Ich erwachte an meinem dritten Morgen in Witwerberg und lauschte angestrengt auf Motorengeräusche oder Stimmen. Auf irgendein Anzeichen für baldige Hilfe. Doch da war nichts. Nicht einmal Vögel zwitscherten im Wald. Wieder nur diese unheimliche Stille.
Ich stand auf und aß einen Schokoriegel, damit mein Magen nicht rebellierte. Mit dem ungesüßten schwarzen Kaffee und dem Riegel vom Abend zuvor hatte ich nach dem spärlichen Frühstück nur noch einen Riegel übrig. Da die beiden Waffeln schon weg waren, blieben nur noch vier Tütchen Chips, ein Beutel Kaffee, zweimal Zucker und Milch und eine kleine Ketchup-Packung aus dem Schnellrestaurant. Ich war erschrocken, wie schnell meine Rationen weggingen. Die Nahrung mit den meisten Kalorien war schon fast aufgebraucht. Hilfe musste unbedingt bald eintreffen.
Auf dem Fußboden zu schlafen und den Proviant aus Junk- Food einzuteilen, wurde zusehends ermüdender. Aber schlimmer als das war der Umstand, dass ich mich allmählich daran gewöhnte. Als würde ich mich mit einer langen Gefängnisstrafe abfinden, ohne Chance, je zu entkommen. Zumindest fühlte sich es so an, wenn ich in der Hütte war. Draußen fing mein Herz an zu rasen, und mir sträubten sich die Haare, wenn ich wieder das Gefühl hatte, dass etwas im Verborgenen lauerte.
Keine der Empfindungen war angenehm, aber ich entschied mich für das kleinere Übel und sorgte dafür, dass meine Ausflüge ins Freie kurz und zielgerichtet blieben. Meine »Toilette« war hinter der Hütte, vorn sammelte ich Schnee in der Dose und suchte Holz zum Verfeuern.
Sobald ich genug zusammenhatte, hielt ich die Dose zum Kochen übers Feuer. Am Abend zuvor hatte sich das dünne Metall bereits in der Hitze verzogen, die leuchtende Farbe der Dose war rußverschmiert. Ich hatte mir die Hände verbrannt und meinen Ärmel angesengt, als ich versuchte, die Dose aus dem Feuer zu holen, aber diesmal war ich ein bisschen geschickter. Zumindest schwamm nichts mehr im Wasser, was ich dort nicht haben wollte.
Um die Rationen noch besser einzuteilen, machte ich Kaffee mit der halben Packung des Instantkaffees aus Kolumbien. Den Zucker und die Milch hob ich mir für später auf. Da ich vorerst vor den Gefahren draußen in Sicherheit war, spürte ich, dass die Monotonie wieder Besitz von meinem Denken ergriff. Wenn mich nicht bald jemand fände, müsste ich mir wahrscheinlich einen Begleiter ausdenken, um nicht den Verstand zu verlieren.
Ich versuchte, mir einzureden, dass ich im Augenblick klarkam. Ich hatte Holz, genug zu essen für den Tag, und ich hatte von außen die Tür markiert für etwaige Retter. Was konnte ich schon groß tun, als im Warmen zu bleiben und mich nicht der Angst auszusetzen, die mich jedes Mal überkam, sobald ich einen Fuß ins Freie setzte? Die Sorgen von morgen hatten Zeit bis morgen. Ich saß wieder auf dem Boden, zog die Knie an die Brust und versuchte, meine Arme warm zu rubbeln. Mehr als alles andere wünschte ich mir einen Schlafsack.
Ich trank den dünnen Kaffee, der mehr nach Qualm als nach allem anderen schmeckte. Ich füllte ihn in meine PET-Flasche, und der Kunststoff wurde trübe, weil ich heißes Wasser einfüllte. Zumindest war ich von dem Wasser noch nicht krank geworden. Das Abkochen funktionierte hoffentlich. Aber ich nahm mir vor, Aufbereitungstabletten zu kaufen, wenn ich diesen Ort verließ. Wenn ich das hier überlebte, würde ich einen Faltbecher kaufen und ihn überall hin mitnehmen. Wahrscheinlich würde es dann eine ganze Sammlung an Survival-Sachen geben, die in meiner Handtasche ihren festen Platz fanden: eine Rettungsdecke, ein Taschenmesser, ein tragbares Urinal, ein Erste-Hilfe-Set, ein Feuerstarter-Set, gefriergetrocknete Nahrung. Ich würde nie wieder etwas als gegeben hinnehmen. Außerdem würde ich Ethan auch so ein Survival-Set besorgen, auf dass wir doppelt vorbereitet wären.
