Der Schlaf, den Lottie herbeisehnte, wollte sich nicht einstellen, und sie warf sich auf dem flachen Futon hin und her. Draußen vor der Schiebetür wütete ein Unwetter, wie sie nur selten eines erlebt hatte, und bei jedem neuen, von einem Regenschwall begleiteten Windstoß bebte der ganze Raum. Alles um sie herum klapperte – der Fußboden, die Wand, die Zimmerdecke –, und jedes Mal, wenn ihr trotz ihres aufgewühlten Zustands die Augen zufielen, brüllte die Welt sie an und weckte sie wieder auf. Und dieses Brüllen klang jedes Mal gleich. Ein einziger Name beherrschte ihre Gedanken, marterte sie: Jamie.

Als ihr Telefon neben ihrem Kopfkissen vibrierte, tastete sie danach, in der Hoffnung, es wäre endlich das Zeichen, auf das sie so dringend wartete.

Das Display zeigte Ollies Namen und eine alberne Textnachricht, die sie nur mit Mühe entziffern konnte, zusammen mit einem Foto, auf dem er sich totstellte. Verärgert über die überflüssige Nachricht pfefferte sie das Telefon auf den Fußboden, so dass das Display einen Sprung bekam. Neben ihr wälzte Ellie sich hin und her, gefangen in irgendeinem wirren Albtraum, aber immerhin schlief sie, leise murmeld: »Es tut mir leid. Es ist meine Schuld. Ich bin zu schwach.«

Am liebsten wäre sie einfach wieder losgerannt, hätte sich dem Sturm entgegengestellt, darin herumgetanzt und die ganze wütende Raserei, die das Universum bereithielt, über sich ergehen lassen.

Warum die Prinzessin von Maradova? Konnte es wirklich sein, dass sich alles um Ellie drehte, und wenn ja, warum? Der bloße Gedanke bewirkte, dass sie am liebsten davor davonrennen wollte, denn falls sich wirklich herausstellen sollte, dass es so war, dann war sie sich nicht sicher, ob Ellie das verkraften würde.

Sie tastete nach ihren Regensachen und schloss bereits die Finger um den gelben Mantel, aber bevor sie ihren Entschluss umsetzen und ihn überwerfen konnte, hörte sie hinter der Schiebetür ein Miauen. Im Licht eines niederfahrenden Blitzes erblickte sie für einen kurzen Moment einen großen, schwarzen Schatten: Eine riesige Katze strich flehend mit der Pfote an der Papiertür entlang.

Sie hielt den Atem an und machte keinen Mucks, während ihre Gedanken sich überschlugen. Die Vampirkatze war gekommen, um sie zu bestrafen, weil sie Jamie zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Dann aber warf sie ihre Decke zur Seite und ging zur Tür, um sie einzulassen.

Die Schiebetür klapperte leise, als sie sie aufschob. Sofort kam ein kräftiger Windstoß herein, und mit ihm die verzweifelte Kreatur. Es war dieselbe zu groß geratene, schwarze

»Na, na«, flüsterte sie leise, um Ellie nicht zu wecken. »Jetzt bist du in Sicherheit.«

Aber Vampy hatte anderes im Sinn, als sich auszuruhen, sprang von ihrem Arm herab, landete auf den Regensachen und fing an, das gelbe Material mit den Pfoten zu bearbeiten. Dann lief sie wieder zur Tür und kratzte so heftig daran, dass ihre Krallen Spuren auf dem Holz hinterließen. Sie wollte wieder nach draußen.

Als es erneut so laut donnerte, dass das entfesselte Unwetter den ganzen Raum erbeben ließ, spürte Lottie plötzlich ganz deutlich, dass irgendwo auf dem Schulgelände schreckliche Dinge vor sich gingen.

»Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf«, sagte sie und kniff dabei kurz die Augen zu, dann schnappte sie sich ihre Regensachen.

Als sie ins Freie trat, pfiff der Wind ihr um die Ohren. Ein hauchdünner Wasserfall floss über den Rand der holzgedeckten Veranda hinweg und ließ den See in der Mitte des Schulgeländes anschwellen, aus dem trübes, dunkles Wasser heraufspritzte.

Mit vorsichtig tastenden Schritten bewegte Lottie sich vorwärts, während die Katze zwischen ihren Beinen hindurchschoss – sie musste aufpassen, nicht den Halt zu verlieren.

