Trotz meiner Absicht, Ethan zu ärgern, musste ich leider immer noch einkaufen gehen. Nicht nur, weil wir kaum etwas Frisches zu essen hatten, sondern weil ich aus dem Haus kommen würde. Ich musste wieder unter Leuten sein. Danach sehnte ich mich immer stärker, da ich erneut etwa eine Stunde lang allein war.
Ich kritzelte ein paar Sachen auf die Einkaufsliste, zog mich an und ging zur Bushaltestelle. Der nächste Supermarkt war nicht in der Nähe. Er gehörte zu einer Art Mall, etwa eine halbe Stunde entfernt, wenn man das Auto nahm. Mit dem Bus dauerte es allerdings bis zu anderthalb Stunden. Es lag an dieser wöchentlichen Tour, dass ich es wirklich bedauerte, dass wir kein eigenes Auto besaßen. Unser Wagen hatte schon vor Ewigkeiten den Geist aufgegeben, und wir waren uns einig, dass wir ihn nicht oft benutzt hatten – jedenfalls nicht so oft, dass ein neues Auto gerechtfertigt gewesen wäre. Wenn die Sprache auf Mobilität kam, klang unsere Unterhaltung immer gleich: In der Stadt brauchten wir keinen Wagen, aber fürs Einkaufen wäre es wirklich eine bequeme Sache. Dann schlug einer von uns vor, wir könnten uns alles nach Hause liefern lassen, daraufhin erzählte dann der andere die Ekelfaktor-Story mit der verdorbenen »Rinderbrühe«, und damit waren wir erneut am Anfang. Was bedeutete, dass wir die Woche drauf wieder den Bus nahmen. Das war noch so eins unserer kleinen Rituale als Paar.
Heute aber war ich allein, und da es nicht zu dieser vertrauten Diskussion kam, fühlte ich mich ein bisschen aus dem Gleichgewicht gebracht. Als würde die Hälfte von mir fehlen. Aber ich war zumindest in einem Bus, umgeben von anderen Leuten. Das fühlte sich viel netter an, als den ganzen Tag über allein in der Wohnung zu hocken. Ich hoffte, dass die Einkaufstour mich ausreichend ermüdete, sodass ich bei meiner Rückkehr nach Hause nicht mehr so viel Angst hatte.
So hoffte ich.
Nachdem ich die Runde im Supermarkt gedreht hatte, schleppte ich mich mit den Einkaufstaschen ab, erst zum Bus, dann vom Bus nach Hause. Die Stufen hinauf bis zur Wohnung waren an sich schon eine Herausforderung, die mich daran erinnerte, dass ich noch vor ein paar Tagen praktisch fast verhungert wäre. Mein Körper war immer noch geschwächt, auch wenn es mir schon besser ging. Aber ich hatte es geschafft. Bevor ich die Einkäufe wegräumte, beschloss ich, eine Tasse Tee zu machen und ein paar Kekse zu essen.
Ich machte mich auf die Suche nach Plätzchen, genau die, die ich schon gestern nicht gefunden hatte. Beim Durchsuchen des Küchenschranks warf ich aus Versehen eine Schachtel mit Instant-Tütensuppe um. Die waren von Ethan. Ich hasste diese Dinger, sogar den Geruch, und zwar so sehr, dass er sich die Suppen nur kochte, wenn ich allein im Laden war und er krank zu Hause im Bett lag. Die Schachtel kippte um, fiel auf die Anrichte und verteilte die weißen Tüten überall. Aber gleichzeitig fiel eine kleine Blisterpackung mit Tabletten herunter.
Ich hob sie auf und runzelte die Stirn, während das Wasser im Kessel kochte und die Tassen zum Vibrieren brachte, die hinter mir an Haken an der Wand hingen. Wieso steckten diese Pillen dort? Ich las den Namen auf der Rückseite der Packung, dann schnappte ich mir die Tabletten, die in dem Päckchen aus Deutschland gelegen hatte. Es war dasselbe Produkt. Was an sich schon total seltsam war, weil keiner von uns diese Tabletten nahm.
Der brodelnde Kessel kam wieder zur Ruhe, und Stille hielt Einzug. Verwundert starrte ich auf die beiden Packungen mit Tabletten und versuchte, herauszufinden, was, um alles in der Welt, sie hier zu suchen hatten. Eine Packung hatte in unserem Mietwagen gelegen, die andere war in der Wohnung versteckt.
