Elf Monate später
Zum ersten Tag von Ethans Verhandlung kam ich zu spät.
Das passte natürlich zu meinem Image. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich bis dahin einen Pünktlichkeitsrekord aufgestellt hatte, was Leute betraf, die mir am Herzen lagen. So kam ich zum Beispiel als eine der ersten Gäste zu Jess’ Babyparty – zum Babypinkeln, wie man so sagt – und begleitete sie ins Krankenhaus, als bei ihr die Wehen einsetzten. Ich dachte sogar daran, den ganzen Aromatherapie-Kram mitzubringen; auch die White-Noise-Einschlafhilfe für das Baby. Letzten Endes benutzte Jess nichts davon, weil sie es sich sofort anders überlegte mit der Epiduralanästhesie. Aber ich hatte zumindest daran gedacht und war präsent. Übrigens auch Pete, aber er weinte die ganze Zeit lang Freudentränen und erwies sich nicht als sonderlich nützlich. Doch es war sehr süß von ihm.
Ich hatte unterdessen gelernt, dass Pete ein ganz schöner Softie war. Seitdem er von Barcelona nach Hause geflogen war, hatte er mich mit Samthandschuhen angefasst. Er verhielt sich mir gegenüber äußerst aufmerksam. Ich denke, das lag daran, dass er ursprünglich sauer auf mich war wegen der Sache mit dem Handy. Inzwischen hatte er aber deswegen wohl ein schlechtes Gewissen bekommen. Ehrlich gesagt saß ich im selben Boot. Aber es war nett, ihn jetzt als Freund zu haben, nach allem, was passiert war.
Es war Ethans erster Tag am Crown Court. Der erste Tag der Verhandlung, die ihn – da waren wir zu neunundneunzig Prozent sicher – hinter Gitter bringen würde. Die Strafverfolgungsbehörde hatte mir versichert, dass es beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen sehr unwahrscheinlich war, dass die Geschworenen ihn nicht schuldig sprechen würden. Jess würde bezeugen, was sie am Telefon gehört hatte. Wir hatten das Navi, aus dessen letzter Einstellung hervorging, dass er mich absichtlich nach Witwerberg gebracht hatte. Die Polizei und die Rettungssanitäter hatten gehört, dass Ethan an dem Tag, als er mich angriff, wie von Sinnen nach mir geschrien hatte. Und natürlich würde ich meine Aussage machen.
Das bedeutete indes nicht, dass ich darauf vorbereitet war, ihn wiederzusehen.
Das hatte mich nachts nicht schlafen lassen, keine Nacht während der zurückliegenden Woche. Obwohl ich Wert darauf legte, gut gekleidet zu erscheinen, wusste ich, dass ich vollkommen fertig aussah. Ich hatte dunkle Augenringe, die ich nicht verbergen konnte, und meine Lippen waren rissig, weil ich sie ständig mit den Zähnen bearbeitete.
Nun saß ich in einem Hinterzimmer und wartete darauf, meine Aussage zu machen. In dem Raum war es sehr still, es roch nach Möbelpolitur und kaltem Instant-Kaffee. Ich konnte aber nicht ruhig sitzen bleiben. Ständig stand ich auf und ging im Raum auf und ab. Jeden Moment würde ich Ethan sehen, zum ersten Mal seit jenem Tag, als ich auf ihn eingestochen hatte. Zum Amtsgericht war ich nicht gegangen, hatte nicht verfolgt, als die Anklage verlesen wurde. Es war mir noch zu früh, und niemand hatte von mir verlangt, dort zu erscheinen. Für den heutigen Tag hatte man mir eine Trennwand angeboten, sodass ich ihn nicht sehen und er mich nicht beobachten konnte. Vielleicht wäre es mir auch lieber, über eine Videoschaltung zu kommunizieren? Ich hatte das tatsächlich in Erwägung gezogen, aber letzten Endes beschloss ich, dass ich ihm Auge in Auge gegenübertreten musste. Nicht, weil ich mir etwas zu beweisen hatte, sondern weil er mich sehen sollte.
