Es gibt eine bestimmte Form von Angst, die sich anfühlt wie Resignation. Eine prickelnde Ruhe, in der unser Verstand uns von der Wirklichkeit abschirmt. Er sagt uns Das hier passiert nicht wirklich oder Gleich ist es vorbei. Sie lullt uns ein, lässt uns ruhig bleiben, wiegt uns in der falschen Vorstellung, dass alles gut wird, solange wir uns nur sehr ruhig und sehr still verhalten.

Das war nicht die Art von Angst, die Lottie spürte.

»Hörst du wohl auf, dich zu wehren?«, fauchte Ingrid und riss erneut ruckartig an ihren Haaren. Selbst nachdem sie Lottie geknebelt hatte und sich offenbar alles gegen sie richtete, gab sie nicht auf und hörte nicht auf zu kämpfen, sich zu winden und um sich zu treten. Sie würde nicht hilflos sein. Nicht noch einmal.

Ingrid packte sie bei den Schultern und drehte sie so, dass sie einander ansahen. Sie war ein fürchterlicher Anblick, voller Kratzer und Striemen, ihr ehemals glattes Haar ein einziges verknotetes Gewirr, in dem Schlamm und Blätter klebten. Das Schlimmste aber waren ihre Augen.

Als Lottie klein gewesen war, hatte ihre Freundin Kate eine Katze namens Coco aus dem Tierheim bei sich aufgenommen. Sie hatte sich erbarmungslos gegen alles gerichtet,

»Wenn du nicht aufhörst, dich zu wehren, ramme ich dieses Messer hier in deine Hand.«

Lottie glaubte ihr.

Zufrieden schleifte Ingrid sie über den Boden, bis ihre Kleider voller Dreck waren, und stieß sie mit solcher Wucht gegen den Stamm der Eiche, dass sie dachte, nie wieder atmen zu können. Offensichtlich verfolgte Ingrid einen Plan, den sie schon seit einer Weile hegte, und Lottie fürchtete sich davor, zu erfahren, worin ihr Vorhaben bestand.

Sie sah so groß aus, ein hochgewachsenes Monster, das die Sonne verdeckte und mit bösen Absichten auf sie herunterstarrte. Eigentlich war es ein unpassender Gedanke, Ingrid als groß zu bezeichnen, denn sie war bedeutend kleiner als die anderen Mitglieder von Leviathan, denen Lottie begegnet war, doch irgendetwas in ihr war gewachsen, ein giftiger Trotz, der ihre Gestalt veränderte, so dass sie größer erschien.

»Jetzt hör mir gut zu, Prinzessin.« Ihr Atem ging unregelmäßig, wenn sie sprach. »Ich nehme dir jetzt den Knebel heraus, und dann spielen wir ein Spiel. Aber wenn du schreist oder rufst, reiße ich dir die Fingernägel raus, so. Verstanden?« Um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen, griff Ingrid nach der Spitze ihres Messers und schob sie langsam unter den Nagel von Lotties kleinem Finger, gerade tief genug, um ihr einen

Ingrid beugte sich vor und fummelte an den Knoten an Lotties Hinterkopf herum, so dass ihre zerkratzte Haut ihrem Gesicht sehr nahe kam. Ihr Geruch drang Lottie in die Nase, ein Geruch nach Eisen und Schweiß.

Aber da waren noch zwei andere Dinge, die Lottie bemerkte, als ihr Mund frei war.

Das erste war, dass Ingrid das Schwert nicht entdeckt hatte. Und das zweite war, dass Ingrid schwankte.

Du musst rennen; das kannst du doch so gut.

Es war nicht ihre Stimme, die sie hörte, es war Jamies.

Du musst so schnell rennen, wie du kannst.

Das einzige Problem war, dass sie sich dazu erst mal befreien musste.

Ingrid war eine Partistin. Sie kannte die Tricks der Partisten. Wenn Lottie heil hier herauskommen wollte, dann musste sie es auf ihre Weise tun. Während sie nachdachte, konnte sie das Schwert beinahe klingen hören, und es erinnerte sie an Sayuri in Japan, die darauf vertraute, dass sie dieses Rätsel löste und ihr die Wahrheit mitteilte.