Ich war davon ausgegangen, dass jemand die Pillen im Mietwagen vergessen hatte oder dass sie an eine Stelle gerutscht waren, wo weder die Reinigungskräfte noch ich sie entdeckt hatten. Aber dann blieb immer noch die Frage, warum genau diese Tabletten bei uns zu Hause lagen, obwohl keiner von uns sie brauchte? Und wieso waren sie versteckt? Versteckt, überlegte ich, während ich die Suppentüten einsammelte, an einem Ort, an dem es nur für Ethan einen Grund gibt, nachzuschauen. Ich spürte, wie ich voller Unbehagen eine Gänsehaut bekam. Warum fühlte es sich so an, als hätte ich einen Ort betreten, an dem ich nicht sein sollte? Ganz so, als wäre ich in der eigenen Wohnung ein Eindringling.
Die Kekse waren vergessen, stattdessen tippte ich den Namen des Medikaments ins Handy. Vielleicht waren das welche von diesen Tabletten, die man gezielt nahm, die aber gleichzeitig bei anderen Beschwerden halfen? Wie bei der Pille, die auch bei starken Krämpfen wirkte? Ob es Ethan vielleicht unangenehm war, mir gegenüber zuzugeben, dass er sie nahm? Ich überflog die Ergebnisse im Netz. Es handelte sich um eine Allergietablette, die Leute brauchten, die auf die gewöhnlichen, frei verkäuflichen Heilmittel allergisch reagierten. Gut gegen all die herkömmlichen Verdächtigen: Pollen, Staub und Katzenhaare. Es stand nichts darüber, ob man das Medikament noch bei anderen Beschwerden nehmen konnte, nur ein paar Nebenwirkungen waren aufgeführt. Aber diese Tabletten würde niemand nehmen, der zum Beispiel an Haarausfall oder Erektionsstörungen litt – die einzigen beiden Dinge, über die mein Mann wahrscheinlich nicht mit mir sprechen würde, vermutete ich.
Hatte Ethan vielleicht inzwischen eine Allergie, die bislang nur nicht erwähnt hatte? Wir erzählten uns nicht aufgeregt gleich jede Kleinigkeit. Wenn es nichts Wildes war, hatte er es womöglich nicht für nötig befunden, überhaupt darüber zu sprechen. Andererseits, wieso sollte er die Pillen dann verstecken? Nachdenklich betrachtete ich die Packung von allen Seiten. Vielleicht hatte er sie vor Kurzem mal verloren und hortete im Schrank noch etwas als Reserve? So etwas hatte er schon einmal gemacht, als im Büro hinter dem Laden eine Flasche eines Fruchtsaftkonzentrats getropft hatte. Einmal kam ich spät rein und sah einen antiken Dekanter im Hinterzimmer, randvoll mit dem Ribena-Saft. Ethans Lösungen ergaben aus meiner Sicht nicht immer Sinn. Obwohl er normalerweise praktisch veranlagt war, hatte er manchmal eine seltsame Herangehensweise, wenn es um Problemlösungen ging.
Erst einmal zufrieden, machte ich mir den Tee und entdeckte schließlich die Plätzchen, die ausgerechnet im Brotkasten lagen. Vielleicht war das auch wieder einer von Ethans organisatorischen Geistesblitzen.
Als ich endlich etwas im Magen hatte, fühlte ich mich nicht mehr so schwach auf den Beinen. Es dauerte nicht allzu lange, die Einkäufe wegzuräumen, und ich hatte sogar die Geistesgegenwart, den Schongarer aus dem Schrank zu holen, um für später ein paar von den Beef Noodles zuzubereiten. Ich wollte mir weismachen, wie nett und aufmerksam ich war, aber es blieb eine Tatsache, dass ich das alles nur machte, weil ich nachtragend war. Ethan hatte mir das Gefühl gegeben, ich wäre klein mit Hut. Er hatte mich zu Hause gelassen, als sei ich zu nichts nutze. Tja, an diesem Abend hätte er nichts an mir auszusetzen. Das Abendessen würde fertig sein, die Einkäufe waren erledigt, und ich hatte unseren Vorrat aufgestockt.