Wenn ich ihn je wiedersah.
Ein schrecklich ernüchternder Gedanke, dass ich meinen Mann vielleicht für immer verloren hatte. Bislang hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht. Ich hatte immer nur davon gesprochen, dass er verschwunden war. Dass er irgendwo dort draußen steckte, genauso verzweifelt wie ich. Dass auch er zu überleben versuchte, vielleicht zu fliehen probierte, vor wem oder vor was auch immer. Aber in diesem Moment verspürte ich zum ersten Mal diese Furcht, dass ich Ethan womöglich nicht wiedersah. Ich stellte mir vor, dass ich, selbst wenn man mich finden würde, immer noch keine Ahnung hatte, wo er steckte oder wie ich ihn finden könnte.
Jeder Versuch, mich abzulenken oder meine Situation herunterzuspielen, scheiterte und verbrannte angesichts der Vorstellung, dass ich Ethan vielleicht für immer verloren hatte. Ich musste aufhören, zu überlegen, auf welche Weise er verschwunden war, ohne eine einzige Spur draußen im Schnee zu hinterlassen – vielmehr sollte ich darüber nachdenken, wo er sich jetzt befand. Gefolgt von der Überlegung, warum man ihn womöglich entführt hatte und wer das getan hatte – oder was.
In Gedanken kehrte ich wieder zu den Toten unter der Veranda zurück. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Ort. Hier lauerte eine Gefahr, die ich zwar fühlen, aber nicht erklären konnte. Jedes Mal, wenn ich an Ethan dachte, vermutete ich unweigerlich, dass sein Verschwinden auf das zurückzuführen war, was … hier nicht stimmte.
Witwerberg war sicher schon vor einer ganzen Weile aufgegeben worden. Eine Geisterstadt in den Bergen, nur zu erreichen über einen Weg, der so schmal war, dass wir es mit dem Auto nie dorthin geschafft hätten. Ich hatte keine Ahnung, wie alt der Ort sein mochte; hundert Jahre, zweihundert? Oder älter? Wann war er aufgegeben worden? Waren die Familien nach und nach aufgebrochen? Waren sie in größere Städte abgewandert? Gut möglich, aber da war etwas mit den Blockhütten. Sie sahen fast identisch aus. Keine von ihnen war modernisiert worden, nirgends hatten die Leute, die geblieben waren, etwas an- oder umgebaut. Es schien, als wären sämtliche Bewohner gleichzeitig weggezogen. Niemand war mehr da, um Veränderungen vorzunehmen, um weitere Zimmer abzutrennen oder den Dachstuhl auszubauen.
Ich lag auf dem Fußboden neben dem Feuer und schaute hinauf zu den Dachsparren. Wenn alle Leute ungefähr zur selben Zeit aufgebrochen waren, dann musste es dafür doch einen Grund geben, richtig? Irgendein Ereignis, das die Menschen vertrieb. Hatte in Deutschland nicht die Pest gewütet? In ganz Europa, wenn ich im Geschichtsunterricht aufgepasst hatte. Was nicht der Fall war, weil ich die meiste Zeit im Unterricht damit verbracht hatte, mir die Fingernägel mit Tipp-Ex anzumalen. Lagen wegen der Pest Tote unter der Veranda? Aber wer würde die Opfer einer Seuche vor der Haustür bestatten? Und wenn es keine Seuche gewesen war, wieso lag dann der Ort verlassen da? Oder dachte ich zu kompliziert, und die Menschen waren einfach abgewandert? Vielleicht hatten es die Bewohner Witwerbergs nicht so sehr mit der »Do-it-yourself«-Welle wie die Menschen heute gehabt.
