Kapitel 21

Ich öffnete die Autotür und spürte sofort den Temperaturunterschied. Es war schon tagsüber kalt, aber nachts fühlte es sich an, als würde mein Herz bei der eisigen Luft stehen bleiben. Das Mondlicht tauchte den Wald in ein mattes Licht, das immer wieder von dichten Wolken unterbrochen wurde. Der Sturm, der eingesetzt hatte, war noch nicht allzu stark, und ich konnte nicht länger warten. Mit all meinen Sachen in Ethans Rucksack und etwas Nahrung im Magen lief ich unten in der Senke parallel zur Straße.

Als ich mich wieder an dem umgestürzten Baum bis zur Straße hochkämpfte, spürte ich, wie die Angst versuchte, meiner Absicht einen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Zweige, die sich im Wind bewegten, klangen wie raschelnde Schritte oder wie ein Tier, das nachts auf Beutefang ging. Doch ich schluckte die anschwellende Angst herunter, die mir die Kehle zuzuschnüren drohte. Wenn ich mit meiner Vermutung recht hatte, gab es nichts Übernatürliches an Ethans Verschwinden. Es hatte nichts mit Geistern zu tun. Denn Geister brauchen keine Falltüren.

Der Gedanke war mir wie aus dem Nichts gekommen, als ich diese spärlichen Notizen studierte. Wann immer ich über die Fußspuren nachgedacht hatte, war ich in einer Schleife aus Entsetzen und Paranoia gefangen gewesen. Ich war nicht imstande, die Furcht abzuschütteln, dass dort draußen etwas lauerte, mich beobachtete und über mich herfallen würde. Diese abergläubische Furcht hatte mich daran gehindert, den Tatsachen ins Auge zu blicken: Wenn niemand aus der Hütte herausgekommen war, die Hütte aber leer war, dann musste es mehr als einen Ausgang geben. Und zwar nicht das Fenster, das ich kurz in Betracht gezogen hatte, und natürlich gab es auch keine Seilrutsche zwischen den Bäumen. Nein, es musste eine Art Falltür in einen Keller oder einen anderen Raum unter der Blockhütte geben.

Natürlich hatte ich immer noch keinen Schimmer, wer das getan hatte oder warum, aber ich war mir inzwischen absolut sicher, wie der Unbekannte es gemacht hatte. Alles andere hoffte ich herauszufinden, sobald ich durch die Luke gestiegen war.

Als ich mich jedoch der Asche in den Trümmern Witwerbergs näherte, wurden meine Schritte immer zögerlicher. Hatte ich wirklich vor, mit den Füßen zuerst in einen verborgenen Kellerraum zu springen? Was, wenn es sich um das Versteck eines Serienkillers handelte, oder um den Bau eines Raubtiers? Ganz gleich, wie sehr ich die Gedanken an übernatürliche Monster auszublenden versuchte, meine Fantasie ging wieder einmal mit mir durch. Ich hatte ja keine Waffe, nicht mal eine Taschenlampe, um etwas sehen zu können. Die Taschenlampen-Funktion war sozusagen mit Ethan verschwunden.

Welche Wahl blieb mir letzten Endes? Ich konnte nirgendwo hin, und bislang gab es keinen Menschen, der mir helfen würde. Wenn ich weiterhin im Auto hockte, würde ich irgendwann verhungern. Es sei denn, derjenige, der dort draußen lauerte, beschloss, mich vorher aus dem Weg zu schaffen. Mit meinem Handeln riss ich nicht nur die Kontrolle an mich, vielleicht war ich sogar imstande, den oder die Unbekannten zu überraschen. Bisher war ich herumgeirrt wie ein kleines, verängstigtes Mädchen; und genau damit hatten meine unsichtbaren Gegner wohl gerechnet. Das sollte sich ändern. Denn jetzt war mein Handeln nicht mehr vorhersehbar, und somit bestand die Möglichkeit, dass ich sie unvorbereitet erwischte.