Tatsache war nämlich, dass Ethan mich nie wirklich respektiert hatte. Das war mir bewusst geworden. Ich hatte darüber schon mit dem Therapeuten gesprochen, den Jess mir empfohlen hatte. Ethan sah in mir den nützlichen Idioten. Mit mir konnte er Sex haben, über mich kam er in Jess’ Nähe, mit mir hatte er seinen Spaß, während er im Grunde auf meine Schwester wartete. Ganz so, als wäre ich eines dieser Magazine im Wartezimmer eines Zahnarztes. Recht unterhaltsam, doch entbehrlich.
Aber an diesem Tag, selbst wenn Ethan mich nicht einmal ansehen würde, sollte er wissen, dass ich ohne ihn überlebt hatte. Dass er nicht der Mittelpunkt meines Universums war und dass mein Leben ohne ihn nicht in sich zusammengestürzt war. Im Gegenteil, es hatte sich maßgeblich verbessert.
Jess war mir eine große Hilfe gewesen. Sie hatte sich mit mir zusammen Wohnungen angeschaut, hatte Pete mitgebracht, um den Laden auszuräumen, als ich die Vereinbarung mit unserem Vermieter beendete. Das Einzige, das sie nicht annehmen wollte, war das Erbe, von dem ich ihr die Hälfte angeboten hatte. Allerdings konnte sie nicht ahnen, dass ich ein Sparbuch für ihr Baby Edgar angelegt hatte. In erster Linie aus dem Grund, weil sie ihm ausgerechnet diesen Namen geben musste!
Mit dem Rest des Geldes hatte ich in einem schickeren Viertel der Stadt einen neuen Laden eröffnet. Keinen Plattenladen mehr, sondern eine Boutique mit coolen Klamotten im Vintage-Look – »Amelia’s Attic«. Ganz in der Nähe lag meine kleine Wohnung, nebenbei recycelte ich Vorhänge und Bettwäsche und machte daraus Kleidung. Das brachte mehr ein als der alte Plattenladen. Es reichte, sodass ich mir über den Sommer einen kleinen Urlaub mit Jess leisten konnte.
»Amelia Swift?«
Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Den Namen, den ich bei der Hochzeit angenommen hatte. Es erinnerte mich daran, dass es nach der Gerichtsverhandlung noch weitere Hürden gab, die ich überwinden musste, um Ethan ganz aus meinem Leben zu tilgen. Ich hatte zwar die Scheidung eingereicht, doch er hatte beschlossen, dagegen vorzugehen. Vielleicht aus dem einfachen Grund, weil er mich auf diese Weise von meinem Vorhaben abhalten wollte – nämlich vor Gericht gegen ihn auszusagen. Oder er klammerte sich dadurch an die letzte Verbindung zu Jess. So hoffte ich, dass ich nach seiner Verurteilung in der Lage sein würde, die Sache durchzuziehen, mit oder ohne seine Einwilligung.
Meine Beine schlotterten mit einem Mal, als man mich in den Gerichtssaal führte. Plötzlich waren alle Blicke auf mich gerichtet. Ich schaffte es gerade so in den Zeugenstand, ehe meine Knie nachgaben. Dann kam die Sache mit der Vereidigung, und ich suchte nach Worten. Das war nicht gerade der Eindruck von Stärke, den ich nach außen vermitteln wollte. Danach wurde ich aufgefordert, meine Version der Ereignisse zu schildern, und während ich das tat, sah ich zum ersten Mal zu Ethan hinüber.
Er saß am anderen Endes des Saals in einer Box aus Plexiglas, in der zwei Fußballmannschaften Platz gehabt hätten. Ihm zur Seite gestellt waren zwei uniformierte Beamte, die sich unauffällig im Hintergrund hielten. Er sah aus wie ein politischer Hoffnungsträger, der jeden Augenblick eine Ansprache halten würde. Man hatte ihm einen Anzug zur Verfügung gestellt, einen, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. All seine Sachen wurden irgendwo gelagert. Pete kümmerte sich darum und nahm alles für mich in Verwahrung, und ich habe ihn nie gefragt, wo sie sind oder was damit geschehen würde. Ich wollte es auch gar nicht wissen.
