»Japan ist das sicherste Land der Welt.«

Haru klopfte Jamie beruhigend auf die Schulter, und Lottie entging nicht, dass Jamie sich augenblicklich verspannte. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein. Der Bann, mit dem Haru ihren Partisten belegt hatte, war offensichtlich gebrochen.

»Könnt ihr nicht einfach bestellen, was ihr braucht?«, fragte Jamie und sah Lottie so vorwurfsvoll an, als wäre es ihre Schuld.

»Es wird nicht lange dauern«, erwiderte Lottie. »Außerdem haben wir keine Zeit mehr, etwas zu bestellen. Die Kostüme müssen dringend fertig werden.« Das war zwar nicht gelogen, entsprach aber auch nicht ganz der Wahrheit.

»Genau, und außerdem« – Ellie schob sich an Jamie vorbei ins Auto – »muss ich mal hier raus, sonst explodiere ich!«

Jamie sah sie überrascht an. »Das geht dir in Rosewood nie so.«

»In Rosewood gibt es ja auch keine Schulkönigin, mit der ich mir ein Zimmer teilen muss.«

Lottie versuchte immer noch, aus Sayuri schlau zu werden, und die spärlichen Informationen, die Miko ihr gegeben

Lottie musste sich eingestehen, dass es ihr selbst nicht ganz geheuer war, das sichere Schulgelände zu verlassen, aber sie spürte, wie wichtig es für Ellie war. Noch vor kurzem hatte sie sich kaum aus dem Palast getraut. Dass Ellie nun fast wieder die Alte war und hinaus in die Welt wollte – das konnte nur ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Rio hatte den Ausflug vorgeschlagen, als Miko und Lottie festgestellt hatten, dass sie für sein Kostüm noch schwarze Plateauschuhe brauchten. Es war genau die richtige Gelegenheit, um sich Tokio anzusehen.

»Das erlaubt Jamie nie«, hatte Lottie erwidert.

»Jamie? Jamie muss tun, was seine Herrin will.« Rio hatte eine seiner schwarzen Raupenaugenbrauen hochgezogen.

»Haru kann sie begleiten«, hatte Miko vorgeschlagen, und zwischen der blauhaarigen Elfe und ihrem rothaarigen Freund war eine unausgesprochene Übereinkunft zu spüren gewesen, die Lottie neugierig und nervös zugleich machte. Und nun saß sie im Auto und fuhr mit Jamie, Ellie und Haru ins Herz von Tokio.

 

Es war elf Uhr am Samstagvormittag. Kaum hatten sie in Harajuku ihre Nasen aus dem Auto gestreckt, begann die Welt um sie herum in Regenbogenfarben zu schillern. Die Straßen waren vollgestopft mit jungen Leuten in farbenfrohen Outfits und wirkten wie mit buntem Zuckerguss überzogen.

»Ist das etwa ein echtes Vivienne-Westwood-Shirt?«, fragte

»Seit wann interessierst du dich für Mode?«, fragte Lottie neckend.

Ellie hob die Hand. »Vivienne Westwood war eine der Begründerinnen der Punk-und-New-Romantic-Fashion-Bewegung. Bei gegebenem Anlass zolle ich ihr selbstverständlich meinen Respekt!«

Haru führte sie mit einem strahlenden Lächeln herum und zeigte ihnen verschiedene Boutiquen und Cafés. Im Nu standen sie vor einem Schaufenster mit Vintage-Latzhosen und schleckten dabei regenbogenbunte Zuckerwatte. Es war wie im Urlaub.

Lotties Blick fiel auf einen Fächer mit Margeritenmuster und goldenem Griff. Unwillkürlich stieg die Frage in ihr auf, was ihre Mutter zu dem bunten Treiben gesagt hätte, und ihre Brust begann zu schmerzen, als ihr klar wurde, wie lange sie nicht mehr an sie gedacht hatte. Sie schob die Hand in ihre Tasche und strich sanft über ihre Krone.

