Erfüllt von einer nervösen, aufgekratzten Energie lugte Lottie durch die schweren Samtvorhänge. Es fühlte sich an, als wäre sie wieder beim Sommerball in Maradova, kurz bevor sie der Öffentlichkeit als Prinzessin vorgestellt worden war. Dumpfes Gemurmel ging vom Publikum aus, das Licht war gedimmt. Doch es war nicht allein das Theaterstück, das Lottie so in Aufregung versetzte. Durch ihr Guckloch konnte sie auch Ellie und Jamie sehen, die nebeneinandersaßen.

Also hatte sie es geschafft; sie hatte bewirkt, dass sie wieder ein Team waren, und deshalb konnte sie ihre Gedanken jetzt anderen Dingen zuwenden. Eigentlich sollte Lottie sich auf das Stück konzentrieren und dafür sorgen, dass es gut lief, damit sie genügend Punkte sammelte, um wieder in Rosewood zugelassen zu werden, aber es stand etwas viel Wichtigeres auf dem Spiel. Sie hatte das Rätsel um Takeshins geheimen Schatz noch immer nicht einmal ansatzweise gelöst.

Ihr lief die Zeit davon.

Sie musste etwas finden – einen Hinweis, irgendetwas, das ihr helfen konnte, den verborgenen Schatz zu finden. Es war der einzige Weg, um Sayuri auf ihre Seite zu ziehen und an die Informationen zu gelangen, die die Banshees besaßen. Sie war nach wie vor davon überzeugt, dass sich in dem

»Kabocha-chan …«

Lottie drehte sich um und erblickte eine wunderschöne, furchteinflößende Katze auf den Hinterbeinen. Es war Rio in Katzengestalt, ein so perfekter Auftritt, dass ihr bei dem Anblick immer noch der Atem stockte. Sie nahm ihr und Mikos Werk in Augenschein: das schwarze, seidige Fell, hinter dem sich ein spektakuläres Geheimnis verbarg. Kein Detail war bei dem Kostüm vergessen worden, und das Ergebnis war ein atemberaubendes Ungetüm, bei dessen Auftauchen den Zuschauern das Blut in den Adern gefrieren würde.

»Bist du nervös?«, fragte Rio mit überheblichem Grinsen.

»Ich bin nicht nervös«, wisperte sie kopfschüttelnd. »Ich konzentriere mich nur.«

Das Licht im Zuschauerraum erlosch, und stattdessen warf ein einzelner Scheinwerfer sein Licht auf die Bühne, auf den Punkt, wo nun Sayuri zwischen den Vorhängen hervortrat. Ihre Porzellanhaut leuchtete noch heller als sonst, und Lottie fand, dass sie aussah wie ein unbeugsamer Geist.

Sie sagte die Stücke auf Japanisch an – Sätze, die Lottie bei den Proben schon unzählige Male gehört hatte, so dass sie wusste, was sie bedeuteten.

»Willkommen, liebe Sommerschüler von Takeshin Gakuin. Heute Abend werden uns die Theaterkurse ihr Können präsentieren. Angefangen beim Schauspiel, über die Kostüme und die Maske, bis hin zu Beleuchtung, Musik und Bühnenbild hoffen wir, euch in wundersame und erschreckende

Dann huschte Sayuri in die Dunkelheit hinter den Vorhängen, und das Publikum machte sich mit einem kollektiven tiefen Luftholen bereit.

Im hinteren Teil des Theaters tauchte Sayuri neben ihrem Partisten wieder auf. Haru beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin Sayuri sich versteifte.

Bevor Lottie darüber nachgrübeln konnte, setzte die Musik ein, und das Publikum verschwand im Dunkeln.

Das erste Stück war Tanabata und erzählte von zwei unglücklich Liebenden, die der Vater des Mädchens, ein Gott, zusammenbrachte, aber auch wieder auseinanderriss. Da weinte seine Tochter so sehr, dass die Tränen, die ihr in Form von Schwungbändern aus den Augen quollen, auf der Bühne einen textilen Fluss des Kummers anschwellen ließen, der ihren Vater schließlich so sehr erweichte, dass er ihnen erlaubte, sich alljährlich am siebten Tag des siebten Monats zu treffen. Aber damit nicht genug, konnte sie ihren Geliebten nur treffen, wenn ein Schwarm aus Elstern ihr zu Hilfe kam und für sie eine Brücke über den Fluss bildete, der die Liebenden voneinander trennte. Gelang es den Elstern nicht, dann konnten sie einander nicht treffen und mussten ein weiteres Jahr warten.