Sie musste entkommen und sie vor Claude warnen. Sie durfte auf keinen Fall versagen.

»Was für ein Spiel spielen wir?«, erkundigte Lottie sich so ruhig wie möglich, und es schien zu funktionieren, denn ein Funke der Verwunderung flackerte über Ingrids Gesicht hinweg. Obwohl ihre Chancen mickrig waren, hatte Lottie

»Das Spiel, Prinzessin …« – ein verschlagenes Lächeln erschien auf ihren Lippen, an ihrem Kinn klebte verkrustetes Blut –, »… ist Wahrheit oder Pflicht

Jetzt war es an Lottie, überrascht zu sein.

»Wenn du die Antwort schuldig bleibst oder die Pflicht verweigerst, ritze ich eine Linie in deine Haut. Kapiert?« Ingrid starrte sie an, als erwartete sie tatsächlich eine Antwort von ihr.

»Und was passiert, wenn du verlierst?«, fragte Lottie, in deren Kopf eine Idee aufkeimte.

Der Ausdruck in Ingrids Gesicht wurde boshaft, und ihre Augen wurden schmal. Offenbar war Lottie die Einzige, die spielen sollte.

»Wahrheit oder Pflicht?«, fragte Ingrid und ließ sich im Schneidersitz auf den Boden plumpsen. Es war ein grotesker Anblick. Als sähe man einem Monster beim Meditieren zu.

»Wahrheit«, sagte Lottie und schluckte ihre Angst hinunter.

Wieder erschien das raubtierhafte, schmallippige Lächeln auf Ingrids Gesicht. »Warum ist Jamie dein Partist?«

Die Frage legte sich wie eine Decke aus Eis über Lottie und ließ sie gefrieren.

Die Fakten waren ihr bekannt. Dass Jamies Mutter im Palast Unterschlupf gesucht hatte, dass sie bei der Geburt gestorben war, und dass die Königsfamilie Jamie bei sich behalten und zu Ellies Partist hatte ausbilden lassen. Aber die

Jamie, warum bist du Ellies Partist?, dachte Lottie, unfähig, irgendeine Antwort auf die Frage zu formulieren. Sie blickte in Ingrids unstet umherhuschende Augen und fragte sich, welche Antwort sie wohl hören wollte.

»Schuld.« Das Wort hatte Lotties Mund bereits verlassen, bevor sie recht darüber nachgedacht hatte, und sie waren beide schockiert. »Er glaubt, meiner Familie etwas schuldig zu sein, und hat Angst davor, sich als nicht würdig zu erweisen.«

Sie konnte kaum glauben, dass sie etwas so Fürchterliches laut gesagt hatte.

Ingrid brauchte eine Sekunde, um über ihre Antwort nachzudenken, aber ihre Verwunderung hielt nicht lange an, sondern wurde durch einen drohenden Ausdruck abgelöst. »Falsch.«

Es ging so schnell, dass Lottie gar nicht wusste, wie ihr geschah. In einem Augenblick gehörte ihre Hand noch ihr, im nächsten wurde Lottie nach vorn gezogen, als Ingrid sie packte, ihren Arm hochriss und die Hand so sauber und rapide aufschlitzte, dass der Schmerz erst mit Verzögerung eintrat.

Kein Laut entwich Lotties Lippen. Sie presste nur stumm ihren Arm an sich und sah zu, wie eine dunkelrote Linie aus ihrem Handrücken zu fließen begann.

»Weißt du, was lustig ist?«, sagte Lottie und musste jedes Fitzelchen Tapferkeit zusammenkratzen, das sie besaß,

Worte konnten machtvoll sein, und Lottie wählte ihre mit Bedacht.

Ingrid stotterte irgendetwas Unverständliches, und Lottie wusste, dass sie Erfolg gehabt hatte. Sie wagte einen Blick und las Empörung im Gesicht ihrer Gegnerin.