Als ich mich den Überresten meiner Blockhütte näherte, fragte ich mich, ob Ethan vielleicht irgendwo dort unten lag und schon die ganze Zeit dort gewesen war. Gefesselt, geknebelt, meinen Schritten oben lauschend. Hatte er gehört, wie ich vor Angst schluchzte, wie ich mit mir selbst sprach? Hatte er die Hitze der Flammen gespürt? Tränen sammelten sich in meinen Augen bei dem Gedanken, dass er vielleicht hilflos mitanhören musste, was oben geschah, aber nicht zu mir gelangen konnte. Ich packte einen verkohlten Stamm, hob ihn an und ließ ihn wieder zu Boden fallen. Ich würde den Zugang finden. Es musste gelingen.

Es war anstrengende Arbeit, den Schutt wegzuräumen, ab und zu stieß ich auf ganze Stämme, die nur äußerlich verkohlt waren. Während ich sie anhob oder wegrollte, versuchte ich mir vorzustellen, wie der Fußboden der Hütte ausgesehen hatte. Hatte ich nicht jeden Zoll der Hütte abgesucht, als Ethan verschwunden war? Auf der Suche nach einem Hinweis hatte ich die Wände untersucht, auch den Fußboden. Und dabei hatte ich dieses seltsame Loch in der Wand entdeckt, das aussah, als hätte ein Specht es ins Holz gehackt.

Ich erinnerte mich an die komische Schicht auf dem Fußboden, die ich für Sackleinen gehalten hatte, das stellenweise nur noch aus Fäden bestand und mit den Dielen verklebt war. Da ließe sich keine Luke einer Falltür öffnen. Ich zögerte, als ein Balken in meinen Händen zerbrach und Splitter von Holzkohle zu Boden fielen. Machte ich gerade einen großen Fehler? War das mit der Falltür nur eine blöde Theorie gewesen, und jetzt stand ich nachts hier draußen im Mondschein, für nichts und wieder nichts?

Aber diese Schicht auf dem Fußboden … Ich entsann mich, dass sie stellenweise ganz dünn war. Die Fasern waren zerschlissen, fast gar nicht mehr zu sehen. Oder hatte da jemand etwas mit Absicht zurechtgeschnitten? Hatte jemand eine Falltür genau an die Gegebenheiten angepasst? Gab es etwa eine Luke, die unter einer Schicht aus Schmutz und Staub verborgen lag?

Jetzt war ich hier. Ich musste der Sache im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund gehen, auf die eine oder andere Weise.

Schließlich stieß ich auf den Dielenboden. Das Feuer hatte außerhalb der Hütte begonnen und offenbar an Intensität verloren, als die Flammen den Boden erreichten. Die Dielen waren zwar alle geborsten und verbogen, aber das Holz war nicht komplett verbrannt. Der Verlauf der ehemals geraden Dielenbretter war noch zu erkennen, doch da gab es mehr: ein rechteckiges Element. Deutlich hob sich die Stelle ab, wo man einst die Dielenbretter durchgesägt hatte. Das war die Luke, nach der ich suchte! Sie war unter dem Schmutz von hundert Jahren verborgen gewesen.

Ich wappnete mich und überlegte, was ich wohl entdecken mochte. Hielt sich im Augenblick jemand unter der Hütte auf? Hatte diese Person längst gehört, wie ich in den verkohlten Trümmern wühlte? Waren es mehrere Leute, die nur auf mich warteten, oder schliefen sie tief und fest? Hockte Ethan dort unten? Schaute er in diesem Augenblick hinauf zu den Dielen und hoffte wider alle Hoffnung, dass ich das war, den er da kommen hörte?