Das zweite Zimmer der Wohnung, auf der anderen Seite des Badezimmers neben dem größeren Schlafzimmer, war im Grunde nicht größer als ein Schrank mit Fenster. Platz hatten dort nur ein kleiner Schreibtisch, ein Laptop und ein Drucker. In diesen Raum hatten wir Regale gestellt, für Aktenordner und den Papierkram, aber dann füllten sich die Regale ziemlich schnell mit allen möglichen Dingen, für die wir keinen Platz in der Wohnung hatten. Im Augenblick lagen auf dem Schreibtisch allerhand Werkzeuge, mit denen Ethan versuchte, unseren eigenen Plattenspieler zu reparieren. Ich schob das Schraubendreher-Set zur Seite, um Platz für die Maus zu machen. Auf dem Fensterbrett standen Pflanzen, von denen zwei in unserer Abwesenheit erschreckend ausgetrocknet waren. Ich schleppte sie ins Waschbecken im Bad, damit sie sich voll Wasser saugen konnten.
Der größte Teil unseres Warenbestands im Laden stammte aus Wohnungsauflösungen und von Online-Auktionen, oder wir hatten Platten bei Leuten aus der näheren Umgebung bestellt. Ich setzte mich auf den alten Bürostuhl und fing an zu browsen. Das meiste, was ich online fand, war Trash. Ziemlich viel Orchestermusik, mit der wir unsere Zielgruppe nicht erreichten. Schließlich stieß ich auf ein gemischtes Angebot, eine größere Sammlung mit Rockmusik, Country und französischem Pop – einiges davon war abgefahren genug, um Interesse bei Kunden zu wecken. Und der Preis war erstaunlich niedrig. Ich sah, dass der Anbieter auch alte Band-T-Shirts verkaufte. Nichts wirklich Wertvolles, die Shirts hatten kleinere Löcher, vermutlich Motten, aber trotzdem waren sie cool, wenn man auf Kitsch stand. Ich gab mein Kaufangebot ein. Im hinteren Bereich der Ladenfläche könnten wir die Shirts an die Wand hängen, vielleicht kam das ja gut an. Eventuell könnte ich auch ein paar der T-Shirts färben oder bauchfreie Trägerhemden daraus machen, für Fans von Festivals.
Vorerst zufrieden mit den Resultaten, ging ich in die Küche, um mir Instant-Nudeln zuzubereiten. Während das Wasser kochte, nahm ich die restlichen Sachen aus dem Päckchen, um sie irgendwo in den Regalen im kleinen Büro unterzubringen. Die Kabel legte ich in den alten Schuhkarton, in dem ich schon die Ladegeräte aufbewahrte. Das Navi, das unser altes Auto überlebt hatte, verschwand in der Schreibtischschublade. Doch dann überlegte ich, machte die Schublade wieder auf und nahm das Gerät heraus.
Das Ding, das den Geist aufgegeben hatte, ehe unser Mietwagen liegen blieb. Das Navi war der Grund, warum wir überhaupt die Orientierung verloren hatten. Vermutlich lohnte es sich nicht, das Ding länger aufzuheben. Wir hatten ja nicht mal mehr ein Auto. Ich hielt das Gerät in der Hand, als wollte ich den Wert abschätzen. Ob man es trotzdem noch verkaufen konnte? Für zwanzig Pfund, die wir für die Arbeit im Laden nehmen könnten? Wenn ich nur wüsste, was mit dem blöden Teil nicht stimmte, könnte ich mehr Geld verlangen. Dafür müsste ich es wohl reparieren oder zumindest den Fehler finden, damit der Käufer Bescheid wusste.
Ich kramte ein USB-Kabel aus dem Schuhkarton und schloss das Navi an den PC an. Ob es vielleicht nur ein Software-Update brauchte? Oder ein neues Anschlusskabel? Ich überlegte und versuchte, mich zu erinnern, was Ethans Ansicht nach mit dem Gerät nicht stimmte. Während der Fahrt war ich aufgewacht und hatte gefragt, ob wir schon am Resort seien. Daraufhin zeigte Ethan auf das kaputte Navi. Der Bildschirm war schwarz gewesen, das Ding offenbar platt. Vielleicht half da doch kein Software-Update. Ich seufzte. Wahrscheinlich konnte man es nicht reparieren, irgendein Teil war kaputt, das sich nicht ersetzen ließ.