Ich seufzte und ballte die Hände zu Fäusten. Die Gedanken gingen wieder mit mir durch, ich wollte Erklärungen finden, verstrickte mich aber in diesem Vorhaben. All die entwirrten Fäden verhedderten sich zu einem Knäuel aus Verzweiflung. Ich wusste, dass mein Geist versuchte, mich von Ethan abzulenken, vom langen Warten auf Hilfe. Aber so beschissen das auch war, mir blieb nichts anderes übrig. Ich konnte nur versuchen, die Ruhe zu bewahren und mich mit meinem Denken auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
In diesem Moment fiel mir auf, dass einer der Sparren über mir eigenartig aussah. Es war mir vorher nicht aufgefallen, als ich mich in der Hütte umgesehen hatte. Die anderen Sparren waren alle gerade, aber der breiteste in der Mitte wies an einer Stelle eine merkwürdige Verdickung auf. Es war aber keine natürliche Rundung durch den Wuchs des Baums. Die Stelle war spitz. Wie eine scharfe Kante.
Ich stand auf und stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Und auf einmal konnte ich erkennen, dass dort oben etwas auf dem Dachsparren lag. Etwas mit Ecken und Kanten, etwas von Menschenhand Gefertigtes.
Da ich die perfekte Ablenkung gefunden hatte, holte ich sofort meine behelfsmäßige Krücke und versuchte, das Ding vom Balken zu stoßen. Ich brauchte mehrere Versuche; was es auch immer war, offenbar lag es dort schon ziemlich lange. Ich konnte mir nur vorstellen, dass viel Schmutz und Fett den Gegenstand gleichsam mit dem Holz verklebt hatten. Unweigerlich musste ich an die Oberfläche der alten Küchenschränke denken, als Ethan und ich in unsere gemeinsame Wohnung zogen, an die Schicht aus Fett und Staub, die sich nur mit einem Wandschaber hatte entfernen lassen.
Schließlich gelang es mir, das Ding von dem Sparren zu stoßen. Es kippte so schnell herunter, dass ich es nicht rechtzeitig auffangen konnte. Es knallte auf den Boden. Ich zuckte zusammen, als der hölzerne Behälter zerbrach und der Inhalt sich auf den Dielen verteilte.
Mir war recht schnell klar, dass das Kästchen und der Inhalt alt sein mussten. Sehr alt. Für mich sah das nach einer Box mit Krimskrams aus, aber es hatte der Person, die all das zusammengetragen hatte, vielleicht eine Menge bedeutet. Die Dinge sahen jedenfalls ganz nach der Art von Kram aus, den man nur aus Nostalgie aufbewahrt; wie meine Kiste mit den Spielzeugen von den Happy Meals, den Geburtstagskarten und kaputten Halsketten zu Hause.
Die Box schien mal eine Zigarrenkiste gewesen zu sein, aber das Label hatte jemand abgekratzt. Bei den Gegenständen in dem Kästchen handelte es sich um zerfaserte Haarschleifen, ein Glasornament in Form eines Schmetterlings (jetzt zersprungen von dem Sturz), einen Champagnerkorken, eine Muschel, eine getrocknete Rosenknospe und ein paar Stickbilder, die sich mit der Zeit halb aufgelöst hatten. Ich sammelte all die Gegenstände wieder ein und fand noch eine angelaufene Armspange und eine verbogene Haarnadel, die etwas weiter entfernt lagen. Hatte hier ein Mädchen Erinnerungsstücke in diesem Kästchen aufbewahrt?
Der Schmetterling aus Glas sah hübsch aus. Es ärgerte mich, dass er zerbrochen war. Oder war er schon kaputt in das Kästchen gelegt worden? Eher unwahrscheinlich, wie ich erkannte, als ich den Fetzen Zeitungspapier aufhob, in den das Glas einst eingewickelt worden war. Das Papier besaß in etwa die Form der kleinen Glasflügel, weil es schon so lange um das Glas gewickelt gewesen war; es war dünn, brüchig, die Druckerschwärze verschmiert. Ich nahm den Papierfetzen, glättete ihn behutsam und suchte aus reiner Neugierde nach einem Datum. Tatsächlich entdeckte ich eine Jahresangabe inmitten der gedruckten deutschen Wörter: 1814. Also war dieser Ort wirklich alt. Die Zeitung stammte vielleicht noch nicht einmal aus der Zeit, als die Blockhütten gebaut wurden.