Die Bretter der alten Luke zerbröselten stellenweise, als ich sie anhob. Es handelte sich nicht um eine klassische Luke mit Scharnieren, sondern um eine Art Deckel, der nur auf einer umlaufenden Kante auflag. Ich schob den Deckel beiseite und spähte in die dunkle Höhlung unter mir. Ich konnte blassgraue Asche von dem Brand erkennen, die durch die Spalten zwischen den Dielenbrettern gerieselt war. Sonst nahm ich in der Düsternis keine Konturen wahr. Weder Geräusche noch Bewegungen. Ich hatte vor Anspannung den Atem angehalten, atmete nun bewusst aus und verspürte eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Dort in dem finsteren Loch hielt sich kein Angreifer versteckt, aber Ethan würde ich dort wohl auch nicht finden.

Ich stützte mich mit beiden Händen an den Kanten der Öffnung ab, bückte mich und spähte in den Kellerraum. Seit Tagen hatte ich ohne elektrisches Licht gelebt, war in wolkenverhangener Mondnacht zurück zu den Trümmern gelaufen, aber das bedeutete nicht, dass ich in der Dunkelheit besser sah. Ich konnte nämlich nichts erkennen, mein Sehvermögen war einfach nicht gut genug, um die Schattenwelt dort unten zu durchdringen.

Vermutlich wäre es klug, auf Tageslicht zu warten. Sobald sich die Sonne zeigte und Licht durch die Öffnung fiel, könnte ich erkennen, was oder wer sich dort unten befand. Nur hatte mir noch niemand vorgeworfen, äußerst klug zu sein, und ich war es leid, darauf zu warten, dass meine unbekannten Gegner den nächsten Schritt machten.

Ich zog den Kopf wieder aus der Öffnung, setzte mich auf die Kante, stützte mich ab und ließ mich mit den Füßen zuerst in die Dunkelheit sinken. Asche rieselte durch die Ritzen der Dielen. Ich war überrascht, als ich kurz darauf festen Boden unter den Füßen spürte, obwohl meine Schultern noch aus der Öffnung der Luke ragten. Der Keller war also nicht sehr tief; offenbar hatten die Bewohner der Blockhütte an der offenen Luke gekniet, um irgendwelche Dinge unter dem Dielenboden zu verstauen. Ehe ich ganz darunter abtauchte, schnappte ich mir noch ein Stück Holz, das mir als Waffe dienen sollte, in der Hoffnung, dass ich keine brauchte. Dann zog ich den Kopf ein und schob mich unter die Dielen.

Die Sohlen meiner Schuhe knirschten auf dem Boden des Kellers. Es fühlte sich an wie eine Schicht aus Laub und Zweigen, die heruntergefallen waren, als die Luke zuletzt offen stand. Was bedeutete, dass sie benutzt worden war, seitdem die Hütten aufgegeben wurden. Doch in meiner Fantasie malte ich mir sofort aus, dass ich auf Knochen stand. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich biss die Zähne zusammen und wollte diese Gedanken mit aller Macht fernhalten. Ich befand mich in der Hocke, musste den Kopf gesenkt halten, um nicht an die Decke aus Dielenbrettern zu stoßen. Mir wurde bewusst, dass ich mich auf der Höhe der Veranda befand. Falls dort auch Gerippe lagen, dann waren sie bloß ein paar Zoll entfernt, nur durch ein wenig Erdreich getrennt von mir.

Ich streckte die Arme aus und tastete mich weiter. Der niedrige Keller wies ungefähr dieselben Maße auf wie die Hütte über mir, und die Wände bestanden nicht, wie ich eigentlich erwartet hatte, aus festgestampfter Erde, sondern aus Bohlen. Ich spürte die Wurzeln, die zwischen den Ritzen hervorlugten, und fühlte, dass das Holz alt war und sich langsam zersetzte. Mit den Fingern strich ich über etwas Kaltes und zuckte zusammen, aber es handelte sich bloß um einen Haken. Es gab noch mehr davon, an einem war noch eine Schlaufe aus Leder. Vermutlich hatte man hier früher Beutel mit Korn oder Würste aufgehängt, oder was die Menschen vor zweihundert Jahren gegessen haben mochten, ehe es Deliveroo gab. Über meinem Kopf befanden sich dicke Balken, die den Fußboden trugen.