Vor Lotties innerem Auge tauchte das Bild der Elstern in Lilianas Tagebuch auf, wo ganze Schwärme davon die Seiten bedeckten. Es war unglaublich, dass etwas, das so viel Ähnlichkeit mit den Zeichnungen in Lilis Tagebuch hatte, auch in einem von Kous Lieblingstheaterstücken auftauchte.

Kurz darauf begann schon das zweite Stück, und die samtenen Vorhänge enthüllten einen Bambuswald aus Papiermaché im Hintergrund, gehüllt in einen Nebel aus Trockeneis, sowie einen einzelnen dicken, glitzernden Stamm in der Mitte der Bühne.

Lottie, die gerade das Publikum nach Sayuri absuchen wollte, hielt inne, weil das Szenenbild vor ihr sie so in ihren Bann zog. Es war eine Szenerie, die ihr so wohlbekannt vorkam, dass sie die moosige Erde förmlich zwischen den Zehen spüren konnte. Die Bühne hatte sich in Takeshins Wald verwandelt, den Kiri Shinrin, mit seinen ewigen Nebeln und dem einzelnen, unwirklich großen Bambus, der versteckt darinstand. Und wieder war alles da, die Bilder im Tagebuch von dem glitzernden Baum. Auch wenn es sich darin nicht um einen Bambusbaum handelte, hatte sie doch das Gefühl, dass dazwischen eine Verbindung bestand, dass es ein Zeichen war.

Ihnen blieb nur noch so wenig Zeit, bis sie aufbrechen würden, um nach England zurückzukehren, so wenig Zeit, um all das zusammenzubringen, und irgendwo tief in ihrem

Die Katz’

Geheimer Ort

Ein Schwert

»Kabocha-chan?«

Eine Stimme riss sie auf ihren Gedanken. Es war Miko, blau wie eh und je, im Halbdunkel hinter der Bühne aber eher dunkelblau.

»Gleich sind wir dran.«

Lottie nickte, aber so ganz gelang es ihr nicht, ihre Gedanken von dem Geheimnis in Lilianas Tagebuch loszureißen. Es war, als wäre sie zweigeteilt; ihr Körper befand sich hier im Theater, nervös und aufgeregt, ihre Seele aber war von den Darbietungen und Geschichten woandershin gezaubert worden und schwebte in einer neugierigen Wolke über dem Schulgelände.

»Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«, wollte Miko wissen und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du bist nicht bei der Sache.«

Lottie blickte Miko direkt an und ließ einen Moment alles auf sich einwirken, das Tagebuch, die Bäume, die Märchen, die Buchseite mit der rätselhaften Liste, Sayuri, sich selbst.

»Ich glaube, dass diese Stücke ein Geheimnis beinhalten«, flüsterte sie in die Dunkelheit und griff genau in dem

Miko schob Lotties Hand behutsam weg. »Dann solltest du dich jetzt besser beeilen, unseres auf die Bühne zu bringen, damit wir mehr erfahren.«

Noch immer etwas benommen, schlich Lottie mit Miko und den anderen Bühnenhelfern auf Zehenspitzen nach draußen, wo sie das Holzbett aufstellten, das Aoi Tōyō zum Verhängnis werden sollte. Auf der linken Seite der Bühne breiteten sie ein geisterhaftes Laken aus durchsichtiger Gaze aus, auf dem schon bald die wachsenden Schatten der Monsterkatze zu sehen sein würden, bevor es schließlich den Blick auf ihre Kreation freigeben würde, und davor befestigten sie hängende Pflanzen, um einen Garten anzudeuten, der verschwinden würde, wenn der Prinz fortging.

Lottie war so darauf konzentriert, irgendein verstecktes Detail in dem Stück zu entdecken, dass das Letzte, woran sie dachte, die Möglichkeit war, dass etwas schiefgehen konnte.

Anstelle von Flötenklängen wurde ein abscheulicher Würgelaut vernehmbar, aber das Geräusch war noch nicht einmal das Schlimmste. Denn da huschte auch schon ihre Aoi Tōyō an ihr vorüber, die Hand auf den Mund gepresst; offenbar war der schönen Lieblingsfrau des Prinzen übel geworden.

»Sumimasen!«, murmelte das arme Ding entschuldigend und hastete aus dem Theater.

