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ich töten?,
dachte Jules nun vier Stunden später und wiederholte in Gedanken Klaras letzte Sätze am Begleittelefon: »Wir müssen auflegen. Er wird nicht glauben, dass es nur ein Versehen ist. Dass ich mich verwählt habe. Verdammt, wenn er herausfindet, dass ich Sie angerufen habe, wird er auch zu Ihnen kommen.«
Um mich zu töten?
Auch wenn er nicht ernsthaft glaubte, in Gefahr zu sein, verspürte Jules eine unangenehme, bedrohliche Nervosität. Ein bisschen so wie in seinem Prüfungs-Albtraum, in dem er wieder und wieder vor einer Examenskommission stand und eine mündliche Prüfung ablegen sollte, auf die er sich nicht vorbereitet hatte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er Klara und rückte das Headset gerade. »Wieso sollte jemand zu mir kommen und mich umbringen wollen?«
Und von wem sprechen wir hier?
»Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, aber es ist die Wahrheit. Sobald er herausfindet, dass wir Kontakt hatten, wird er Sie suchen und ebenfalls eliminieren wollen.«
Er?
Jules musste sich bewegen. Er wanderte durch Arbeits- und Wohnzimmer Richtung Flur, ohne dass es ihm bewusst wurde.
»Sie haben genau das Richtige getan, indem Sie beim Begleittelefon angerufen haben«, lobte er sie, um Vertrauen aufzubauen und sie zu beruhigen. Wie für Gründerzeitwohnungen am Lietzensee üblich, verband der Flur als schmaler Schlauch die Küche an einem Ende mit dem Wohnzimmer am anderen. Für die Strecke dazwischen, die an den Türen von Kinder-, Eltern- und Gästeschlafzimmer sowie der Speise- und Hauswirtschaftskammer vorbeiführte, wünschte man sich ein Fahrrad oder wenigstens ein Skateboard, so lang gezogen war der schmale Gang.
Jules wusste, er sollte jetzt seine Worte abwägen und jeden negativen Ausdruck vermeiden, wenn er die Verbindung zu der Unbekannten aufrechterhalten wollte. Auf der anderen Seite war er sich nicht mehr sicher, ob das eine so kluge Strategie war. Immerhin hatte Klara ihm gerade eröffnet, dass er selbst in Lebensgefahr schwebte. Was natürlich absurd klang, wenn auch – und das machte ihm Sorgen – nicht vollkommen verrückt.
Weniger erfahrene Helfer würden vermutlich denken, Klara wäre nicht ganz dicht; eine Patientin, die an Wahnvorstellungen litt und der es womöglich gelungen war, vom Telefon einer geschlossenen Einrichtung aus anzurufen, was nicht gerade selten vorkam.
Doch ihre Stimme zeigte keinerlei Anzeichen von medikamentöser Beeinträchtigung, und ihre Formulierungen und auch die Satzmelodie wirkten nicht so, als wären sie durch Dutzende von Therapiesitzungen geformt.
Jules spürte, dass Klaras Furcht ein rationales Fundament hatte. Und dieses wollte er ergründen.
»Wo sind Sie im Augenblick?«, fragte er nach kurzer Überlegung.
Die wichtigste aller Fragen, die er den Tausenden von Anrufern immer als Erstes gestellt hatte, früher, als er noch im Spandauer War-Room der Berliner Feuerwehr gearbeitet hatte. Vierundzwanzig Arbeitsplätze, jeweils mit fünf Monitoren ausgerüstet, viertausend Anrufe am Tag, von denen die Hälfte einen Einsatz auslöste. Ein Großfeuer in Marzahn, ein Schlaganfall in Mitte, vorzeitige Wehen in Lichtenrade. Niemandem konnte geholfen werden, wenn er nicht verriet, wohin der Einsatzwagen kommen sollte. Bei einem Anruf vom Handy aus gelang es zwar, das Gebiet im Umkreis des nächstgelegenen Sendemasts abzustecken, aber das konnte in den Randbezirken mehrere Kilometer umfassen.
»Wieso wollen Sie wissen, wo ich bin?«
»Um Ihnen zu helfen.«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Ich bin verloren. Legen Sie auf, um wenigstens sich selbst zu retten.«
Er kniff die Augen zusammen, eine unbewusste Angewohnheit, wenn er sich konzentrierte. »Sie werden also bedroht. Ein Mann, nehme ich an. Ist er gerade in Ihrer Nähe?«
Klara lachte traurig auf. »Er ist immer bei mir. Selbst wenn ich ihn nicht sehen kann.«
Bei Jules in der Wohnung herrschte Stille. Das einzige Geräusch war das Summen des alten Kühlschranks, das aber auf seinem weiten Weg den Flur hinab stark an Intensität verloren hatte, weswegen Jules sich ein klares akustisches Bild von Klaras Umgebung machen konnte. Ihre Schuhe knirschten auf einem Kiesweg, er hörte Blätter rauschen, also war der Pfad bewaldet. Ein einzelnes Auto beschleunigte im Hintergrund. Die Gegend war einsam, aber nicht verlassen.
»Ich muss Schluss machen.«
»Bitte. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«
»Sie haben mir nicht zugehört. Mir ist nicht mehr zu helfen. Sie müssen jetzt an sich selbst denken.«
Klara sprach mittlerweile etwas energischer, fast schon belehrend.
»Ist das ein Scherz?«, fragte Jules. »Wollen Sie mir Angst machen?«
»Um Gottes willen, nein. Nichts liegt mir ferner.«
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Stille.
So intensiv, dass Jules den leichten Tinnitus im rechten Ohr hören konnte. Ein Summen, das ihn ständig begleitete und das er manchmal über Wochen vergaß, bis ihn etwas in Auf- oder Erregung versetzte. Es schien, als ob das glockenhelle, mückenähnliche Fiepen durch negative Emotionen getriggert wurde und an Intensität gewann.
»Hatten Sie schon einmal solche Angst, dass jede Zelle Ihres Körpers mit Schmerz gefüllt war?«, fragte sie ihn.
Das Mückenfiepen in seinem Gehörgang rückte wieder in den Hintergrund, während Jules versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden.
Er schloss die Augen, sperrte nun auch das schwache Licht der Nachtlampe im Flur aus, doch die vollständige Dunkelheit unter den Lidern wich beinahe augenblicklich einem viel zu fröhlichen, farbenfrohen Erinnerungsbild.
Es war wieder Sommer, und es herrschten zweiunddreißig Grad. Der Geruch des nahenden Großstadtgewitters lag in der Luft. Jules schluckte, wollte nicht schon wieder daran denken, aber es war ja bereits über eine Stunde her, als er es zum letzten Mal getan hatte, was ungewöhnlich für ihn war. Im Schnitt dachte er in jeder freien Minute an den Moment zurück, in dem er alles verlor.
»Sie meinen, ob ich schon einmal solche Angst hatte, dass ich mir die Haut vom Leib reißen wollte, weil ich befürchtete, innerlich zu verbrennen?«
»Ja«, sagte Klara.
Und da wusste Jules, dass sie nicht auflegen würde. Nicht, solange er ihr von seiner schrecklichsten Erfahrung erzählte. Von der einen, die ihn noch heute wünschen ließ, er wäre nicht mehr am Leben.