Auf Zehenspitzen und in geduckter Haltung bewegte ich mich weiter vorwärts. Die ganze Zeit knirschte es unter meinen Sohlen, doch plötzlich erzeugten meine Schritte kein Geräusch mehr. Der Boden war von lockerer Erde bedeckt. Ich tastete an der Wand nach unten, bis ich eine Kante fühlte. Jemand hatte ein Loch in die Bohlen geschlagen, und Erdreich war nachgesackt. Nein, bei genauerem Tasten merkte ich, dass man das Erdreich ausgehöhlt hatte. Als ich meinen Arm ausstreckte, traf ich auf keinen Widerstand mehr. Vorsichtig bewegte ich mich weiter vorwärts und spürte, dass ich mich in einem Verbindungsstück befand, von dem aus man in den nächsten Raum gelangte. Dabei konnte es sich eigentlich nur um den Keller der benachbarten Hütte handeln. Jemand hatte einen Tunnel gegraben.

Ein Schauer durchrieselte mich bei dem Gedanken, einfach so durch den Tunnel zu kriechen, daher schob ich zunächst meinen Rucksack vor mir her und kroch langsam weiter. Auf allen vieren kriechend passte ich gerade so hindurch, aber mein Rücken streifte die Decke des Tunnels. Aus welchem Grund existierte diese Verbindung? Waren die beiden Hütten in früheren Zeiten von einer Familie genutzt worden? Vielleicht hatten sie den Verbindungstunnel gegraben, um den Keller gemeinsam nutzen zu können.

Der zweite Kellerraum wirkte noch finsterer als der erste. Ich vermutete, dass in dem Keller hinter mir etwas Mondlicht durch die Öffnung im Boden gefallen war. Wieder tastete ich, entdeckte jedoch nichts an den Wänden oder auf dem festen Boden. Der Lagerraum war ebenfalls leer. Aber ich merkte schnell, dass ein weiterer Tunnel abzweigte. Also waren drei Blockhütten miteinander verbunden?

Ich folgte dem Verlauf dieser Tunnel von einer Hütte zur nächsten und zählte im Geist die Gebäude mit. Jeder Tunnel verlief leicht gebogen, passte sich also der halbkreisförmigen Anlage der Hütten an. Als ich den Lagerraum der letzten Hütte erreichte, tastete ich über mir nach einer Luke und fand sie tatsächlich. Ich drückte dagegen und löste einen wahren Regen aus Asche und verkohltem Holz aus. Dann spähte ich in den gräulichen Himmel kurz vor der Dämmerung und stellte fest, dass ich mich genau dort befand, wo ich es erwartet hatte: gegenüber der Hütte, in der ich mit meiner unterirdischen Erkundung begonnen hatte. Also waren tatsächlich alle Hütten in Witwerberg durch Tunnel miteinander verbunden.

Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass das Dorf von Beginn an so angelegt worden war, denn ursprünglich waren die Blockhütten fachmännisch und akribisch zusammengebaut worden. Die Stämme beispielsweise waren an ihren jeweiligen Enden sauber und lückenlos ineinander gefügt worden. Die Menschen, die sich die Mühe gemacht hatten, ihre unterirdischen Lagerräume mit Holz zu verschalen, hätten die Durchgänge nicht ohne Stützbalken konstruiert – diese einfachen Durchbrüche im Erdreich passten nicht zur Handwerksarbeit der alten Zimmerleute. Gleichzeitig fiel mir auf, dass die Tunnel alle gleich angelegt worden waren. Auf mich wirkte das so, als hätte sich ein riesiges Insekt von der ersten bis zur letzten Hütte durchs Erdreich gebohrt. Offenbar hatte jemand diese Tunnel angelegt, als die Hütten schon leer standen, da war ich mir ganz sicher. Die einzige Frage lautete: Warum?

