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Dreieinhalb Monate zuvor
E
s hieß, man brauche nur eine Stunde an diesem Ort zu verbringen, und man könne nie wieder unbefangen durch die Straßen Berlins fahren. Das Gesicht der Stadt habe sich dann für immer verändert, wahlweise zu einer kranken, hässlichen oder einer mitleiderregenden Fratze. Dabei sah es im Zentrum des Geschehens eher beruhigend aus: ein lagerhallengroßer Raum, der an das Kontrollzentrum einer Raketenabschussbasis erinnerte, bestückt mit zwei Dutzend Computertischen, dahinter uniformierte Feuerwehrbeamte, die so wie Jules in der Regel auf den Monitor mit dem Berliner Stadtplan starrten, während sie parallel den Fragebogen abarbeiteten, der zu der jeweiligen Notlage passte.
Jules allerdings hatte aktuell keine Zeit, mit dem panischen Anrufer irgendeine Checkliste durchzugehen. Er arbeitete instinktiv alle Punkte ab, die er in der Ausbildung für diese Situation gelernt hatte.
Eine der grauenhaftesten, mit der man während einer Schicht in der Leitstelle überhaupt konfrontiert werden konnte.
Patient: männlich
Alter: 4 bis 7
Zustand: kritisch
»Haben Sie noch Sprechkontakt zu dem Jungen?«
»Nein, er sagt keinen Mucks mehr. Wie lange dauert es noch?« Der Anrufer, der sich als Michael Damelow identifiziert hatte, klang, als würde er gerade eine steile Treppe hinaufrennen. Dabei stand er seiner Beschreibung nach im Flur einer Neubauwohnung in der Brandenburgischen Straße und starrte auf eine verschlossene Zimmertür.
»Nummer
17
, viertes
OG
, links. Hier brennt es. Ihr müsst euch beeilen!«
»Die Rettungskräfte sind unterwegs«, informierte Jules den zu Tode verängstigten Mann.
Sein Blick wanderte zu der großen Monitorfläche, die fast das gesamte Kopfende der Halle einnahm. Auf der digitalen Landkarte waren die aktuellen Brennpunkte Berlins verzeichnet. Im Moment gab es bis auf den üblichen Rushhour-Wahnsinn eines Freitagnachmittags keine besonderen Vorkommnisse.
Abgesehen von einem Unfall auf dem Stadtring.
Jules sah kurz auf den linken Monitor. Laut GPS
-Signal konnte es noch über drei Minuten dauern, bis die Feuerwehr vor Ort war.
»Okay, ich hau hier ab.«
»Nein, warten Sie«, forderte Jules den Postboten auf. Der arme Kerl hatte eigentlich nur ein Paket abliefern wollen (Familie Haubach, Brandenburgische Straße
17
,
4
.
OG
)
und sich zunächst über den Gestank nach Rauch gewundert. Dann über den nackten Frauenfuß, den er gesehen hatte, als er durch die seltsamerweise offen stehende Haustür in den Flur spähte. Und zuletzt über das Blut.
»Alter, ich hab Angst, hier explodiert gleich alles.«
»Dringt immer noch Qualm unter der Tür hervor?«
»Ja doch.«
Jules trommelte mit den Fingern auf die Kante seiner Tastatur. Laut Lehrbuch hätte er Damelow zustimmen und ihm sogar befehlen müssen, den Einsatzort zu verlassen. Kein Unbeteiligter sollte die Tür eines brennenden Kinderzimmers öffnen und sich dadurch selbst in Gefahr bringen.
Aber Jules konnte auch nicht den eingesperrten Jungen ignorieren.
»Himmel, er kratzt an der Tür!«, stöhnte der Paketbote. Er klang nasal und dumpf, weil er sich einen nassen Waschlappen vor Mund und Nase hielt. Den hatte er sich aus dem Badezimmer geholt, wie Jules ihm geraten hatte. Es war ein Fehler gewesen, ihn dort hinzulotsen. Offenbar hatten die Bodenfliesen ausgesehen, als wäre ein abgestochenes Tier aus einer mit Blut gefüllten Badewanne gestiegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die Frau versucht, sich das Leben zu nehmen, und sich mit aufgeschnittenen Pulsadern noch in den Flur geschleppt.
»Was haben Sie gerade gesagt?«, hakte Jules nach.
»Der Junge kratzt. Von innen. An der Tür.«
Jules schloss die Augen und sah einen sterbenden Jungen, der in dem sinnlosen Versuch, sich zu befreien, die Fingernägel in das Holz der verschlossenen Tür grub.
