»Wir hätten nicht herkommen sollen. Ha-ha-ha …«

»Hier.« Lottie reichte Ellie ein Taschentuch, gerade als sie ein gewaltiges Niesen ausstieß.

»Hatschiii!« Ellie verbarg das Gesicht hinter dem Tuch und putzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie den Kopf hob und mit tränenden Augen Rosewood Hall betrachtete.

Am Ende der rosengesäumten Auffahrt thronte die Schule der Ehrlichen, Entschlossenen und Einfallsreichen. Sie hob sich vor ihnen in die Höhe, von Sonnenlicht umflutet wie das Antlitz einer alten Gottheit und ebenso ehrfurchtgebietend. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Schritt Richtung Sicherheit.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Es waren nicht nur ihr Sturz und die heißhungrigen Blicke, die ihr folgten. Für einen Moment waren die Gerüche, die sich sonst nach Heimat anfühlten, sauer geworden. Lottie war froh, dass Ellies Nase verstopft war.

Sie reichte ihrer Freundin noch ein Taschentuch und blieb an ihren Augen hängen. Dunkle Mitternachtsozeane, die sie in die Tiefe zogen. Mittlerweile waren sie und Ellie fast gleich groß, der Abstand zwischen ihnen schrumpfte mit jedem Zentimeter, den Lottie wuchs. Sie konnte jetzt direkt in diese

»Danke«, grummelte Ellie. Sie schnäuzte sich noch einmal, und der Moment war vorbei. »Wir hätten uns die Ergebnisse schicken lassen sollen. Dann hätten wir jetzt unsere Ruhe.« Mit einem kaum merklichen Zögern fügte sie hinzu: »Ruhe vor diesen Reportern. Sieh nur, was sie dir angetan haben.« Ihr Gesicht wurde düster. »Ich sollte ihnen eine Lektion erteilen.«

In ihrem schwarzen Oversize-Pullover mit dem Emblem einer Band auf der Vorderseite und der zerrissenen Netzstrumpfhose war sie weder für den warmen britischen Sommer noch für ihre Erkältung passend gekleidet. Lottie dachte, dass sie im Fieber delirieren musste, wenn sie glaubte, in diesem Aufzug irgendwem eine Lektion erteilen zu können.

Mit einem aber hatte sie recht: Die Rückkehr nach Rosewood fühlte sich zunehmend wie eine falsche Entscheidung an.

Rosewood Hall war Lotties Zuhause – auf mehr als eine Art, wie sie erst kürzlich herausgefunden hatte. Sie hatte ein Geheimnis enthüllt, das fast noch brisanter war als ihr hochvertraulicher Status als Ellies Porterin. In einem Strudel von Ereignissen, die ihr immer noch völlig unwahrscheinlich vorkamen, hatte sich herausgestellt, dass die Gründerin der Schule die entflohene Prinzessin Liliana Mayfutt gewesen war – und Lotties Vorfahrin. Über Generationen hinweg hatte sie Lottie ihre Krone als funkelndes Rätsel vermacht, das darauf wartete, von ihr gelöst zu werden.

Ihr Leben lang hatte Lottie davon geträumt, eine

Warum war sie dann ausgerechnet gestürzt, als sie gerade durchs Tor getreten war? Rosewood war doch ihr sicherer Hafen – nicht ein Ort der Verunsicherung.

»Ach was, alles bestens«, flunkerte Lottie. »Außerdem tut es gut, ein bisschen herumzukommen. Es wird bestimmt toll, ein paar Tage bei Binah zu verbringen.«

Es steckte nämlich mehr hinter dieser Reise als die Absicht, ihre Examensnoten abzuholen. Wenn es nach Lottie gegangen wäre, wären sie gleich nach den Prüfungen in Rosewood geblieben. Sie fand, dass Ellie sich vom maradovischen Palast fernhalten sollte. Er machte sie krank, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie aufs Stichwort wurde Ellie von einem Hustenanfall geschüttelt. Als er vorüber war, rang sie sich ein schwaches Lächeln ab.

»Lass uns die anderen suchen. Und möglichst weit von diesen Reportern wegkommen«, schlug Lottie vor.

»Hatschiii!«

»Gesundheit, Ellie! Hallo, Lottie!«

Die Mädchen blickten auf. Unter dem großen steinernen Torbogen vor dem Empfangsgebäude stand ein Mädchen mit

»Du bist ja erkältet, Ellie!« In Binahs Brillengläsern spiegelte sich das Sonnenlicht. »Ich werde dir meinen Spezialtrank mit Honig und Ingwer zubereiten, wenn wir bei mir sind. Damit lässt sich alles kurieren.«

»Ach, ist schon in Ordnung …« Ellie fing Lotties Blick auf und schaute schnell wieder weg. »Mir geht’s gut. Kommt, lasst uns endlich unsere Ergebnisse holen.«

Sie gaben Nicolai Olav und Samuel ein Zeichen, draußen zu warten, und betraten das Gebäude. Sie bemühten sich, kein Aufsehen zu erregen, doch das war mit Ellies Aufzug als Achtzigerjahre-Rockstar und Lotties Prinzessinnenkleid gar nicht so leicht.