Die Katze führte sie wieder an den äußersten Rand des Waldes, wo der Weg von Schlamm und tropfnassen Pflanzenteilen bedeckt war. Aus dem Bambuswald schien eine alles verschlingende Dunkelheit zu sickern, während der Regen inmitten der hohen Bäume plötzlich aussetzte. Lottie hielt den Atem an und wappnete sich dafür, dass die Katze sie wieder in die entrückte Welt des Waldes führen würde, aber stattdessen schlug Vampy eine andere Richtung ein und führte sie auf den schmalen Treppenpfad, der zu der überwucherten Rückseite des Dōjō führte, wo sie verschwand. Ineinanderverflochtenes Unkraut und hohes, nasses Gras zerkratzten ihr die Beine, als sie auf die Lichtung trat. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie die große, dunkle Gestalt erblickte, die dort mit einem Schwert in den Händen umherschlich.

Mikos Geschichten über den rotgesichtigen, langnasigen Tengu, der seinen Shakujō schwingt und die Macht besitzt, starke Winde zu entfesseln, kamen ihr in den Sinn. Aber diese Gestalt hier war kein Yōkai. Als sie sich langsam umdrehte und sich dabei auf das hölzerne Schwert in ihrer Hand stützte – es war gar keine Klinge, nur ein Stock, um sich aufrecht zu halten –, konnte Lottie ihr Gesicht deutlich erkennen.

Blitze zuckten um sie herum und erhellten den

»Lottie«, rief es mit schleppender Stimme, und sein Blick huschte unstet hin und her. »Du musst ins Trockene, sonst holst du dir den Tod.«

»Jamie!« Sie stürzte auf ihn zu, ihre Tränen mischten sich sogleich mit Regenwasser, während der Wind ihr weitere Peitschenhiebe versetzte, aber das machte ihr nichts aus – Jamies Zustand war weitaus besorgniserregender.

»Komm, ich bringe dich zu den Schlafräumen«, sagte sie, aber sein wirrer Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, ob er sie gehört hatte.

»Ich muss auf euch aufpassen.« Da verfing sein Fuß sich in einem Stechginsterbusch, und er stürzte auf sie.

Es war genau ein Jahr her, dass Jamie in ihre Arme gesunken war und sie beide in ein eiskaltes Schwimmbecken gefallen waren. Diesmal stemmte Lottie die Füße fest in den schlammigen Untergrund und hielt seinem Gewicht stand. Als sie ihn auffing, streifte sein Gesicht kurz ihre Wange, und die Berührung hinterließ ein Brennen auf ihrer Haut. Es war offensichtlich, dass er krank war und so bedenklich hohes Fieber hatte, dass er halluzinierte.

»Lass mich los. Ich muss euch alle warnen. Sie kommen«,

Er war schwer. Jeder Knochen in ihrem Körper protestierte, forderte sie auf, die Last abzuschütteln, sich einfach fallen zu lassen und aufzugeben. Sie brüllte und beschwor die Bilder von Liliana herauf und verfügte plötzlich über Kräfte, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie in ihr schlummerten. Wieder schossen Blitz und Donner aus dem Himmel, und das Tosen um sie herum wurde immer stärker.

»Diesmal werde ich ihn nicht im Stich lassen«, schrie sie dem Sturm entgegen, während sie Jamies zusammengesunkenen Körper zum Dōjō zerrte. Als sie den Eingang erkennen konnte, stieß ihr schmerzender Körper ein Heulen hervor, und sie warf sich gegen die riesigen Türflügel. Da änderte der Sturm die Richtung, fuhr unter ihre Kleider und riss ihr den Hut vom Kopf. Lange, zerzauste Haarsträhnen flogen peitschend umher wie sich windende Schlangen auf dem Haupt einer Gorgone.

Lottie ignorierte die Kälte, ihre ächzenden Knochen und Muskeln, packte Jamie noch fester und nahm ihn auf den Rücken, während sie ins Innere stolperte. Obwohl der Schmerz überwältigend war, sorgte sie dafür, dass er langsam zu Boden glitt, indem sie seinen schlaffen Körper ein letztes Mal an sich presste und behutsam auf einer weichen Matte ablegte.

