Ellies Haare und Uniform rochen nach der Farbe Pink. Hibiskuspink, um genau zu sein, ein klebriger Rest von Anastasias Shampoo, das sie sich nach ihrer ersten Kendo-Stunde am Vormittag geborgt hatte. Vor ihr schlenderte Jamie in den Speisesaal und winkte Haru zum Abschied zu. Sie sah, dass Haru die Geste mit einem unbekümmerten, sanften Lächeln erwiderte, und hätte ihm am liebsten eins auf die Nase gegeben.

Nach drei Tagen in Takeshin Gakuin gab es eines, was sie mit Sicherheit wusste: Sie liebte Kendo. Es schenkte ihr eine neue Sicherheit, bot ihr einen Kanal für ihre Sorgen – all das, wovon Lottie behauptet hatte, sie würde es brauchen –, und alles wäre perfekt gewesen, wenn ihr nicht eine Sache die Laune verdorben hätte: Jamie sprach noch immer kaum ein Wort mit ihr.

»Findest du nicht auch, dass Haru sich ganz schön bei Jamie einschleimt?«, grummelte Ellie, als sie die Tür zum Speisesaal öffnete. Ihr schlug der Duft nach Dashi entgegen, und sie bekam augenblicklich Magenknurren.

»Da ist wohl jemand eifersüchtig.« Anastasia reihte sich hinter Ellie in die Schlange vor der Essensausgabe ein. Sie hatte sich die Haare hochgebunden und war wegen des

Ellie ignorierte sie. Sie nahm sich zwei Onigiri von den makellos angerichteten Speisen, stopfte sich eins davon gleich in den Mund und kaute fest darauf herum, um an die Pflaume in der Mitte zu kommen.

»Wer ist hier eifersüchtig?«, fragte Saskia, pflückte eine Erdbeere von ihrem Kuchen und legte sie auf den Teller ihrer Freundin.

Die spielerische Zärtlichkeit der beiden hinterließ bei Ellie immer einen bitteren Nachgeschmack, auch wenn sie nicht wusste, warum. Sie redete sich ein, es läge daran, dass sie Saskia immer noch nicht vollständig vertraute.

Anastasia antwortete an ihrer Stelle: »Ellie findet, dass Haru sich bei Jamie einschleimt.«

»Hm.« Saskia reichte mehrere Dosen geeisten Kaffees weiter. »Vielleicht könnte es Jamie ganz guttun, einen Freund zu finden.« Ihre Worte hinterließen ein verlegenes Schweigen.

Ja, aber warum kann dieser Freund nicht ich sein?, dachte Ellie.

Als sie sich an einen freien Tisch in der Mitte des Raums gesetzt hatte, suchten ihre Augen nach Jamie, während sie unbewusst nach ihrem Wolfsanhänger tastete und ihn so fest drückte, dass er sich in ihre Handfläche bohrte.

Schließlich entdeckte sie ihn an einem Tisch in der Nähe des Fensters und beobachtete ihn neugierig und enttäuscht zugleich. Er war in Begleitung der beiden anderen Jungen aus Mickys und seinem Zimmer. Der eine hatte die Nase in ein Buch gesteckt, der andere trug Kopfhörer. Jamies Haare waren noch zerzauster als sonst, und seine braune Haut glänzte

Doch obwohl sie jede Einzelheit seines Gesichts kannte, war der Junge auf der anderen Seite des Speisesaals ein Fremder. Er bewegte sich anders, er lächelte anders, und in seinen Augen blitzte kein trockener Humor mehr. Dieser Junge war ein Schatten ihres Partisten, zerfressen von Vorwürfen. Vorwürfe, die eigentlich Ellie hätten quälen sollen.

Warum sieht er es nicht? Warum sieht Lottie es nicht? Alles, was Jamie und Lottie widerfahren war, war nur geschehen, weil sie für ihre Familie arbeiteten, und Ellie brachte nichts anderes fertig, als sie wieder und wieder vor den Kopf zu stoßen. Sie hatte sie nicht verdient.