Nachdem ich meinen Rucksack durch die zweite Luke geschoben hatte, kletterte ich aus dem Lagerraum. Dabei kam ich mit der Hand an etwas und zischte vor Schmerzen. Rasch setzte ich mich auf die Asche am Boden, betrachtete meine Hand im frühen Dämmerlicht und war erleichtert, dass es keine blutende Wunde war. Nur ein Kratzer. Ich bückte mich, suchte nach dem Teil, das ich aus Versehen gestreift hatte, und entdeckte einen größeren Holzsplitter, der aus dem Rahmen der Bodenluke ragte. An diesem Splitter hatte sich etwas verfangen, das wie Frischhaltefolie aussah.

Ich streckte noch einmal die Hand danach aus und berührte den Fetzen Folie. Das Material war ziemlich dick, fühlte sich aber immer noch an wie der Teil einer Sandwich-Packung oder Ähnliches an. Jedenfalls stammte der Fetzen nicht von mir, so viel stand fest. Hatte er sich schon vor dem Brand dort befunden, oder erst seit Kurzem? Ich befand mich in den Trümmern der Hütte, die am wenigsten von den Flammen in Mitleidenschaft gezogen worden war, daher war es durchaus denkbar, dass die Folie das Feuer überlebt hatte. Aber woher genau stammte das Material? Von einer Plastikfolie oder einem Müllbeutel? Wichtiger war aber, wie dieses Stück in den Tunnel gelangt war, den ich ja eben erst entdeckt hatte. Wer hatte diesen geheimen Zugang noch genutzt und aus welchem Grund? Offensichtlich jemand, der nicht gesehen werden wollte, oder dem es nicht passte, jedes Mal durch die Kälte zu müssen, wenn er oder sie sich von einer Hütte zur nächsten bewegte. Vielleicht traf beides zu.

Während ich in der Dämmerung dasaß, überlegte ich, ob nicht vielleicht Jaqueline oder der Mann, der mit ihr verscharrt worden war, eben jenen Tunnel auch entdeckt hatte, durch den ich soeben gekrochen war. Wie lange mochten sie in Witwerberg zugebracht haben, ehe sie im Wald den Tod fanden? Vielleicht hatte man jedoch noch andere Menschen draußen im Wald beerdigt, die eine gewisse Zeit im Dorf gewesen waren. Jeder von ihnen hätte zufällig den Fetzen Folie zurücklassen können.

Von der Folie einmal abgesehen, war ich mir inzwischen ziemlich sicher, wie Ethan verschwunden war. Man hatte ihn durch die Tunnel fortgeschafft. Was mir daran nicht behagte, war die Frage, warum ich davon nichts mitbekommen hatte. In der Nacht hatte mein Mann noch unmittelbar neben mir gelegen. Und die Bodenluke befand sich nur wenige Zoll von der Stelle entfernt, an der ich geschlafen hatte. Wie war es möglich, dass ich tief und fest schlief, während irgendjemand direkt in meiner Nähe diese Luke entfernte und wieder schloss? Ganz abgesehen davon, dass Ethan sich doch gewehrt haben musste, als er entführt wurde. Wovon sollte ich sonst ausgehen?

Vielleicht hatte man uns beide auf irgendeine Weise betäubt? Ich hatte trotz des Krachs geschlafen, und offenbar war Ethan bewusstlos gewesen und nicht in der Lage, sich zu wehren. Also hatte es wohl auch keinen Kampf gegeben. Ich versuchte, mich an jenen Abend zu erinnern, und überlegte, was wir gemacht hatten und auf welche Weise man uns außer Gefecht gesetzt haben mochte. Wir hatten ja die Snacks mitgebracht, alles verpackt. Ich hatte ein Feuer gemacht – war das die Erklärung? War dort etwas in dem Kaminrost gewesen, das irgendwelche giftigen Dämpfe abgesondert hatte? Oder hatte sich jemand in die Hütte geschlichen und uns im Schlaf ein Tuch auf Mund und Nase gedrückt, eine Art Narkotikum?