Nun, da er ausgestreckt auf dem Boden lag, konnte sie

»Was ist passiert?« Sie versuchte verzweifelt, nicht zu weinen.

»Ich bin gestürzt.«

»Gestürzt?«

»Ja, ich bin vom Dach gestürzt, und dann hat es angefangen zu regnen.« Er zuckte zusammen und konnte einen Augenblick nicht weitersprechen. »Ich bin zurück zum Wald gelaufen.«

War er etwa in diesem Zustand den ganzen Weg aus der Stadt zurückgelaufen?

Rasch sprang Lottie zum Schrank hinüber und schnappte sich so viele Kendo-Anzüge wie möglich, die sie über Jamie breitete und ihm als Kissen unter den Kopf stopfte. »Ich hole Hilfe. Bleib so liegen.« Sie breitete das letzte Stück Stoff über ihn.

Als sie aufstand und gehen wollte, schlossen seine heißen Finger sich um ihr Handgelenk, und er zog sie zu sich herab. Mit flatternden Lidern blickte er zu ihr auf, seine Augen waren blutunterlaufen. Jamie wirkte vollkommen verloren, so als würden direkt vor seinen Augen seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm da heraushelfen sollte.

Der Klang seiner Stimme ließ sie aufhorchen, so dass sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, und Kälte kroch ihr in die Knochen.

»Wer, Jamie? Wer kriegt mich?«

»Leviathan.«

Lottie schüttelte den Kopf, es waren Fieberphantasien. »Leviathan ist nicht hier. Du bist jetzt in der Schule, in Sicherheit.« Es widerstrebte ihr, ihn anzulügen, aber sie musste dringend Hilfe holen. Sie setzte sich in Bewegung, um seine Finger abzustreifen, und japste nach Luft, als er sich schmerzhaft noch stärker an sie klammerte.

»Nein, der Ziegenmann.« Seine Stimme wurde lauter und klang angsterfüllt. »Er wartet auf mich, auf uns.«

»Jamie, das …« Sie brach ab. »Ich muss Hilfe holen.«

»Nein, Lottie, du musst rennen. Du kannst doch so gut rennen.« Mit letzter Kraft zog er sie erneut zu sich, so dass sie fast umgefallen wäre. »Du musst so schnell rennen, wie du nur kannst. Sonst stiehlt er deine Seele. Er nimmt alles, was gut an dir ist, und verschlingt es.«

»Was? Jamie, bitte. Lass mich los!« Aber sein Griff blieb fest wie ein Schraubstock um ihre schmalen Handgelenke, an denen sich bereits bläuliche Flecken zeigten.

»Du bist gut, und er ist böse. Und wenn er dich findet, dann frisst er dich auf. Ich muss ihn fernhalten, sonst stiehlt er mich auch.«

»Jamie, du hast Fieber, das sind nur Fieberträume.« Sie schrie auf, als seine Fingernägel sich in ihre Haut gruben. »Es

»Nein, er ist Leviathan, der Ziegenmann ist Leviathan.«

Lottie erstarrte. Ihr wurde schlecht vor Angst, denn sie ahnte bereits, was er gleich sagen würde.

»Ich bin ihm begegnet, auf dem Dach.« Jamie riss die Augen auf, er ließ ihr Handgelenk los, und dann sagte er genau die Worte, die sie nicht hören wollte. »Ich bin dem Meister von Leviathan begegnet.«

Wieder blitzte es draußen vor dem Dōjō, und Jamie stöhnte ein letztes Mal auf, dann verlor er das Bewusstsein.

»Jamie?« Verzweifelt rüttelte sie ihn, doch er reagierte nicht mehr.

Angst kroch in ihr hoch, schnürte ihr die Kehle zu, und sie wusste, dass sie es alleine nicht schaffen würde. Sie brauchte dringend Hilfe. Irgendjemanden.

Mit einem erneuten lauten Knall flog die Tür auf, und im Türrahmen stand, die Haare aufgebauscht wie schwarzer Rauch, ein Mädchen in einem weißen Nachthemd, das im Licht des Gewitters leuchtete, eine fette, orangefarbene Katze zu ihren Füßen. »Das ist ein guter Partist, den du da hast«, sagte sie.

»Sayuri!«, schrie Lottie, und Erleichterung wallte in ihr auf. »Bitte … hilf mir.«