»Sind Sie sicher, dass sie sich nicht öffnen lässt?«
»Nee, klar, ich bin ja leicht bekloppt.« Damelows Stimme kippte. »Vielleicht ist die Tür ja sperrangelweit offen. Vielleicht ist die Tote, über die ich hier im Flur gestiegen bin, auch keine Leiche, sondern nur ’ne Puppe. Und vielleicht …«
»Ist gut. Beruhigen Sie sich!«
Der Paketbote hustete und schrie gleichzeitig: »Sie haben gut reden! Sie müssen hier auch nicht in einer Blutlache vor einem qualmenden Kinderzimmer stehen.«
»Schauen Sie an den anderen Türen. Stecken da Schlüssel?«
»Wie, was?«
»Türschlüssel. Oft passen die universal in einer Wohnung für alle Zimmertüren.«
»Moment. Nein, hier ist … doch.«
Jules hörte Schritte. Quietschende Schuhe auf Linoleum oder Laminat. »Was doch?«
»Ich hab einen.«
»Versuchen Sie’s.«
»Okay, Moment.«
Weiteres, stärkeres Husten.
Wenn der Postbote schon im Flur solche Atemprobleme hatte, musste es sich im Inneren des Kinderzimmers wie in einem Schornstein anfühlen.
»Das Kratzen hat aufgehört«, sagte Damelow.
»Egal, passt der Schlüssel?«
»Wie? Ja. Aber ich trau mich nicht. Kriegt das Feuer nicht Sauerstoff, wenn ich jetzt öffne?«
»Nein«, log Jules.
»Ich, ich weiß nicht. Ich traue mich nicht. Ich gehe lieber …«
Jules’ Blick wanderte nach links, zurück zu dem Monitor, der ihm den Standort des bestellten Einsatzwagens verriet.
»Bleiben Sie dran«, befahl er dem Postboten und rief den Leiter des Rettungsteams an.
Der nahm sofort ab. »Hallo?«
»Wo bleibt ihr denn?«
»Wir sind da«, sagte der Einsatzleiter genervt. »Aber hier ist nichts.«
Die Mücke in Jules’ tinnitusgeplagtem Ohr meldete sich mit voller Lautstärke. »Wie, da ist nichts?«
»Jedenfalls kein Notfall. Familie Haubach geht es gut, abgesehen von dem Schrecken, den wir ihnen eingejagt haben.«
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich sein Teamleiter unter der Monitorwand mit dem Stellvertreter besprach. Unter Garantie hatten sie sich längst in das Gespräch eingeschaltet und hörten mit.
»Du hast mit der Familie gesprochen?«, fragte Jules den Einsatzleiter vor Ort.
»Vater, Mutter, Tochter. Alle wohlauf.«
Tochter?
»Moment …«
Hat der Dreckskerl mich veralbert?
Ärgerlich schaltete Jules sich wieder in das Gespräch zu dem angeblichen Postboten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der mittlerweile aufgelegt hätte, aber Michael Damelow war noch dran.
»Wo sind Sie?«, fragte Jules.
»Sagte ich doch. In der Brandenburgischen.«
»Nein, sind Sie nicht.« Jules klärte ihn darüber auf, was sein Kollege ihm gerade berichtet hatte.
»Das kann nicht …, ach Gott … tut mir leid.« Damelow begann zu stammeln.
»Was?«
»In der Aufregung, also, ich hab …«
»Ganz ruhig. Atmen Sie tief durch. Was ist da los bei Ihnen?«
Jules verdrehte die Augen.
Eine tote Frau. Ein brennendes Zimmer. Ein um Hilfe rufendes, kratzendes Kind. Und jetzt auch noch ein panischer Zeuge …
»… ich hab Ihnen die vorherige gesagt.«
»Die Adresse Ihrer vorherigen Lieferung?«
»Genau. Ich bin ja schon weiter.«
»Wo. Genau. Sind. Sie?«
Es kostete Jules große Selbstbeherrschung, nicht zu brüllen. Der Mann brauchte eine Weile, um ihm endlich die korrekte Antwort zu geben.
»Prinzregentenstraße 24. Dritter Stock, 10715 Berlin.«
Jules ließ sich die Adresse dreimal wiederholen.
Beim ersten Mal hatte seine Atmung, beim zweiten Mal sein Herz ausgesetzt. Beim dritten Mal war er tot.
Innerlich abgestorben, ein Zombie, der sich noch bewegte, redete und von seinem Platz aufsprang, sich das Headset vom Kopf riss und wie irre in die Gesichter seiner ihn anstarrenden Kollegen glotzte.
Aber er lebte nicht mehr.
Nicht mehr so wie die Menschen um ihn herum.
»Jules«, hörte er den Teamleiter rufen, während er auf ihn zueilte, doch er war nicht mehr zu halten. Er schüttelte seine Kollegen ab, drückte seinen Vorgesetzten zur Seite, rannte hinaus, die Treppe nach unten. Blind vor Panik, taub vor Furcht, sprang er in seinen Wagen auf dem Parkplatz vor der Einsatzzentrale und raste los.
In die Prinzregentenstraße 24.
Dritter Stock.
10715 Berlin.
Zu sich nach Hause.