Die Halle empfing sie mit knarrenden Holzdielen und saphirblauen Lichtstrahlen, die durch die bunten Fensterscheiben hereinfielen und direkt auf Ellie schienen.

Es war warm und stickig und roch nach Deo und Parfüm. Während die Freundinnen zum Empfangstisch gingen, spürte Lottie die Blicke der anderen Schüler im Rücken. Konnten sie eigentlich nirgendwohin gehen, ohne dass man sie anstarrte?

Eine rothaarige Vertrauensschülerin aus Conch trat ihnen entgegen. Auf ihrem Namensschild stand JESS PARKER-SCOTT. Sie entblößte ihre perfekt gebleichten Zähne zu einem blendenden Lächeln. O nein. Nicht noch mehr Fragen.

Doch dies war nicht die Art Frage, mit der sie gerechnet hatte.

»Hallo! Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, an einem

Das Mädchen schob jeder von ihnen eine glänzende Broschüre in die Hand. Ihre rotlackierten Fingernägel funkelten wie Klauen. »Die Bewerbungsfrist läuft noch, aber nur noch drei Tage.« Ihr Lächeln wurde noch breiter, und ihre Zähne strahlten in überirdischem Glanz. Lottie musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zusammenzukneifen. »Vielen Dank.«

Hinter dem Mädchen sah sie eine Lehrerin Umschläge aushändigen. Die Examensergebnisse. Deshalb waren sie hier. »Wenn du uns jetzt entschuldigen würdest …«

Die Freundinnen gingen weiter, während sich die Vertrauensschülerin an eine andere Gruppe wandte. Gleich waren sie am Empfangstisch. Auf diesen Moment hatten sie gewartet. Jetzt würden sie erfahren, ob ihre Mühen belohnt worden waren.

»Nur keine Panik«, murmelte Lottie. »Viel Glück«

 

In Lilianas geheimem Atelier war es kühl im Vergleich zum warmen Sonnenschein draußen. Anstelle der blühenden Blumen umgaben sie hier muffige Wolldecken und staubige Möbel, und der weiche Schein von Fackeln und Lichterketten erleuchtete ihr Geheimversteck in den Tiefen der Schule, wohin sie sich zurückgezogen hatten, um die Umschläge mit ihren Noten zu öffnen.

An einer Wand des Ateliers stand ein sehr altes Möbelstück – Lilianas Schreibtisch. In einer seiner Schubladen lag ein jahrhundertealtes Tagebuch. Lilis Tagebuch.

Lottie hatte vorgehabt, das Tagebuch nach dem Examen mitzunehmen und ausgiebig darin zu lesen, um alles über ihre mysteriöse Ahnin zu erfahren.

»Lottie«, brachte Ellie unter Niesen hervor. »Meine Eltern haben mich gebeten, dir das hier zu geben.« Sie reichte ihr einen Umschlag, der mit dem Wolfswappen des maradovischen Königshauses versiegelt war.

Lottie öffnete ihn vorsichtig und fand einen Brief darin. Er war nur wenige Zeilen lang, trotzdem machte jedes einzelne Wort sie unerklärlich nervös.

Herzlichen Glückwunsch zu einem weiteren erfolgreichen Jahr.

Die maradovische Königsfamilie dankt Dir für Deinen unermüdlichen Einsatz.

Der Brief war von König Alexander persönlich unterschrieben und mit seinem Zeichen gestempelt, einem purpurroten Dreieck, das von drei Kreisen umgeben war. Lottie hatte es erst einmal zuvor gesehen. Es war der Beweis, dass der Brief von ihm persönlich stammte.

»Was schreiben sie?« Ellie beugte sich neugierig vor.

»Es ist nur ein Dankesbrief. Kein Grund zur Sorge.« Lotties Finger schlossen sich um das schwere Papier und drückten es zusammen.

»Einfach unfassbar. C’est ridicule!« Anastasias Stimme eilte ihr voraus, Micky und Lola Tompkins und Raphael folgten ihr nervös, und Percy bildete das Schlusslicht. Alle fünf kamen ins Atelier.

»Wie können sie es wagen?« Anastasias Stimme war gefährlich leise, und Lottie bemerkte, dass sie wieder ihre Sonnenbrille trug. Ihre kastanienbraune Mähne war zu einem zerzausten Knoten gebunden, ein schlechtes Zeichen für ein Mädchen, das seine Haare normalerweise so liebevoll pflegte wie Autoliebhaber einen seltenen Oldtimer.

»Was ist los?«, fragte Ellie, doch alle ignorierten sie.

»Anastasia, es wird schon wieder in Ordnung kommen«, zwitscherte Lola und zuckte erschrocken zurück, als Anastasia sich wütend zu ihr umdrehte.

»Wird es nicht, Lola. Das ist die schlechteste Nachricht, die ich je bekommen habe«, fauchte sie.

Percy legte Anastasia beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Wenn sie die arme Lola so anschrie, musste die Nachricht tatsächlich ziemlich schlecht sein.

