Ellie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk mit schief gelegtem Kopf, so dass nasse, tintenschwarze Haarbüschel zur Seite schwangen.

Überall im Zimmer brannte Licht, nach der langen Sommerpause erwachte der Raum endlich wieder zu neuem Leben, angefüllt bis oben hin mit Büchern und Klamotten. Die Füße, die in Socken über den dunklen Holzboden tapsten, verursachten das vertraute Knarren, während die üblichen Schulgeräusche begleitet von einer Brise Blumenduft in ihre kunterbunte Höhle drangen. Trotzdem fühlte es sich so an, als würden sie all das durch ein altes Fernsehgerät hindurch betrachten. Die Heiterkeit war nicht echt, sie taten nur so, als ob, wie bei einem Spiel, das alle tapfer mitspielten, um einander einen Gefallen zu tun.

»Fertig.« Ellie ließ die Schere ein letztes Mal schnippen, kaute auf ihrer Unterlippe und blickte auf Lottie herab, während sie abwesend mit einer Strähne an ihrem Kinn spielte, in Gedanken schon wieder woanders.

Schon meldete sich die Stimme in Lotties Kopf und fragte fauchend, ob die Wahrheit nicht doch zu viel gewesen war, ob sie es völlig falsch angegangen war.

Sie hatten sich, so gut es ging, um Ellies Pandaaugen

»Fertig. Willst du es sehen?«, fragte Ellie.

Lottie nickte entschlossen, bereit, ihr neues Ich anzunehmen.

Lilianas Schwert war sicher unter ihrem Bett versteckt, und wenn sie daran dachte, verspürte sie einen Hauch Erleichterung, denn es erinnerte sie an ihre Verbündeten in Übersee. Als Lottie wieder in ihrem Zimmer war, hatte sie zuerst eine Nachricht an Sayuri geschickt. Allerdings war es in Japan schon spät, daher rechnete sie so bald nicht mit einer Antwort, auf die sie aber dennoch ungeduldig wartete, weil ihr klar war, dass Sayuri ihr besser als jeder andere dabei behilflich sein konnte, die Dinge einzuordnen.

Sie hatte immer noch niemandem erzählt, was Ingrid im Rosenwald über Leviathans finale Pläne gesagt hatte. Ihr war schon klar, dass sie es nicht ewig für sich behalten konnte, aber erstens hatte sie selbst noch gar keine Zeit gehabt, alles zu verarbeiten, und zweitens hatte die Reaktion der anderen ihr gezeigt, dass sie dafür noch nicht bereit waren.

»Ich bin so weit«, sagte Lottie und blickte in den Spiegel.

Es war perfekt; alle Strähnen, die das Schwert nicht erwischte hatte, waren nun präzise und gerade abgeschnitten, so dass ihre neue Frisur einen hübschen Rahmen um ihr Gesicht bildete und sie älter und schmaler aussehen ließ.

»Ich find’s toll.« Lottie wandte sich wieder ihrer Prinzessin zu und bemühte sich, die Schatten in der Zimmerecke zu ignorieren. »Danke, Ellie.« Sie strahlte sie noch einmal an und hoffte, dass es ihr gelang, ihre wahren Gedanken zu verbergen, als sie aber sah, auf welche Weise Ellie ihr Lächeln erwiderte, war klar, dass sie beide das Gleiche taten.

»Okay. Jetzt bist du dran«, sagte Lottie und nahm Ellie die Schere ab.

Die beiden Mädchen tauschten die Plätze, Ellie setzte sich hin und wickelte das Handtuch um ihre Schultern wie einen königlichen Mantel.

Lottie hielt die Schere in der Hand und spürte die Kraft, die davon ausging, und die Bedeutung des Augenblicks.

Die Wahrheit hatte sie verändert, und es war an ihr, dafür zu sorgen, dass es zum Guten war. Wenn sie sich Claude entgegenstellen wollten, mussten sie zunächst alles vergessen, was sie zu wissen glaubten, alles, was mit der maradovischen Königsfamilie zu tun hatte. Mit Ellies Familie.