Ich war im Begriff, den Glasschmetterling wieder einzupacken, als ich noch etwas auf dem Zeitungspapier entdeckte. Ein Wort, das ich kannte, was an sich schon erstaunlich war, da ich in der Sekundarstufe 1 Französisch gewählt hatte (allerdings hatte ich nicht viel gelernt, außer, nach dem Weg zur Bibliothek zu fragen). Ich konnte kein Wort Deutsch, abgesehen von »Auf Wiedersehen«, aber dieses Wort, um das es ging, fiel mir auf, weil es nicht irgendein Wort war, sondern ein Name. Es war jener Name, den jemand in die Holzkonstruktion des Ziehbrunnens geschnitzt hatte sowie in den Holzklotz, den ich am Tag zuvor vom Schnee befreit hatte: Witwerberg.
Ich runzelte die Stirn. Vielleicht hatte der Papierfetzen gar nicht in erster Linie das Glas schützen sollen, womöglich gehörte er auch zu den Dingen, die in dem Kästchen aufbewahrt werden sollten? Oder es handelte sich bloß um eine Notiz, die jemand anders aufbewahren wollte, weil das Dorf namentlich erwähnt wurde. Auf dem Ausschnitt gab es keine fette Schlagzeile, es handelte sich nur um einen kürzeren Text am unteren Ende einer Seite. Die Überschrift, die mir ins Auge gefallen war, enthielt den Ortsnamen, ein paar kurze Wörter, die »in« oder »und« bedeuten könnten, und ein komisches deutsches Wort, dessen Sinn ich zunächst glaubte, entschlüsseln zu können: »verschwunden«. Versch- hörte sich für mich als Engländerin jedenfalls wie … first an? Das »erste« Dorf möglicherweise? Aber was hieß dann -wunden? »wooden« – also irgendwas mit »Holz«? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht hätte ich Deutsch statt Französisch wählen sollen, aber ehrlich gesagt hätte ich dann wahrscheinlich genauso auf dem Schlauch gestanden. Mein Notendurchschnitt von vier spricht da für sich.
Es war frustrierend, ein Puzzle vor Augen zu haben, das ich mithilfe des Internets in Sekundenschnelle hätte lösen können. Erneut etwas, das ich nie wieder für selbstverständlich halten würde: die Möglichkeit, Dinge zu googeln. Dinge wie »was bedeutet dieses Wort« oder »wie reinige ich Wasser ohne chemische Hilfsmittel«.
Doch selbst wenn ich dieses Wort hätte nachschauen können, hätte ich danach wieder nichts zu tun gehabt und nur daran gedacht, wie hungrig ich war. Daher war es vielleicht ein Segen, denn so verbrachte ich eine ganze Weile damit, die Wörter zu lesen und auszusprechen. Mir fielen englische Begriffe ein, die ähnlich klangen, aber das half offenbar auch nichts. Schließlich überlegte ich, was wohl wichtig genug sein könnte, um in einer Zeitung gedruckt zu werden. Soweit ich das beurteilen konnte, ging es in diesem kurzen Ausschnitt um einen örtlichen Handwerker oder irgendeinen Wettbewerb unter Bäckern.
Zwischendurch untersuchte ich den restlichen Inhalt des Kästchens. Aber der Zeitungsausschnitt war noch das Interessanteste. Alles andere war im Grunde Kram, den wahrscheinlich ein Kind gesammelt hatte. Die Muschel stammte bestimmt von einem Aufenthalt am Strand, der Schmetterling war vielleicht ein Geschenk? Die Rose und der Korken der Champagnerflasche stammten womöglich von einem besonderen Ereignis wie einer Hochzeit. Die kleine verbogene Haarnadel wies eine Blume aus Emaille auf und könnte zur Brautausstattung gehört haben.