Ingrid hielt ihr Messer in die Sonne und betrachtete die Blutstropfen, die wie Sirup daran herabliefen. »Das würde ich nie tun«, sagte sie. »Es wäre langweilig, wenn der Kampf so schnell zu Ende wäre.« Ihr Blick war beinahe zärtlich. Sie blickte zu ihrer Waffe auf und rieb mit dem Daumen über die kalte, metallene Spinne, die sich um den Griff wand.

Dann sprangen ihre Augen zurück zu Lottie mit einem Ausdruck, der so tödlich war, dass sie das Gefühl hatte, davon verschlungen zu werden.

»Wahrheit oder Pflicht?«, fragte sie langsam und legte ihr Messer zurück auf den Boden. Aber Lottie hatte gesehen, dass es möglich war, Ingrid abzulenken. Dass Worte eine Wirkung auf sie hatten.

»Pflicht«, entgegnete Lottie und kam sich tapferer vor, als angemessen gewesen wäre. Das war mit ziemlicher Sicherheit das Schlechteste, was sie sagen konnte.

Ingrid grinste. »Dann gebe ich dir hiermit den Auftrag, den Brief zu zerstören, den du gestohlen hast.«

»Was?«, platzte es aus Lottie heraus. »Das ist nicht … Ich

Etwas in Ingrids Ausdruck veränderte sich, ihr Lächeln verschwand. »Du bist verwirrt.« Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an Lotties heran. »Aber das ist nicht schlimm. Lass mich es dir erklären. Ich will, dass dieser Brief verschwindet, damit wir auf den besseren Plan umschwenken können.« Ihr Atem kitzelte Lotties Wange. »Der Plan, in dem wir deine verlogenen Eltern aus dem Weg schaffen.«

»Wovon redest du? Was habt ihr getan?«

Ingrid entfuhr ein gackerndes Lachen, und Lottie dachte an Claude, den schwarzen Wolf der Familie, und an die schreckliche Hameln-Formel, die er an sich gebracht hatte und die die Macht besaß, jeden tun zu lassen, was er wollte.

Konnte es sein, dass das sein Plan war? Es kam Lottie allzu grausam vor, zu schauerlich, um wahr zu sein.

Ingrids Blick verschwamm, als würde sich vor ihren Augen eine ferne Zukunft auftun.

»Und wenn wir sie dann los sind«, begann Ingrid in dem träumerischen Tonfall einer Wahrsagerin, die Lottie ihre Zukunft vorhersagte, »dann wird er mit offenen Armen empfangen werden und mit dem Respekt, den er verdient. Genau wie Alexis.«

Alexis.

Der Name verfing sich in Lotties Gedanken wie ein zerschlissenes Stück Stoff und zerrte an einer vagen Erinnerung, die sie nicht einordnen konnte.

»Los, komm schon«, verlangte Ingrid, bevor sie

Ihr Gesicht war eine lachende Fratze, aber das hier war keine Frau, die auf ein Gruppenziel hinarbeitete. Dies war ein durchgeknalltes Mädchen, das sich in den Kopf gesetzt hatte, so viel Schaden wie möglich anzurichten.

Aber weshalb hegte sie solchen Hass auf die maradovische Königsfamilie? Warum war sie so geworden?

»Ich … ich verstehe das nicht. Was haben wir getan? Ich weiß nicht, was wir getan haben«, stammelte Lottie.

Ingrid sah wütend aus. »Du weißt nicht, was ihr getan habt?«, knurrte sie, und jeglicher Anflug von Belustigung schwand aus ihrer Stimme. »Ihr habt euch Jamie genommen.«

Es war alles Unsinn, wirres, boshaftes Zeug, das Lottie nicht verstehen konnte, auf das sie nicht vorbereitet war, und sie sah mit Schrecken, wie Ingrid wieder nach ihrem Messer griff. »Und das ist widerlich. Du und deine Familie, ihr seid schreckliches, verlogenes, abstoßendes Rattenpack. Ihr verdient die Gnade, die der Meister für euch geplant hat, nicht. Ich lasse euch nicht so leicht davonkommen.«

Lottie versuchte, aus ihrer Reichweite zu gelangen, indem sie sich zur Seite duckte, aber Ingrid packte sie an den Haaren und zog sie ruckartig nach hinten.