Zurück blieben Rio, Miko, Lottie und die anderen Schüler vom Vampirkatzenstück und starrten verstört auf den leeren Platz, wo soeben noch ihre Aoi Tōyō gewesen war.

»Haben wir gerade unsere weibliche Hauptrolle verloren?«,

Alles, woran Lottie denken konnte, war, dass sie auf ein Zeichen gewartet hatte, irgendeinen Hinweis, um zu der unnahbaren Königin von Takeshin durchzudringen, und wenn sie verstehen wollte, was diese Stücke ihr mitteilen wollten, musste sie versuchen, so nah wie möglich heranzukommen. Unbeteiligt aus dem Abseits zuzuschauen, das war nicht das, was sie brauchte, sie musste ein Teil davon werden. Auf einmal hatte sie keine Zweifel mehr. Sie musste bei dem Stück mitmachen.

»Ich mach’s«, sagte sie. »Ich spiele Aoi Tōyō.«

Miko und Rio starrten sie mit offenen Mündern an, ein Anblick, den sie sehr genoss, und sie staunten gleich darauf noch mehr, als sie verkündete: »Aber ich werde dabei meine Krone tragen.«

 

Allmählich richtete sich der Scheinwerfer auf Aoi Tōyō, die friedlich unter den herabhängenden Papierranken stand, die den Garten symbolisierten. Nebel waberte um Lotties Füße, wo ihr weißes Kleid bis auf die Bühne herabhing. Sie hatten ihr Bestes gegeben, ihr Haar so glatt wie möglich zu kämmen.

Von all den furchteinflößenden, lebensbedrohlichen Dingen, die sie bisher erlebt hatte, war dies in gewisser Hinsicht das unheimlichste.

Dort, wo die Krone auf ihrem Kopf auflag, spürte sie ein Kribbeln, und sie war froh, sie bei sich zu haben, damit sie

Sie wartete auf ein Zeichen, einen Beweis dafür, dass es zwischen Rosewood und Takeshin eine Verbindung gab, einen Schlüssel, um dieses Geheimnis für Sayuri aufzudecken, und wenn das hier eines von Kous Lieblingsstücken war, dann wollte sie auch ein bisschen Liliana mit hineinbringen.

Du erzählst eine Geschichte, rief sie sich in Erinnerung. Nur dass du sie diesmal nicht mit Worten, sondern mit deinem Körper erzählst.

Jede Vor-stellung ist Ver-stellung …

Sie ließ die Worte, die Rio einmal zu ihr gesagt hatte, tief auf sich einwirken und wartete, bis die Schminke und ihr Kostüm in ihrem Innern etwas entfachten. Auf einmal spürte sie eine neue Kraft in sich. Sie fühlte, wie sie sich veränderte, und zugleich merkte es auch das Publikum, vor deren Augen ihr Körper sich in den der schönen, unbekümmerten jungen Frau verwandelte. Es war magisch, und es duftete nach Rosen und Moos, als in ihr zwei Welten zueinanderfanden. Lottie Pumpkin gab es nicht mehr; es gab nur noch Aoi Tōyō.

Der Tanz begann. Es fühlte sich so an, als wären sie die Choreographie mit ihrer schönen Maid tausendmal durchgegangen, sie und Miko fest entschlossen, die passenden Bewegungen zu finden. Aber jetzt, hier auf der Bühne und vor den Augen der ganzen Schule, hatte sie mehr Spaß daran, als sie es sich jemals hätte ausmalen können. Sie wirbelte herum

Es war ein wunderbares Gefühl, Aoi Tōyō zu sein, jung, voller Leben und wunderschön. Sie vergaß das Publikum und wollte nichts weiter, als für immer weitertanzen, aber so rasch, wie es begonnen hatte, erschien auch schon der Prinz, und es war vorüber.

Aoi Tōyō starrte den Prinzen an, und ihre Bewegungen passten sich einander an, bis ihr Tanz eher an ein steifes Marschieren erinnerte, bei dem der eine sich wie das Spiegelbild des anderen bewegte. Sie war seine Lieblingsfrau, und ihn zu heiraten war ihre Pflicht. Bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihr Herz schwer wurde.

Jegliche Leichtigkeit ihrer vorherigen Darbietung verschwand und wurde durch etwas Hartes, Unnachgiebiges ersetzt. Der Prinz und seine Lieblingsfrau schritten im gleichen Rhythmus voran; sie hatte keine andere Wahl, als dem Muster seines Körpers zu folgen.