Ethan sah grau aus, was ich nachvollziehen konnte, wenn man bedachte, dass er seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft saß. Eine Kaution war nicht bewilligt worden, da er mich tätlich angegriffen hatte. Darüber hinaus waren Beweise auf seinem Laptop sichergestellt worden: all die Fotos von Jess, die er dort gespeichert hatte. Viele davon hatte er selbst geschossen, allerdings hatte er sie nicht nur bei Anlässen fotografiert, zu denen er eingeladen war – er hatte sie gestalkt und heimlich Aufnahmen gemacht. Wahrscheinlich an den Tagen, an denen er mich unter Drogen gesetzt hatte und dann allein losgezogen war. Er hatte Jess durch die Fenster des Hauses fotografiert, in dem sie mit Pete wohnte und hatte ihr vor ihrem Fitnessstudio aufgelauert. Allein das war schon unheimlich genug. Als die Polizei die Schachtel mit »Erinnerungsstücken« entdeckte, die er in unserem Kleiderschrank versteckt hatte, dachte ich, mir würde schlecht.
Auf der Schachtel stand »Familienbilder«, und ich hatte nie einen Blick hineingeworfen. Doch hatte ich sie schon mehrmals woanders hingeschoben, wenn ich etwas suchte. Ohne es zu wissen, hatte ich eine Box verschoben, in der sich Sachen meiner Schwester befanden – Lippenstifte, Unterwäsche, private Briefe, ihre alten Tagebücher. All diese Dinge hatte Ethan gestohlen, weil er über mich Zugang zu Jess’ Haus erhalten hatte. Und unter diesen Gegenständen befanden sich Sachen, die bis in die Zeit zurückreichten, als ich noch auf der Uni war.
An diesem Tag sah Ethan schlimmer aus, als ich mich fühlte. Abgesehen von seiner gräulichen Haut hatte er an Gewicht verloren. Was er sich eigentlich nicht leisten konnte. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen wirkten zu groß. Ich vermutete, dass sie versucht hatten, ihn für den Verhandlungstag zurechtzumachen, aber er sah ein wenig ungepflegt aus. Das Haar war zu lang, den Bartschatten hätte er noch einmal rasieren können. Seine Haut besaß einen unangenehmen Schimmer, wie von kaltem Schweiß. Als hätte er bei jemandem auf dem Sofa übernachtet, um den Rausch einer durchzechten Nacht auszuschlafen.
Aber was mir sofort auffiel, hatte nichts mit seinem Äußeren zu tun. Auch nicht damit, dass er keinen Ehering trug. Was für ein billiger Trick in Gegenwart der Geschworenen. Nein, mir fiel auf, dass er mich partout nicht ansah. Es lag nicht daran, dass er dazu nicht imstande gewesen wäre oder es nicht ausgehalten hätte. Nein, er sah nicht zu mir herüber, weil er nur Augen für Jess hatte.
Sie saß ganz hinten im Saal, weit entfernt von mir. Vermutlich hatte sie sich dorthin gesetzt, weil ich ihr gesagt hatte, sie brauche nicht zu kommen. Und wahrscheinlich hatte sie das so interpretiert, als wollte ich sie nicht dabeihaben. Doch sie war trotzdem gekommen, für den Fall, dass ich Beistand brauchte. Vermutlich auch, weil sie genau wie ich Ethan Auge in Auge gegenübertreten wollte. Denn immerhin hatte er uns beide verletzt.
Sie hatte ihr langes dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug ein Kostüm in gedeckten Farben. Sie versuchte offensichtlich, so unauffällig wie möglich zu wirken. Doch Ethan hatte sie trotzdem entdeckt, und jetzt ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Obwohl er darum bemüht war, den Blick von ihr abzuwenden, da er offenbar ahnte, dass das bei den Geschworenen nicht gut ankam. Es wirkte so, als würde er unter einem Zwang stehen, als könne er nicht anders, als ständig zu ihr hinzusehen. Ganz so, als wolle er sie völlig in sich aufnehmen und ihr Abbild verinnerlichen. Dieses Benehmen ließ heiße Wut in mir hochkochen. Ich stammelte nicht mehr, als ich mich erhob und dem Gericht alles erzählte. Doch selbst als Ethan klar werden musste, dass ich ihn mit meiner Zeugenaussage schwer belastete, sah er kein einziges Mal zu mir herüber.