Während Lottie behutsam schnippelte und immer wieder sorgfältig die Haarlängen abglich, fühlte Ellie, wie sie immer ruhiger wurde – und schon nach kurzer Zeit dämmerte sie ein, so dass ihr Kopf schlaff zur Seite fiel wie bei einer Puppe. Jeder schläfrige Atemzug war wie ein besänftigendes Lied in Lotties Ohren, beruhigend und tröstlich, und sie hoffte inständig, dass Ellie in ihren Träumen Frieden fand. Zufrieden hielt sie eine pechschwarze, abgeschnittene Locke in ihrer Handfläche und pustete sie fort.

Als sie aufstand, schwang der Wolfsanhänger glitzernd über Ellies Hals hinweg und erinnerte Lottie an den Rosenwald und an alles, was passiert war.

Warum ist Jamie dein Partist?

Ingrids Frage schwoll in ihrem Kopf an wie fernes Donnergrollen, eine graue Wolke, die sich über ihr zusammenbraute und die sie nicht ignorieren konnte.

Wofür wollte Claude sich rächen?

Würde er wirklich so weit gehen, einen Mord zu begehen?

Was konnte einen Menschen dazu bringen, so etwas zu tun?

Und wieder vernahm sie die eine Frage, von der sie wusste, dass sie etwas bedeutete, eine knurrende, wissende Stimme, die ihr heimtückisch ins Ohr flüsterte und sich über ihr Unwissen lustig machte: Warum ist Jamie dein Partist?

Wieder und wieder hörte sie die Worte in ihrem Kopf, aber diesmal waren es nicht Ingrids Worte; es war Lotties eigene Stimme. Es fühlte sich an wie ein Hinweis, das erste Puzzlestück zu einem größeren Rätsel, ein Zauberspruch, der eine verborgene Tür öffnete, und sie lehnte sich so weit vor, dass ihre Wimpern sich fast berührten. »Warum ist Jamie dein Partist?«, flüsterte sie.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Lottie zusammenschrecken, und sie eilte sofort hin, um zu öffnen.

»Hey«, sagte sie leise und öffnete die Tür langsam, um Ellie nicht zu wecken.

»Hey«, gab er zurück, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie hätte beinahe aufgelacht, als sie die große, schwarze Katze auf seinem Arm erblickte, die sich eng an ihn schmiegte. Vorsichtig schlüpfte Lottie durch den Türspalt und streichelte Vampy. »Ellie ist eingeschlafen, wir sollten leise sein. Wollen wir raus zum Teich gehen?«

Jamie nickte, lugte über Lotties Schulter und machte ein seltsames Gesicht, als er Ellie in dem Stuhl sah.

»Scheint so, als bräuchte sie nach den Neuigkeiten erst mal eine Pause«, sagte Lottie, und sie gingen nach draußen.

 

Mittlerweile war unbestreitbar wieder Leben in die Schule gekommen, neue und wiederkehrende Schüler füllten die Flure, sonnengebräunte Haut und Designerklamotten, Golfmobile mit riesigen, zum Bersten gefüllten Koffern. Unwahrscheinlich, dass irgendeiner von ihnen sich vorstellen konnte, was sie den Sommer über durchgemacht hatten.

»Weißt du was?«, sagte Jamie, als sie auf der Bank vor dem Springbrunnen saßen. »Manchmal bin ich froh, dass ich keine Familie habe.«

Lottie hätte sich beinahe verschluckt, sie konnte kaum glauben, dass Jamie so etwas sagte, dann verdunkelte sich ihre Miene, und sie stimmte zu: »Wenn ich recht drüber nachdenke, ich auch.«

Sie war nicht mehr verwirrt, wenigstens das konnte sie behaupten. Sie tappten nicht mehr im Dunkeln, was Leviathan und die Ziele der Organisation betraf; so langsam wurde alles klarer, und gemeinsam näherten sie sich der Wahrheit. Aber als sie daran dachte, kam ihre Angst um Ellie zurück.

Vampy ließ ein grimmiges Miau vernehmen und wand sich, bis Jamie ihn absetzte.

»Wird er in der Schule zurechtkommen?«, fragte Lottie und blickte ihm nach, wie er davonhuschte, um sich etwas zu fressen zu suchen.