»Schluss jetzt«, blaffte Jamie unvermittelt, und Lottie zuckte zusammen. »Ihr habt eure Schuhe. Fahren wir zurück in die Schule.« Seine Haltung war angespannt. »Hier ist es zu voll. Zu unsicher.« Mit seinem engen schwarzen Shirt, der schwarzen Jeans und der dunklen Sonnenbrille sah er aus wie ein Anwärter für Men in Black.

»Jamie!«, fauchte Ellie, und in ihren Augen zog ein Sturm auf. »So darfst du mit Lottie nicht sprechen. Niemals.« Ihre Stimme war scharf und bitter.

»Schhh! Die Leute gucken schon«, flüsterte sie. Zu ihrer Erleichterung hielt Haru, der die Anspannung nicht zu bemerken schien, in diesem Moment ein Hochglanzmagazin mit dem Titel Popteen in die Höhe.

»Jamie«, sagte er, »deine Prinzessin und ihre Freundin sind in der Zeitung!«

Vor lauter Überraschung vergaßen sie ihren Streit und drängten sich um Haru. In der Tat waren Lottie und Ellie in dem Magazin. Es waren drei Fotos: Auf zweien sah man Lottie als perfekte Prinzessin, das dritte zeigte sie und Ellie bei ihrer Ankunft in Japan vor drei Wochen. Trotz Basecap und Sonnenbrille stachen auf dieser Aufnahme vor allem ihre wilden Haare hervor. Um die Bilder herum waren Schriftzeichen, die sie nicht lesen konnten.

»Was steht da?«, fragte Lottie. Ihre Stimme klang fest, obwohl ihr etwas schummrig zumute war.

Haru machte ein entschuldigendes Gesicht. »Da steht, dass du in Japan bist und …« Er stockte.

»Sag schon.«

»Da steht, dass die Prinzessin und eine Freundin, die offensichtlich einen schlechten Einfluss auf sie hat, nach Japan gekommen sind, um hier Unruhe zu stiften.«

Lottie starrte Ellie an. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, und sie rieb sich die Stirn, als könnte sie so die bösen Worte vertreiben. Lottie konnte damit leben, wenn jemand schlecht über sie redete. Aber nicht über Ellie.

Haru grinste anerkennend. »Das ist die richtige Einstellung«, lobte er, doch Ellie und Jamie waren nicht so leicht zu täuschen, und sie verengten die Augen wie Wölfe.

»Jamie hat recht, wir sollten zurück in die Schule.« Lottie wandte sich zum Gehen, und die anderen folgten ihr.

Wären sie doch nur im Laden geblieben.

Sie hörten es, bevor sie es sahen: ein Knattern, anfangs noch entfernt, dann schnell lauter werdend, eine kreischende Symphonie aus quietschenden Reifen und jaulenden Motoren. Dazu kam der Geruch: Benzin, Feuer und Schwefel. Ganze Menschengruppen rannten den Bürgersteig entlang, um einen Blick auf die Legende zu erhaschen. Noch ein Reifenquietschen, und da war sie, ein grellpinkfarbener Blitz, der sich durch den Verkehr schlängelte, gefolgt von drei weiteren Motorrädern. Die Pinke Dämonin und ihr Gefolge.

Ellies Gesicht hellte sich auf. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung.

Die Biker kamen schlitternd zum Stehen und bildeten mit quergestellten Maschinen eine undurchdringliche Wand auf der Straße. In der Mitte, blendend im weißen Sonnenlicht, schwang die Pinke Dämonin ihre Waffe, den verzierten Baseballschläger, und richtete ihn direkt auf Lottie und ihre Freunde. Die Geste war drohend und fühlte sich wie eine Warnung an. Trotz des Helms war Lottie sicher, dass die Dämonin ihr direkt in die Augen sah.