Ein Sonnenstrahl, der durch die Tür des Speisesaals fiel, zog ihren Blick an, und herein kam ihre kleine Kürbisprinzessin, flankiert von den Zwillingen. Als Ellie Lottie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie ihr so klein und zerbrechlich vorgekommen, doch jetzt war sie fast so groß wie Ellie selbst, ihre Haare waren länger und wilder, ihr Körper muskulöser. Nur ihr Gesicht war immer noch etwas rundlich, und sie hatte noch immer eine Sanftheit und Verletzlichkeit an sich, die bewirkte, dass Ellie sie umarmen und vor dem Rest der Welt beschützen wollte.

Doch mit dem Kuss in der Schokoladenfabrik hatte Ellie alles verdorben.

»Was ist los?«, fragte Saskia.

»Nichts, ich … Da sind Lottie und die Zwillinge.«

Saskia und Anastasia wechselten einen wissenden Blick, den Ellie ihnen am liebsten vom Gesicht gefegt hätte.

Lottie setzte sich neben Ellie und strahlte in die Runde. An ihren Händen waren noch Farbkleckse von ihrem Vormittagskurs.

»Leute, die Zwillinge und ich wollen nach dem Essen in die Bibliothek, möchte jemand von euch mitkommen?«

»Geht leider nicht«, erwiderte Saskia und nippte an ihrem Eiskaffee. »Wir müssen zum Meditationskurs bei –«

Bevor sie ausreden konnte, kam eine Schülerin mit gezücktem Handy in den Saal gestürmt. »PINKU ONI-CHAN! PINKU ONI-CHAN, kreischte sie.

Die anderen Schüler sprangen auf und zogen ebenfalls hastig ihre Handys hervor, als hätte sie verkündet, dass irgendwo in der Nähe eine Bombe eingeschlagen war.

»Äh, Pinky … was?«, fragte Lola.

Nur drei andere Schüler schauten nicht auf ihre Handys – Jamie, der ebenso verwirrt aussah wie sie, und seine Mitbewohner. Es war die perfekte Gelegenheit, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Der Junge mit dem Buch zog eine Augenbraue hoch, als

»Wie bitte?«, fragte Lottie entrüstet, doch Jamie schien sich nichts daraus zu machen. Er verdrehte beinahe gutmütig die Augen, als wären sie Freunde.

Nur mit mir will er nichts zu tun haben. Ich muss echt schrecklich sein. Ellie biss sich fest auf die Wange, um die Stimme in ihrem Kopf auszuschalten, und wandte sich dem Jungen mit den Kopfhörern zu. Seine Haut war dunkler als die der meisten anderen, seine Haare waren rot gefärbt, und er hatte mehrere Piercings im Ohr und in den Augenbrauen, die schwarz und buschig waren wie dicke Raupen. Der andere Junge, der noch immer nicht aufblickte, hatte die markantesten Wangenknochen, die sie je gesehen hatte, so blasse Haut, dass sie beinahe durchsichtig war, und sichtlich gerötete Augen. Er sah aus, als würde er Tag und Nacht lesen und niemals schlafen.

»Hey, Micky.« Der rothaarige Junge begrüßte Micky mit einem Grinsen und zog einen Stuhl für ihn heran, auf dem er sich dankend niederließ.

»Hallo, Rio! Hallo, Wei!«, sagte Micky, dem die allgemeine Anspannung zu entgehen schien.

Rio zwinkerte Ellie wortlos zu, die ihm für seine Frechheit am liebsten einen Tritt verpasst hätte.

»Wir dachten, ihr könntet uns vielleicht sagen, was hier los ist«, erklärte Anastasia rundheraus und setzte sich neben Wei, den Bücherwurm.

»Rio, hör auf, sie zu belästigen«, schaltete sich Jamie ein, worauf Rio nur lachte.

Doch Ellie hatte das Gefühl, dass Jamie auch wissen wollte, was vor sich ging. Sie setzte sich ihnen gegenüber und schob die Beine weit von sich, um zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ.