Jess war das nicht aufgefallen, zumindest ließ sie sich nichts anmerken, falls sie es doch bemerkt hatte. Aber obwohl Ethan nicht den Blick von ihr abwenden konnte, sah meine Schwester ununterbrochen zu mir herüber. Sie schenkte mir aufmunternde Blicke, deren Bedeutung ich quer durch den Gerichtssaal verstand. Meine Schwester verlieh mir allein mit ihren Augen Kraft und Unterstützung. Und dieser Einfluss ließ mich durchhalten, während ich den Geschworenen alles erzählte und ihnen einen Einblick in meine Seele gewährte, in die schlimmsten Momente meines Lebens.
Schließlich, nachdem Ethans Verteidiger mit seinem Versuch gescheitert war, seinen Mandanten in ein besseres Licht zu rücken, durfte ich den Zeugenstand wieder verlassen. Gerichtsdiener führten mich zu einer der hinteren Türen, an der ich mich noch einmal umdrehte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich Ethans Blick. Doch dann machte ich mir bewusst, dass es nur eine Illusion gewesen war. Denn er starrte immer noch meine Schwester an. Nur sein lädiertes Auge glitt kurz zu mir, offenbar unabsichtlich.
Im Freien vor dem Gerichtsgebäude setzte ich mich auf eine Bank und atmete bewusst die frische Luft ein und aus. Es war nicht so gelaufen, wie ich es beabsichtigt hatte, aber ich war deswegen nicht verärgert. Ich war einfach nur müde. Als hätte ich die Ziellinie bei einem Wettrennen erreicht, das ich eigentlich nicht gewinnen konnte. Aber jetzt war es vorbei, und ich konnte mich zu Boden fallen lassen und verschnaufen.
Kurze Zeit später war Jess an meiner Seite und legte mir einen Arm um die Schulter.
»Du warst großartig«, sagte sie mit Nachdruck. »Die werden ihn bestimmt einbuchten.«
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich und umfasste ihre Hand, die auf meiner Schulter lag.
»Dafür sind große Schwestern da.«
Sie drückte mich, als sie das sagte. Seltsam, aber wir waren uns plötzlich näher als je zuvor, obwohl wir nun die Wahrheit über unsere Familie kannten. Die Gewissheit, dass wir Halbschwestern waren, hatte keinen Keil zwischen uns getrieben, im Gegenteil, sie hatte eine unsichtbare Barriere fortgenommen, die zwischen uns gestanden hatte. Und diese Barriere war zu einem gewissen Teil von einer verbitterten und verletzten Frau geschaffen worden, die uns beide so unterschiedlich großgezogen hatte. Ich brachte es nicht zustande, unsere Mutter dafür zu hassen – meine Mutter –, aber selbstverständlich sah ich sie und Dad in einem anderen Licht, wenn ich nun an sie dachte. Vielleicht hatte ich endlich ein realistisches Bild von meinen Eltern. Sie hatten Jess nicht aus Versehen im Stich gelassen, und sie hatten Fehler gemacht. Und jetzt hoffte ich, dass ich eines Tages imstande sein würde, ihnen diese Fehler nachzusehen. Wie Jess es vorgemacht hatte.
»Ich hole uns mal eine Flasche Wasser. Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte Jess.
»Ich hätte gern einen Tee, bitte.«
Jess drückte meine Hand ein letztes Mal und ging dann in Richtung des Kiosks, wo es Kaffee und Tee gab. Ich sah ihr nach und wusste, wie glücklich ich mich schätzen durfte, dass ich sie hatte.