Jetzt, da an Ethans Verschwinden offenbar keine überirdischen Kräfte beteiligt gewesen waren, war ich mir sicher, dass ich es mit einem Gegner aus Fleisch und Blut zu tun hatte. Bislang hatte ich mir nur einzureden versucht, dass es lächerlich war, an einen Geist oder ein Monster zu glauben, doch jetzt war ich wirklich davon überzeugt. Auch wenn tief in meinem Innern ein Teil von mir immer noch Angst vor der Dunkelheit hatte – jener Teil, der mich dazu veranlasste, schneller über Friedhöfe zu gehen und auf Holz zu klopfen, wenn ich mir Gedanken machte, dass jemand sterben könnte, den ich liebte.

Obwohl ich jetzt von den Tunneln wusste, half mir das immer noch nicht bei der Frage, wo Ethan im Augenblick war. Wer auch immer dafür verantwortlich war – Serienkiller, Kannibalen in den Bergen oder Organhändler –, man hätte ihn zu einem Auto schleppen und sonst wo hinbringen können. Das Hochgefühl meiner Entdeckung schwand, und mit einem Mal kam ich mir verlorener und einsamer vor als je zuvor; hilflos angesichts so vieler Fragen und derart dürftiger Informationen.

Ich blickte hinab in den unterirdischen Lagerraum, der soeben vom kalten Licht eines weiteren Sonnenaufgangs erfasst wurde. Trotz meiner Entdeckung wusste ich nichts darüber, wer diesen Tunnel gegraben hatte und warum. Und was hatte all das mit den Leichen zu tun, die ich entdeckt hatte? Ich musste an die arme Jaqueline denken, die offenkundig hierhergekommen war, um dieses Geheimnis zu enträtseln. Ich fragte mich, wie weit sie bei ihren Nachforschungen gekommen war, bevor sie starb. Wie viel hatte sie herausgefunden, und kannte ich auch nur annähernd die Hälfte dessen, was sie gewusst hatte?

Das war der Moment, als ich einen Schatten an der rückwärtigen Wand des Kellers erspähte. Als ich aus dem letzten Tunnel gekrochen war, hatte ich die gegenüberliegende Wand abgetastet und keinen weiteren Durchbruch finden können. Ich hatte die Hütten mitgezählt und wusste, dass ich mich unter der letzten befand. Deshalb ging ich wie selbstverständlich davon aus, dass ich das Ende des Tunnels erreicht hatte. Doch jetzt sah ich, dass es noch eine unterirdische Abzweigung gab. Offenbar gab es einen weiteren Tunnel, der nicht dem Verlauf des Halbkreises folgte, sondern vom Zentrum des Dorfes wegführte.

Die Hütten waren nicht nur über einen Tunnel miteinander verbunden, es gab außerdem einen Weg, der aus dem Dorf hinausführte. Ich begriff, dass dieser Weg das mysteriöse Kommen und Gehen der Gestalt erklären könnte, die ich in der Dunkelheit gesehen hatte.

Nachdem ich mich auf der Lichtung umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass mir nichts hinterherschlich, ließ ich mich wieder durch die Bodenluke hinab in den Lagerraum sinken. Ich würde herausfinden, wohin dieser neue Tunnel führte, und falls er mich bis zu der Person führte, die für all das verantwortlich war, würde ich demjenigen gegenübertreten. Denn auf diese Weise würde ich zumindest nicht einfach abwarten, dass der Unbekannte auf mich losging und mich überwältigte.