»Ich glaube, er kann ganz gut auf sich selbst aufpassen«, erwiderte Jamie und bedachte Vampy mit einem mürrischen Blick, dabei sah sie ihm an, dass er ihn genauso gern hatte wie sie. »Wir fliegen am Wochenende nach Maradova zurück«, sagte Jamie. »Ich habe nur mit Nicolai gesprochen, daher kann ich leider nicht sagen, wie die königliche Reaktion auf die Neuigkeiten ausgefallen ist. Wir müssen abwarten, bis wir es selbst sehen.«

»Und du?«, fragte sie. »Wie geht es dir mit all dem?«

Jamie antwortete nicht gleich, sondern starrte eine Weile aufs Wasser.

»Du hast gesagt, dass Ingrid nicht mein Feind ist, und damit hattest du recht«, erwiderte er geheimnisvoll.

»Es ist gut, dass wir jetzt wissen, dass es Claude ist, auch wenn es schwer zu akzeptieren ist.«

»Ich werde dafür sorgen, dass sie bezahlen, wer auch immer hierfür verantwortlich ist.«

Bevor Lottie recht begriff, was passierte, hielt Jamie eine Strähne ihres frisch geschnittenen Haares in der Hand und starrte so gebannt auf den Schnitt an ihrer Wange, dass ihr ganz schwindelig davon wurde.

Der Schullärm um sie herum verebbte, und der Geruch nach Rosen und Zimt war so stark, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

»Jamie, ich …«

Lottie war sich nicht ganz sicher, was sie sagen wollte; sie wusste nur, wie verängstigt sie war. Sie hatte Angst um Ellie und Jamie, Angst, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht hatte, als sie die Wahrheit ans Licht gebracht hatte, und hinzu kam ihre Befürchtung, dass sie zwar das Geheimnis entdeckt hatte, aber trotzdem eigentlich überhaupt nichts wusste. Doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, rief jemand nach ihr.

»Ah, Lottie, ich bin froh, dass ich Sie vor der Eröffnungsrede treffe«, verkündete Professorin Devine, und ihr heller Sopran klang wie Vogelgezwitscher. Rasch ließ Jamie ihre Locke los, beide drehten sich um, und der kurze Augenblick war genauso schnell, wie er entstanden war, schon wieder vorüber. »Ich habe gehört, Sie sind im Rosenwald gestolpert und hingefallen. Diesmal werde ich darüber hinwegsehen, dass Sie sich außerhalb des Schulgeländes bewegt haben. Ich

Die Frage fühlte sich bedeutungsschwer an und schien eine Million mögliche Antworten nach sich zu ziehen. Die Wahrheit war eine gute Sache, und nachdem sie tief Luft geholt hatte, sagte sie zum ersten Mal seit langer Zeit zu sich selbst: Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf.

»Wenn ich es mir recht überlege, geht es mir bestens, Professorin. Ich hoffe, Sie hatten einen wunderbaren Sommer.«

»Ja, ja, den hatte ich, und das freut mich sehr.« Die Lehrerin wedelte abwesend mit der Hand durch die Luft. »Nun, ich wollte fragen, ob Sie beide mir bei etwas behilflich sein könnten. Wir haben einen Neuankömmling, und ich habe die Vermutung, dass Sie einander bereits kennen. Es wäre wunderbar, wenn Sie beide ihm das Schulgelände zeigen könnten. Er wartet in meinem Büro – kommen Sie doch bitte mit, damit ich Sie miteinander bekannt mache.«

Lottie fühlte eine kitzelige Spinne über ihre Haut kriechen, eine nervöse Ahnung, die sich nicht abschütteln ließ, und dazu das Zirpen der Zikaden, eine sengend heiße Sonne und der schläfrige, entwaffnende Duft der Lilien.

»Selbstverständlich«, sagte Lottie, und sie und Jamie standen auf, um Professor Devine zu folgen. Lottie hörte die Lehrerin reden, aber es klang wie von weit her. Sie roch den Zimtduft von Jamies Aftershave, der aber sogleich von Erinnerungen an Takeshin überlagert wurde.

Als die Lehrerin die Tür zu ihrem Büro öffnete und Lottie

»Das hier ist Haruki Hinamori. Vielleicht sind Sie sich im Laufe des Sommers bereits begegnet«, verkündete die Lehrerin. »Er wird mich dieses Schuljahr als Assistent unterstützen. Es wäre schön, wenn Sie sich um ihn kümmern würden.«

Haru strahlte Jamie an. »Wie schön, dich wiederzusehen«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass wir ein interessantes Jahr miteinander verbringen werden.«

 

Ende Buch drei