Vielleicht dachte ich aber auch nur an Hochzeiten, weil Jess’ großer Tag in ein paar Tagen stattfinden würde. Irgendwo in den Bergen strich sie im Hotel womöglich versonnen und voller Vorfreude Falten über ihr Kleid, das natürlich gar keine Falten hatte, und dachte an das große Ereignis. Mein Brautjungfernkleid hing bestimmt längst in meinem leeren Zimmer, falls Jess es nicht schon wieder weggepackt hatte. Wie Reste, die keiner mehr haben wollte. Bei diesem Gedanken krampfte sich mein Herz zusammen; Jess faltete mein Kleid und redete sich ein, dass es nicht so wichtig sei, denn bestimmt dachte sie wieder, dass ich das nicht absichtlich tat. Bitte, Gott, mach, dass sie nicht mehr an das denkt, was beim Beerdigungskaffee passiert ist, bitte mach, dass sie weiß, dass ich ihr das nie mit Absicht antun würde!
»Komm schon, Jess«, murmelte ich vor mich hin und merkte, dass meine Zähne klapperten. »Bitte finde mich.«
Aber ich wusste, es war zwecklos zu hoffen, dass sie bereits nach mir suchte. Dass sie meine Abwesenheit als außergewöhnlich empfand. Denn ich hatte es wieder einmal verbockt. Ich verbockte es meist dann, wenn Jess etwas Besonderes zu feiern hatte. Wann immer sie etwas Tolles oder Großartiges erlebte, zog ich die Aufmerksamkeit auf mich und ruinierte alles. Dabei steckte keinerlei Absicht dahinter. Was es nur noch schlimmer machte. Ich war ein selbstsüchtiges, unbedachtes Kind. Und das nicht einmal nur als Kind – hatte ich nicht vollkommen verpennt, das alte Haus auszuräumen, als Mum und Dad ins Heim gingen? Stattdessen hatte ich während eines viertägigen Musik-Festivals unseren Verkaufsstand besetzt.
Wieder überkam mich Scham. Ich hatte nicht mal versucht, mit ihr über das zu reden, was bei der Beerdigung passiert war, hatte nichts unternommen, um diese Kluft zu überwinden. Jess hatte es auch nicht erwähnt, als wir miteinander sprechen mussten, um diese Reise zu organisieren. Als hätte sie Bedenken gehabt, das alles wieder aufzuwärmen. Oder sie hatte es aufgegeben, irgendetwas anderes mit mir aufzubauen als eine rein oberflächliche Beziehung.
Ich hatte nun diese eine Gelegenheit, um einige Dinge wiedergutzumachen, und jetzt nutzte ich die Gelegenheit schon wieder nicht. Jess würde nie wieder heiraten. Ich wäre nie imstande, das wieder einzurenken. Ein Zucken ging durch meinen Körper, ein Schauer vor Kälte und unter dem Eingeständnis, wieder einmal versagt zu haben.
Draußen frischte der Wind auf. Ich spähte durch die Fensterläden und sah, dass es heftig zu schneien begann. Großartig, wieder ein paar Zoll Neuschnee, durch den ich am Morgen stapfen konnte! Weitere Schneemassen, die mich in Witwerberg festhielten. Ich hoffte nur, dass meine Schilder nicht zuschneiten, auch wenn die Chancen gering waren, dass sie jemand sah. Ich dehnte meinen lädierten Fuß und spürte, dass die Schwellung weiterhin schmerzte. Ob ich es am nächsten Morgen noch einmal bis zur Straße schaffte? Oder lief ich Gefahr, zwischen Dorf und Straße im Schnee stecken zu bleiben, unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen? Wieder eine furchtbare Möglichkeit, die ich in Betracht ziehen musste.
Ich setzte mich erneut ans Feuer und versuchte, mich abzulenken. Ich dachte an meine eigene Hochzeit. Das waren zur Abwechslung mal schöne Erinnerungen. Es war eine kleine Hochzeit gewesen, und wir hatten beschlossen, selbst für die Kosten aufzukommen. Mum und Dad versuchten, mir »Geschenke« zu machen, sie wollten die Location bezahlen und mein Kleid, aber ich blieb stur. Im Hinterkopf hatte ich nicht nur Ethans Stolz gehabt, denn er hasste es, großzügige Geschenke anzunehmen, nein, ich dachte auch an Jess. Ich wollte nämlich keine Mega-Hochzeit, die sie nie toppen könnte. Wenn ich ein kleines Event plante, dann hätte sie vielleicht später Gelegenheit, ihren perfekten Tag zu begehen, so dachte ich damals. Sie sollte die bessere Hochzeit von uns beiden haben.