Ich zuckte zusammen, als der Bildschirm aufleuchtete und dieser blöde Jingle beim Einschalten einsetzte, in voller Lautstärke. Der Bildschirm funktionierte! Ich konnte sehen, wo wir gewesen waren, als das Gerät den Geist aufgegeben hatte – in Deutschland. Ich schätzte, dass sich das Navi noch nicht auf seine neue Umgebung eingestellt hatte.
Nachdem ich ein paar Knöpfe gedrückt hatte, sah ich, dass es einwandfrei funktionierte. Doch wenn das stimmte, was war dann während der Fahrt mit dem Teil losgewesen? Hatte es kein Signal mehr erhalten? Aber ging denn dann gleich das Gerät aus? Würde nicht eher der Fehler im Display angezeigt werden? Ich hatte keine Ahnung. Damit kannte ich mich nicht aus. Es war ja so: Manchmal funktionierte Technik nicht, und am nächsten Tag lief dann aber alles wieder normal. Man schaltete das Gerät aus, gönnte ihm eine Pause, schaltete es wieder ein und, siehe da, alles in Ordnung.
Aber das Navi glaubte immer noch, es befände sich in Deutschland. Ich ging ins Menü und versuchte, herauszufinden, wie man es dazu brachte, den aktuellen Standort zu finden. Dafür tippte ich auf »letzte Orte«, in der Hoffnung, unsere Heimatanschrift zu finden. Stattdessen tauchte der Name des Resorts auf, wo Jess’ Hochzeit stattgefunden hatte. Aber davor war das Navi auf »unbekannte Straße« eingestellt gewesen. Dahinter standen ein fünfstelliger Zahlencode und der Rest einer deutschen Adresse.
Inzwischen war ich nicht mehr bloß neugierig. Ich spürte, wie mir ein Prickeln über den Rücken lief. Es war genau die körperliche Reaktion, die schon Witwerberg in mir ausgelöst hatte, nur vielleicht nicht so stark ausgeprägt wie in dem Moment, als ich diese merkwürdigen Tabletten in der Hand hielt. Es war dieses Gefühl, das einen überkommt, wenn man kurz davor ist, ein Geheimnis zu lüften – wenn das Geheimnis fast mit Händen zu greifen ist. Oder dir an die Kehle springt.
Auf dem PC-Bildschirm öffnete ich eine Karte und gab die Adresse ein, mit Zahlencode und allem. Die Karte zoomte sich vor meinen Augen auf das Ziel ein, allerdings sah ich auf dem Bildschirm nichts als blasses Grün, durchsetzt von kleinen angedeuteten Baumsymbolen. Durch dieses Panorama zog sich die Straße wie ein dünnes weißes Band. Und genau in der Mitte, wo ein kleiner Pfeil auftauchte, um mir das genaue Ziel zu zeigen, war ein einsames Symbol zu erkennen. Ein stilisiertes rechteckiges Haus mit einem Dreieck als Dach, eingefasst in einen Kreis. Und dieser Kreis war mit einem großen X versehen. Ich bewegte den Cursor ein wenig, und sofort erschien eine kleine freundliche Blase, die mir Auskunft gab – »Historische Siedlung – unbewohnt«. Ich zoomte weiter heran, und plötzlich tauchte das Wort »Witwerberg« über dem Symbol mit dem X auf.
Ich saß reglos auf dem Bürostuhl. Das Wort verschwamm vor meinen Augen, während meine ganze Wahrnehmung nach innen ging, und plötzlich begriff ich. Der Zielort im Navi war verändert worden, nachdem wir vom Flughafen mit dem Mietwagen losgefahren waren. Also nachdem ich ursprünglich das Resort-Hotel eingegeben hatte. Es gab nur eine Person, die unser Ziel gewechselt konnte, während ich ahnungslos im Auto schlief.
Unterschiedliche Teile fügten sich nun zusammen. Die ganze Sache zoomte heran wie die Online-Karte, bis ich mein Ziel erreichte: das Navi, das gar nicht kaputt gegangen war, das Dorf, in dem wir »zufällig« gestrandet waren. Sogar die Tabletten, die ich entdeckt hatte. Im Internet stand unter »möglichen Nebenwirkungen«, dass ein Effekt extreme Schläfrigkeit sein konnte, daher sollte man das Medikament laut Packungsbeilage nicht einnehmen, wenn man Maschinen bediente.