»So sehen wir uns wieder. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Ich schaute vollkommen erschrocken auf. Vor mir stand Kommissar Voigt. Er sah genauso aus, wie ich ihn aus Bayern in Erinnerung behalten hatte, nur dass er jetzt nicht in diesen dicken Mantel gehüllt war. Er trug einen verknitterten Anzug und ein Oberhemd und wirkte ein wenig übermüdet, wie jemand, der einen langen Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinter sich hat.
»Natürlich, aber wie kommen Sie …« Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Satz mit »hierher« beenden wollte, daher ließ ich die Worte in der Luft hängen.
Er sank auf Jess’ leeren Platz neben mir und beantwortete meine unvollständige Frage. »Ich habe heute Morgen das Flugzeug genommen.«
»Man hat Sie gebeten, den ganzen Weg auf sich zu nehmen, um vor Gericht auszusagen?«, fragte ich und dachte sofort, dass der Kommissar sich doch bestimmt über eine Videokonferenz hätte zuschalten können, wenn man das sogar mir angeboten hatte.
»Nein«, erwiderte er, fügte jedoch keine weitere Erklärung hinzu.
»Oh … Ich habe gerade meine Zeugenaussage gemacht«, sagte ich.
Er nickte. »Ist es so gelaufen, wie Sie es sich vorgestellt haben?«
»Nein«, sagte ich und fragte mich, wie er so leicht meine Gedanken erraten hatte. »Aber schlecht gelaufen ist es auch nicht. Nur anders als ich dachte. Es ist endlich vorbei, fühlt sich aber …«
»Nicht so gut an, wie Sie sich erhofft hatten?«, ergänzte er meinen Satz und nickte ebenfalls, als er sah, dass ich nickte. »So fühlte es sich für mich an, als wir endlich den Mörder von Jaqueline Forbes gefunden haben. Ich musste das ihren Eltern mitteilen, und sie hatten endlich Gewissheit … Aber das bedeutete, dass ich ihnen sagen musste, was ihrer Tochter widerfahren war. Dass sie rein zufällig jemandem in die Quere gekommen war, der gerade einen Anwalt getötet hatte. Und dafür musste sie sterben.«
Sie hatten ihn also gefasst. Den Mann aus dem Wald. Die Person, die versucht hatte, mich zu verbrennen, und die zwei andere Menschen umgebracht hatte, von denen wir wussten. Aber wie Kommissar Voigt schon gesagt hatte: Das änderte im Grunde nichts. Für mich fühlte es sich immer noch furchtbar an, wie die junge Frau gestorben war – ihr verbrannter, bis zur Unkenntlichkeit verkohlter Leichnam dort draußen im Wald.
»Haben Sie ein Geständnis von dem Täter bekommen?«
Kommissar Voigt nickte. »Nach etlichen Verhören und einer wirklich ermüdenden Suche nach Beweisen, ja. Wir haben ein Geständnis.«
»Er geht also hinter Schloss und Riegel. Aber das macht es auch nicht besser, oder?«
»Doch, weil er jetzt niemandem mehr schaden kann, und weil er gegen andere aussagen wird, die weitaus mehr auf dem Kerbholz haben. Aber nein, ich habe deswegen trotzdem kein besseres Gefühl. Der Kerl hat die arme Frau durch den Wald gehetzt und durch eine Tür hindurch erschossen, als sie glaubte, sie sei in Sicherheit. Ich denke oft daran, welche Angst sie ausgestanden haben muss.«
Einen Moment saßen wir schweigend auf der Bank, und ich nahm den Geruch von Kaffee und Aftershave wahr, der seinem zerknitterten Anzug anhaftete. Um uns herum war Bewegung, Leute betraten das Gerichtsgebäude oder verließen es, drängten sich um den Kiosk. Ich sah, dass Jess sich zu uns umdrehte und die Stirn runzelte – offenbar hatte sie keinen Schimmer, wer der Mann war, der neben mir saß. Ich lächelte und winkte kurz, damit sie wusste, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Meine mich beschützende große Schwester.
Ehe er wieder das Wort ergriff, wusste ich, dass er mich jeden Moment fragen würde, ob wir uns noch einmal treffen könnten. Und ehe er sein Angebot halb beendet hatte, wusste ich, dass ich einwilligen würde.