Ethan und ich, wir hatten uns für schicke Sachen aus Second-Hand-Shops entschieden. Die Klamotten rochen noch ein bisschen nach Mottenkugeln, obwohl wir sie in die Reinigung gegeben hatten. Auf dem Standesamt gaben wir uns das Jawort, zu Gast waren meine Eltern und ein paar unserer Freunde. Ethans Vater hatte die Familie verlassen, als sein Sohn noch klein war, seine Mutter war nach Spanien ausgewandert, kurz nachdem Ethan sich an der Uni eingeschrieben hatte. Ihm lag daher nicht allzu viel an seinen Eltern. Seine Mum schickte ihm fünfzig Pfund in einem Geschenkumschlag, das Geld nutzten wir für ein Büfett in unserer Wohnung. Alles war völlig Siebzigerjahre, mit Schwarzwälder Kirschtorte anstatt einer klassischen Hochzeitstorte.
Mum und Dad ließen sich an dem Tag nichts anmerken und lächelten. Aber ich wusste, dass ihnen unsere Planung missfiel. Mir aber war es wichtig, absichtlich etwas zu tun, das mich in ein schlechtes Licht rückte. Jess erstrahlte bereits so hell, doch meine Eltern nahmen das nicht wahr. Sie konnte nicht mehr tun, als perfekt in allem zu sein, deshalb musste ich einen Mittelweg finden und auf Glamour verzichten. Allerdings brauchte ich keine großen Opfer bringen. Denn Ethan und ich genossen die albernen Retrosachen. Mein Kleid war ein tuntiger Albtraum, und Ethans Anzug hätte aus dem Fünfzigerjahre-Streifen Carrie stammen können – Rüschenhemd und Fliege und der ganze Kram. Und wenn ich noch so reich gewesen wäre, ich konnte mir keine Hochzeit vorstellen, die besser zu uns gepasst hätte.
Ich hatte nur eine Brautjungfer, Jess. Ich musste sie regelrecht drängen, bei der Wahl ihres Kleids, der Frisur und des Make-ups ihrer eigenen Vorstellung zu folgen. Ich wollte nämlich nicht, dass sie sich in irgendeinem Siebzigerjahre-Fummel unwohl fühlte. Und sie sah dann auch wirklich wunderbar aus. So gut, dass ich sogar ein bisschen eifersüchtig war, als Ethan meiner Schwester ein Kompliment für ihr Kleid machte – ein weinfarbenes Etuikleid, das ihre Frisur noch mehr zur Geltung brachte. Doch ich schluckte meinen Stolz herunter.
Ich konnte Jess und Pete sogar überreden, mit uns zu tanzen. Selten hatte ich mich ihr derart verbunden gefühlt, während wir beide uns im Wohnzimmer in einem langsamen Walzer mit unseren Partnern drehten. Das Beste aus meiner Sicht war eigentlich, wie glücklich meine Schwester war. Oder wie glücklich sie zumindest wirkte, damals. Seit dem Zerwürfnis auf der Beerdigung hatte ich mich immer öfter gefragt, inwieweit sie nur versuchte, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Aber sie war wenigstens bestrebt, nach außen hin ausgeglichen zu erscheinen. Sie hatte Ethan von Anfang an in der Familie willkommen geheißen, hatte uns für alle Details unserer Hochzeit gelobt. Bei allem, was gewesen war, wünschte sie sich für uns, dass dieser Tag in schöner Erinnerung blieb.
Und jetzt wünschte ich mir das für sie. Ich wollte ihr das Gefühl geben, dass alles, was sie entschieden und geplant hatte, wunderbar war. Weil ich nicht glaubte, dass sie das schon einmal so empfunden hat – die Unterstützung vonseiten ihrer Familie, meine ich, die Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ich war die Einzige aus der Familie, die ihr geblieben war, und jetzt lag es an mir, einiges wiedergutzumachen, was sie nicht hatte genießen dürfen. Doch jetzt hatte ich auch das wieder verbockt.
Wie ich schon alles andere ruiniert hatte.