen Abende mit meiner Frau. Sollte ich mich deswegen jetzt schlecht fühlen?