Gottseidank habe ich die Jungenuniform, dachte sie. Rio ging ihr jetzt schon gewaltig auf die Nerven. »Verrätst du es uns oder nicht?«

»Die pinke Dämonin, Pinku Onichan.« Nicht Rio hatte geantwortet, sondern Wei, der sein Handy gut sichtbar auf den Tisch legte und auf Aus dem Chinesischen übersetzen tippte.

Alle beugten sich darüber, sogar Jamie, und Lottie las laut vor:

»Die Pinke Dämonin, die in den letzten zwei Monaten mehrfach in Tokio und Umgebung in Erscheinung getreten ist, wurde heute Morgen allein, ohne ihre Gang, in Shinjuku gesichtet. Dies hat die Gerüchte zerstreut, dass sie nur nachts ihr Unwesen treibt.«

Lottie scrollte nach unten und tippte auf das verschwommene Videostandbild unter dem Artikel.

Was sie sah, versetzte Ellies ganzen Körper in Aufruhr.

Ein aufheulender Motor war zu hören, dann ein fernes Knattern, das lauter und lauter wurde, bis ein pinkfarbener Blitz in Höchstgeschwindigkeit auf die Kamera zuraste. Das Video stoppte, als sie direkt vor der Kamera war: die Pinke Dämonin. Sie trug eine schwarze, mit Graffiti bedeckte

Die Pinke Dämonin.

Ellie wusste nicht, was sie mehr beeindruckte, das Mädchen oder das Motorrad. So mächtig wollte sie auch sein. So frei.

»Boah!« Saskia brachte mit einem Wort Ellies Gefühle zum Ausdruck.

Dann erhob sich eine vertraute Stimme, und Ellie blickte auf, noch immer einen Wirbel aus Pink und Schwarz vor Augen. Die Stimme bereitete dem Spaß ein abruptes Ende.

»Handys weg, sofort!« Sayuri wiederholte die Worte noch einmal auf Japanisch. Sie stand in der Tür und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Neben ihr stand Miko.

»Die Königin der Schule hat gesprochen«, bemerkte Rio spöttisch, als alle eilig ihre Handys verschwinden ließen.

Ellie verfolgte mit finsterem Blick, wie Sayuri durch den Saal schwebte und sich an einen Tisch setzte, wo sie ihr wunderhübsch zubereitetes Lunchpaket auspackte. Wie konnte jemand nur so perfekt sein?

 

in ihrem Herzen versteckt ist. Da es niemandem gelungen ist, das Rätsel zu lösen, wird der geheime Schatz heute gemeinhin als Mythos betrachtet.

Neben dem Text war ein Ukiyo-e-Gemälde von Kou abgebildet, auf dem sie mit knielangen schwarzen Haaren zu sehen war und sich dem Betrachter mit einem tödlichen Schwert in der Hand zuwandte. Obwohl das Bild Ruhe ausstrahlte, verspürte Lottie eine ähnliche Aufregung wie damals, als sie zum ersten Mal ein Bild von Liliana in einem ihrer Schulbücher gesehen hatte. Der grimmige Blick, das Schwert, die regelrecht spürbare Autorität. Lottie hatte ein Déjà-vu. Die Ähnlichkeit war frappierend, und wenn Lottie in Rosewood eins gelernt hatte, dann dass man solche Sonderbarkeiten nie übersehen sollte.

»Ein geheimer Schatz und eine pinke Dämonin«, flüsterte Lola in der Stille der Bibliothek. »Ich liebe diese Schule!«

Micky hatte es sich ihnen gegenüber auf einem Kissen bequem gemacht und las sich die Notizen aus seinem Kochkurs durch, während er sich hauchdünne, schokoladenüberzogene Kekse in den Mund schob.

Lottie starrte das Bild an und musste plötzlich an Ellies Vater denken. Hatte König Alexander bei seinem Aufenthalt hier auch von dem Schatz erfahren? Hatte er ihn gesucht? Hatte er Sayuris Eltern kennengelernt?