So oft sie die Geschichte von der Vampirkatze gelesen hatte, hatte Lottie stets Mitleid mit Aoi Tōyō gehabt, weil der glückliche Ausgang der Geschichte sie nicht mit einschloss, jetzt aber fühlte sie eine andere Form der Traurigkeit. Aoi Tōyō war eine Gefangene, in Ketten gelegt von der Last aus Erwartungen und Pflichtgefühl.

Die Lichter erloschen, aber der Schmerz in Lotties Brust blieb, Aoi Tōyōs Herz krampfte sich vor Verzweiflung zusammen. Sie stieg in ihr Bett, und die Ranken und Gartenblumen über ihr verschwanden, um der unheimlichen Stille des Schlafzimmer-Bühnenbildes Platz zu machen.

Hinter ihren Lidern blitzte, als wäre es in ihre Gedanken eintätowiert, das Bild der Katzen in Lilianas Tagebuch auf: die steinernen Katzen im Schrein und die Katzen, die überall auf dem Schulgelände umherstreunten, und all das vermischte sich miteinander.

Ein Ventilator wehte den beruhigenden Duft von Kiefern und Lavendel durch den dunklen Raum und wiegte das Publikum in ein schläfriges Gefühl von Sicherheit.

Finsternis legte sich über sie, dann schien es, als würde die Nacht sich hinter dem Gazevorhang zu einer konkreten Form zusammenziehen. Rio wand und krümmte sich in einem verworrenen Tanz, bis der Vorhang zu Boden glitt und den Blick auf die monströse Vampirkatze freigab. Sie sprang auf die Jungfrau, und meterweise rotes Garn schoss aus Aoi Tōyōs Hals hervor, als das Biest sich an ihrem Blut gütlich tat.

Es ist besser so, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf.

Dann tat sich eine Luke im Bett auf, in der sie verschwand, und als ein Raunen durchs Publikum ging, wusste Lottie, dass der Kniff funktioniert hatte, dass es so ausgesehen hatte, als hätte ihr Körper sich in Nichts aufgelöst.

Sie befand sich nun unter der Bühne, von wo aus sie durch Ritzen in den Bodenbrettern die Zuschauer sehen konnte, während die Aufführung über ihr weiter ihren Lauf nahm. Geigen quietschten, als Rio sich dem Publikum zuwandte und seinen glänzenden schwarzen Mantel ablegte, der scheinbar einfach verschwand, da er sich durch ein kompliziertes

Lottie sah zu und amüsierte sich über die verblüfften Gesichter ihrer Freunde, die von Rios Talent bisher nichts gewusst hatten. Die Zwillinge starrten mit offenen Mündern und glänzenden Augen. Selbst Saskia und Anastasia konnten ihre Faszination nicht verbergen: Alle Zuschauer waren hingerissen von der tödlichen Darbietung weiblicher Schönheit.

Und im Zentrum ihres Blickfelds waren Jamie und Ellie. Sie saßen wie selbstverständlich nebeneinander, und ihnen war anzusehen, dass die gereizte Stimmung, die zwischen ihnen geherrscht hatte, der Vergangenheit angehörte. Aber da war noch etwas zwischen ihnen, eine Empfindung, die sie miteinander teilten, während sie zu der Stelle auf der Bühne emporblickten, an der eben noch Lottie gelegen hatte.

Lottie hatte es noch nie zuvor wahrgenommen, es war ihr eigenes, unsichtbares Seil, mit dem sie nicht verbunden war. Aber sie verstand es jetzt, zum ersten Mal. Und plötzlich fragte sie sich, weshalb sie es nicht früher schon gesehen hatte: Das Gewicht aus Pflichten, Ängsten und Obligationen hatte Aoi Tōyō für die Vampirkatze zu einem leichten Opfer

Schwarz wie Teer, dick und zähflüssig wie Öl breitete es sich aus und kroch langsam auf seine Opfer zu. Die Geschichte handelt nicht nur von einem Monster; es geht um das, was dich verzehrt. Die dumpfe Furcht, die in deiner Brust wohnt, schwer und lastend, bis sie dich irgendwann auffrisst. Und jeder reagiert auf unterschiedliche Weise darauf: Wut, Rückzug, Misstrauen.

Lottie hatte es an Ellie erlebt; und sie hatte es an Jamie erlebt. Die Kreatur bestand aus Pflichten, Ängsten und Druck, die einsamste aller denkbaren Kombinationen, und ihre Prinzessin und ihr Partist waren nicht die Einzigen, die von ihr gebissen worden waren.