»Du hast verloren«, fauchte sie ihr ins Ohr, griff nach dem Messer und zog es an ihrer Wange entlang. Heißes Blut tropfte über ihr Gesicht, aber Lottie konnte nur daran denken, was da schlafend vor ihr in der Erde lag, unentdeckt.

»Du bist schwach und erbärmlich.« Ingrid zog Lottie erneut an den Haaren und brachte sie unwissentlich noch

Jedes Mal, wenn Ingrid an ihr zog und rüttelte, glitzerte das Schwert, es rief nach ihr, und mit jedem willkürlichen Schubs kam es näher.

»Verdorben, wertlos …« Die Worte prallten an Lottie ab. Es waren sengende Glutteilchen, die zornig aus Ingrids blutigem Mund sprühten, aber sobald sie Lotties Ohren erreichten, verglühten sie. Denn Lottie wusste, dass sie nicht wahr waren.

So langsam fing sie an, Leviathan zu durchschauen und die Erzählung, die sie zu verbreiten versuchten. Es war hemmungslose Wut auf die maradovische Königsfamilie, genauso kaputt und chaotisch wie die Überreste des Wolfsanhängers.

Das hatte alles nichts mit ihr zu tun; es hatte mit Ellies Familie zu tun – und Lottie musste hier weg. Sie musste fliehen und herausfinden, warum Claude das tat. Sie musste die Wahrheit über die Wolfsons herausfinden. Und dafür musste sie sich befreien.

Lottie beugte sich vor, noch immer waren Ingrids Hände in ihre Haare verwickelt, und sie zog und zerrte an ihr und kreischte. Lottie reckte sich nach dem Schwert, um es aufzuwecken. Mit einer geschmeidigen Bewegung schwang sie es in die Höhe, verfehlte nur knapp Ingrids Fingerspitzen und zog es durch ihr eigenes Haar.

Frei.

Ingrid taumelte nach hinten, verlor den Halt, strohblonde Haarbüschel in den Fingern haltend. Lotties goldene Locken

Sie rannte, und der Wald flog an ihr vorbei. Sie rannte, und die Welt verschwand aus ihrem Blick. Sie rannte und schaute nicht zurück, keine Sekunde lang, auf gar keinen Fall. So schnell war sie noch nie in ihrem Leben gewesen, und bei jedem Schritt konnte sie das knurrende, kreischende Monster hinter sich hören. Freiliegende Wurzeln und glitschiges Moos drohten sie zu Fall zu bringen, aber ihre Füße fanden einen Weg, Äste und Sträucher wichen vor ihr zurück, so dass sich vor ihr ein Pfad auftat.

Irgendwann begann ihre Brust zu schmerzen, ihr Handgelenk und ihre Wange pochten, aber sie donnerte unaufhaltsam weiter durch die Bäume.

Sie war schneller als Ingrid! Als sie vor sich Licht sah, explodierte der Gedanke, wirklich entkommen zu sein, in ihrem Kopf und schickte eine Welle der Erleichterung über sie hinweg, die so mächtig war, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Aber sie war noch nicht in Sicherheit; Ingrid war ihr immer noch auf den Fersen, irres Rasen und Fluchen verfolgte sie.

Nur noch ein kleines Stück.

Das Licht, das durch die Zweige schien, war nun schon so nah, aber etwas kam ihr entgegen: eine Person, die sie so gut kannte. Ein Engel kam zu ihrer Rettung.

Nur noch ein kleines Stück.

Zweige brachen, und der Boden knirschte, als sie eine allerletzte Anstrengung unternahm.

Keuchend blickte sie auf in ein goldbraunes Augenpaar, wie Sterne am Gipfel eines großen Berges. Jamies Augen. Wunderbarer, unbeschreiblicher Jamie.

»Los, hinter mich«, sagte er mit tiefer Stimme.