Ein Summen ertönte in ihrer Tasche, und sie linste auf ihr Handy. Das Display zeigte eine neue Nachricht von Ollie an,

Es war schon die fünfte Nachricht, die er ihr seit ihrer Ankunft in Tokio geschickt hatte, und sie wusste nicht, wie sie ihm noch deutlicher zu verstehen geben konnte, dass sie ihm nicht ständig schreiben konnte, um ihm von Japan zu berichten. Sie hatte gerade andere Sorgen.

Die Bibliothek war klein im Vergleich zu der von Rosewood, drei holzgetäfelte Räume, die randvoll mit Büchern waren und in denen es nach staubigem Papier roch. Sachbücher, alte Geschichten, Gedichte – die alten Buchrücken waren wie Brücken in völlig neue Welten.

»Glaubst du, es gibt ihn wirklich?«, fragte Lola mit glänzenden Augen.

»Vielleicht«, sagte Lottie.

»Was gibt es wirklich?«

Leicht wie Federn drangen die Worte an Lotties Ohr. Haru war unbemerkt hereingekommen und beugte sich über den Tisch. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sie einen leichten Geruch nach Seife wahrnahm, doch sein unvermitteltes Erscheinen ließ sie nicht aufschrecken. Er hatte etwas seltsam Beruhigendes an sich.

Lola strahlte ihn an, sichtlich bezaubert von seinem Lächeln. »Wir lesen über das Rätsel um den geheimen Schatz in der Schule.«

»Und habt ihr etwas Interessantes gefunden?«, fragte er.

Er richtete seine sanften braunen Augen auf Lottie. Wieder kam ihr der Gedanke, dass Harus Gesellschaft Jamie guttun würde.

Der Partist grinste breit. »Leider weiß ich auch nicht mehr als ihr. Aber manche Leute glauben, dass der Schatz Kou Fujiwaras verschollenes Schwert ist.«

Mit seinem langen Zeigefinger deutete er auf das Schwert auf der Abbildung, und wieder musste Lottie an das Bild von Liliana denken, auf dem ebenfalls ein Schwert zu sehen war. »Andere behaupten, es sei ein Geheimnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wird.«

»Haru, da bist du ja!« Als hätten seine Worte sie angelockt, tauchte Sayuri hinter einem Regal mit japanischen Geschichtsbüchern auf. »Wir brauchen deine Hilfe bei der Ablage in Großvaters Büro.« Sie blickte sich um. »Was ist hier los?«

»Wir lesen nach, was es mit dem geheimen Schatz in der Schule auf sich hat«, erwiderte Lottie fröhlich. Doch ihre Begeisterung schien die Königin der Schule kaltzulassen, und die Augen der anderen Schüler in der Bibliothek richteten sich auf sie, als hätte sie ein Schimpfwort gesagt.

Sayuri runzelte kaum merklich die Stirn. »Ich bin etwas verwirrt. Könnt ihr mich aufklären?« Sie kam näher und klimperte auf eine Art mit den Wimpern, die affektiert und drohend zugleich wirkte. »Ich weiß natürlich nicht, wie es in Rosewood gehandhabt wird. Bekommst du eine Sonderbehandlung, weil du eine Prinzessin bist?«

Lottie hätte sich fast verschluckt. »Äh, nein.«

»Gut. Dann wirst du sicher verstehen, dass du die Freistunden nutzen solltest, um an deinem Abschlussprojekt zu arbeiten, und nicht, um dich mit albernen Geschichten zu

Mit einer raschen Handbewegung klappte sie das Buch zu, drehte sich auf dem Absatz um und ließ Lottie sprachlos zurück.

Haru schaute entschuldigend in die Runde und folgte ihr schulterzuckend. Während Lottie ihnen nachblickte, fragte sie sich, wie ein so scharfzüngiges Mädchen einen so sanften Partisten haben konnte. Es sah ganz danach aus, als wären ihre Nachforschungen vorerst beendet.