Lottie beobachtete die Szene von der anderen Seite des Raums. Sie fühlte die emotionalen Narben aus der Tompkins-Villa wie frische Wunden aufbrechen. Kein Wunder, dass sie sich stritten. Es gab so vieles, worüber sie noch nicht gesprochen hatten.

»Ani«, sagte Binah ruhig und trat vorsichtig einen Schritt auf sie zu. »Jetzt atme mal tief durch und erklär uns, was los ist.«

»Es geht um Saskia.« Anastasia schüttelte sich wütend. »Der Rat der Partisten hat offiziell bestätigt, dass Saskia Opfer von Gehirnwäsche geworden ist, aber die Schatzmeister von Rosewood wollen sie nicht zurück an die Schule lassen, weil sie ein ganzes Jahr verpasst hat. Angeblich wegen der strengen Richtlinien.«

Lottie spürte Anastasias vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet, als wäre es ihre Schuld, dass Saskia im Kerker von Maradova gefangen gehalten worden war. Dabei war es doch Saskia gewesen, die man überzeugt hatte, sie zu entführen.

»Kann sie das Jahr denn nicht wiederholen?«, fragte Ellie besorgter, als Lottie erwartet hätte.

»Es ist nicht nur das.« Anastasia ließ sich in den breiten Sessel in der Mitte des Raums fallen. Eine Krone aus goldenen LED-Lämpchen schwebte über ihr. »Der Rat sagt, sie könnten ein paar Strippen ziehen, wenn sie ihnen Informationen über Leviathan gibt, aber …«

Die Stimmung im Raum gefror. Alle konnten sich denken, wie der Satz weiterging. Saskia dazu zu bringen, über den mysteriösen Meister von Leviathan zu sprechen, war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Partistin war wie mit einem Bann belegt. Bei der bloßen Nennung seines Namens starrten ihre Augen angstvoll ins Leere. Nicolai hatte ihnen berichtet, was sie bei ihrer ersten Vernehmung gesagt hatte: »Ich darf ihn nicht enttäuschen.«

Die unzähligen Verhöre hatten nur ein klares Ergebnis erbracht: Wer auch immer der Meister von Leviathan war, er

»Beruhige dich, Anastasia«, sagte Lottie. »Wir lassen uns etwas einfallen. Wir müssen ihnen klarmachen, dass Saskia in dieser Sache nicht frei entscheiden kann.«

Anastasias Schultern entspannten sich etwas.

»Ich wechsle ja nur ungern das Thema«, meldete Raphael sich zu Wort. Er sah von ihnen allen am erholtesten aus, seine Haut war taufrisch und zeigte keine Spuren von schlaflosen Nächten. »Aber kommt Jamie eigentlich noch?«

Der arme Raphael! Er hatte sich so bemüht, Jamie ein guter Freund zu sein, und Lottie wusste besser als jede andere, wie schwer das in Anbetracht von Jamies Sturheit sein konnte. Sie selbst war zu dem Ergebnis gekommen, dass man Jamie seine Probleme am besten allein lösen ließ, doch seit einiger Zeit fragte sie sich, ob das wirklich so eine gute Idee war.

»Nein, er kommt nicht«, sagte Ellie knapp. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie keine Lust hatte, weiter darüber zu sprechen.

Ellie und Jamie hatten in der letzten Zeit kaum noch ein Wort miteinander gewechselt, die beiden waren mehr und mehr auseinandergedriftet. Anfangs hatte Lottie darauf gehofft, dass Jamie sich Ellie von allein wieder annähern würde, aber mittlerweile zweifelte sie daran. Und je länger die Funkstille zwischen den beiden dauerte, desto kälter wurde es zwischen ihnen.

»Wie schade«, sagte Raphael. Sein enttäuschtes Gesicht spiegelte die Mienen der anderen.

Micky seufzte.

»Geht es nur mir so«, fragte Lola, und ihr dünnes Stimmchen hallte durch den großen Raum, »oder fühlt ihr euch auch so mies?«

Die anderen nickten schweigend. Ja, sie waren zurück in ihrem geliebten Rosewood, aber es fühlte sich nicht so an wie früher. Seit dem Vorfall in der Tompkins-Villa hatte sich etwas verändert.

Schluss jetzt! Lottie schob einen Finger unter die Umschlagklappe, riss sie auf und zog die gelbe Karte mit ihren Ergebnissen heraus.

»Es ist, als würde etwas fehlen«, stimmte Micky Lola zu. »Als wären wir noch nicht bereit, wieder hier zu sein.«

Lottie starrte auf die Zahlen in ihren Händen. Der schwache Schein der Lichterkette trübte ihr die Sicht.

Herzlichen Glückwunsch zu einem weiteren erfolgreichen Jahr …

Die Worte des Königs verhöhnten sie, während die Zeit stehenblieb und Lottie der grässlichen Realität ins Auge blickte, die grimmig zurückstarrte.

Es war unmöglich. Sie hatte so hart gearbeitet. Sie war eine gute Schülerin. Das wussten alle.

»Ähm, Leute …« Ihre Stimme war unerwartet ruhig, als wäre sie losgelöst von allem und schwebte über ihr. Sie hob den Blick und streckte die Hand mit der Karte aus. »Ich bin durchgefallen.«