Lottie lief es kalt den Rücken herunter. »Warum starren die uns so an?«, murmelte sie schwach.

»Ich weiß es nicht, und ich habe keine Lust, hier rumzustehen, bis wir es herausfinden. Kommt«, knurrte Jamie und schob seine Prinzessin und deren Porterin weiter.

»Briktah, Jamie!«, rief Ellie. »Lass mich los! Ich –«

Doch Jamie zerrte Ellie weiter, bis sie sich widerwillig in Bewegung setzte.

»Ich werde kein Risiko eingehen.« Er zog sie dicht zu sich, doch Lottie konnte sein wütendes Zischen hören. »Denk an deine kleine Sessa.«

Ellies Blick sprang zu Lottie.

Sie gingen schnell die Straße entlang, den gleichen Weg, den sie gekommen waren, zurück zum Wagen, während immer noch Leute mit gezückten Handys in die Gegenrichtung eilten, um einen Schnappschuss von Pinku Oni-chan zu bekommen. Erst als sie das Auto erreicht hatten, merkten sie, dass sie verfolgt wurden.

Einer der anderen Biker mit weißem Helm, dunkelblauem Anzug und kobaltblauem Motorrad kam um die Ecke gebraust und jagte wie Donnergrollen über den Asphalt. Das Knattern weiterer Motoren verriet ihnen, dass der Rest der Gang folgte.

Ein dunkler Funke entflammte in Haru, und der Partist veränderte sich. Seine braunen Augen wurden finster, Schatten verdüsterten seinen Blick. Lottie kam es vor, als hätte die

»Bleibt dicht hinter mir.« Harus Stimme war kein lauer Sommerwind mehr, sondern hart und bestimmt.

Der sanfte Junge von gerade eben war verschwunden, und die abrupte Verwandlung machte Lottie Angst. Eine solche Angst hatte sie erst zweimal in ihrem Leben gespürt – als Saskia versucht hatte, sie zu entführen, und in der Tompkins-Villa. Es war das Gefühl totaler Hilflosigkeit, und ihr ganzer Körper begann zu zittern, als die Erinnerung daran zurückkam, wie die Anhänger von Leviathan Ellie und sie überwältigt hatten. Eine Hand schloss sich um ihren Arm und versuchte, sie über die Straße zum Auto zu ziehen, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie war starr vor Schreck.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie, und die Knie gaben unter ihr nach. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie so schwach war, doch die Panik überwältigte sie. Es war fast so, als könnte sie Leviathan riechen, beißender Qualm, der in ihre Lungen drang, um sie zu ersticken.

Sie hörte ein wölfisches Knurren am Ohr und spürte ruhige warme Atemzüge, als sie hochgehoben wurde. Sie blickte auf und sah die Welt an sich vorübergleiten, die bonbonbunten Straßen von Harajuku verschwammen hinter zwei goldgesprenkelten Augen.

Jamie trug sie. Nein, er trug sie nicht nur, er rannte mit ihr, als wäre sie so leicht wie ein Kätzchen.

»Ich werde es nicht wieder zulassen«, murmelte Jamie, und ganz kurz fühlte sie sich tatsächlich sicher.

»Alles in Ordnung, Lottie«, sagte Ellie beruhigend. »Du musst keine Angst haben. Sie bewegen sich gar nicht, sie …« Ellie verstummte, als die Motoren aufheulten. »Sie schauen uns nur an.«

Lottie blickte auf, ihre Sicht war noch immer vor Angst getrübt. Durch die Heckscheibe des davonfahrenden Autos konnte sie sie sehen: pink, gelb, lila und blau, reglose Blumen am Horizont. Langsam wurden sie kleiner, bis das Auto um die nächste Ecke bog.

Es spielte keine Rolle, wie weit sie reisten. Lottie spürte die Nähe Leviathans, als wäre eine Scherbe ins Auto eingedrungen und hätte ihr Herz getroffen.