Und jetzt fiel mir ein, dass ich tief und fest auf dem Flug nach Deutschland gepennt hatte. Ich hatte es gerade so zum Mietwagen geschafft, ehe ich wieder wegdämmerte. Und in der ersten Nacht in Witwerberg hatte ich schließlich so fest geschlafen, ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass Ethan eine Falltür öffnete und verschwand. Ich erinnerte mich, wie er am Flughafen gelächelt hatte, als er mir meine Wasserflasche reichte, gefüllt mit Eistee. Wie aufmerksam von ihm, dass er daran gedacht hatte.
Mir drehte sich der Magen um, als ich an den Streit vergangenen Abend dachte. Ethan war zum Laden an der Ecke gegangen und hatte mir die Cola light mitgebracht, als Friedensangebot. Und ich war eingeschlafen, kaum dass ich mit dem Kopf das Kissen berührte. Ich hatte wieder so fest geschlafen, dass ich nicht merkte, ob er überhaupt ins Bett gekommen oder am Morgen zur Arbeit gegangen war.
Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker ließ ich die Möglichkeit in meinem Denken zu. Ich erinnerte mich an andere Situationen. An andere Tage, als ich morgens mit trockenem Mund und verquollenen Augen aufgewacht war. An Tage, als ich mich ausgepowert fühlte und nicht zur Arbeit ging, ja, nicht einmal die Einkäufe schaffte, sodass Ethan das alles allein erledigte. Mir fielen Abende ein, an denen ich in Ruhe mit Ethan reden wollte, über Familienplanung oder geschäftliche Ziele, aber dann ließ ich es sein, weil ich so müde war.
Hatte Ethan mich … unter Drogen gesetzt? Ich merkte, dass sich meine Atmung beschleunigte, ich fühlte mich leicht schwindelig. Mit beiden Händen umklammerte ich die Lehnen des Bürostuhls und versuchte, mich zu stabilisieren. Ein Teil von mir verhöhnte mich und flüsterte mir zu, dass ich verrückt sei. Aber der Teil von mir, der gespürt hatte, dass dort draußen in Witwerberg jemand gewesen war, erzählte mir etwas anderes. Nein, erzählen ist das falsche Wort: Diese innere Stimme schrie es mir entgegen.
Sie schrie mich an, die Flucht zu ergreifen.
Ich stand auf, verharrte einen Moment am Schreibtisch, ehe ich das kleine Arbeitszimmer verließ. Im Flur blieb ich wieder stehen. Es war wie bei einem Stop-Motion-Film. Der Verstand setzte sich die ganze Zeit über die natürlichen Instinkte hinweg und lähmte meine Bewegungen. Er bestürmte mich mit Fragen, wollte wissen, warum Ethan so etwas tun sollte? Was für einen Grund gab es? Warum hatte er zugelassen, dass wir beide in Witwerberg festsaßen? Warum sagte er da die Unwahrheit? Was wollte er überhaupt dadurch erreichen? Glaubte ich denn wirklich, dass er mir so etwas antun würde?
Jede Frage lähmte mich weiter, während ich versuchte, Antworten zu finden. Ich wollte mich an einen stillen Ort zurückziehen, irgendwohin, wo es eng und dunkel und sicher war. Ich musste nachdenken. Um den Fragen Einhalt zu gebieten, dem Rauschen in meinen Ohren, dem heftigen Klopfen in meiner Brust.
Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig.
Mein Handy klingelte, sodass ich zusammenzuckte. Ich war inzwischen im Flur bei der Tür und holte das Telefon aus meiner Tasche. Eine unbekannte Nummer. Ich wischte über das Display, um den Anruf abzulehnen, aber da ging mein Blick schon zur Tür.
Die sich öffnete.
Ethan kam herein, mit leicht betretener Miene, in der freien Hand einen Iced Latte. Ich bin mir nicht sicher, wie meine Mimik aussah, aber sobald Ethan mich sah, veränderte er sich. Wie ein Schauspieler, der das Wort »cut« hört. Ein Schauspieler, immer noch im Kostüm, aber irgendwie … entmutigt. Ein Schauspieler, der aus der Rolle schlüpfen darf.
Er sah mich an, und ich sah ihn an – und zum ersten Mal machte ich mir bewusst, dass ich einen Fremden vor mir hatte.