6
Klara
Heute
H atten Sie schon einmal solche Angst, dass jede Zelle Ihres Körpers mit Schmerz gefüllt war?«
»Sie meinen, ob ich schon einmal solche Angst hatte, dass ich mir die Haut vom Leib reißen wollte, weil ich befürchtete, innerlich zu verbrennen?«
»Ja.«
Nach diesem Dialog hatte ihr telefonischer Begleiter eine beunruhigend lange Zeit geschwiegen, und Klara war sich einen Moment lang nicht sicher, ob Jules aufgelegt hatte.
Doch dann sagte er: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich gerade an etwas sehr Traumatisches in meinem Leben erinnert. Es liegt noch gar nicht so lange zurück.«
Klara hielt im Gehen inne und bückte sich, eine Hand in die linke Seite gestemmt, um das Stechen in der Milzgegend zu mindern, dabei war sie gar nicht schnell gelaufen.
Auch wenn sie ein paar Kilos zu viel auf den Hüften hatte, was Martin nicht müde wurde zu betonen (»Wenigstens sind deine Rehaugen nicht fett geworden, das Einzige, was an dir noch hübsch ist«), war es nicht die körperliche Anstrengung, die ihr so zusetzte, sondern ihre Nahtoderfahrung, kurz bevor sich das Telefon in ihrer Hosentasche selbstständig gemacht und die Nummer des Begleittelefons gewählt hatte. Das Gespräch mit dem einfühlsamen, wohltemperiert klingenden Unbekannten kostete sie die wenige ihr verbliebene Kraft, die sie eigentlich für sehr viel Wichtigeres brauchte. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie überhaupt noch mit ihm sprach.
»Ich kenne den Zustand, den Sie beschreiben, sehr gut«, sagte Jules nach einer weiteren Pause, in der sie fast körperlich gespürt hatte, dass ihm etwas auf der Seele lag. Etwas, was ihn so sehr beschwerte, dass er das Gewicht in seinem Leben niemals wieder würde abstreifen können. Jules’ Worte brachten eine Saite in ihrem seelischen Resonanzkörper zum Schwingen, von der sie gedacht hatte, sie wäre für immer verstummt, möglicherweise sogar gerissen.
Jules, wenn das sein richtiger Name war (er sprach ihn ›Dschuhls‹ aus), klang so aufrichtig. Sie fand kein besseres Wort dafür, war sich aber auch nicht sicher, ob ihre Sinne ihr hier draußen in der Dunkelheit einen Streich spielten. Vielleicht war er nur ein Schauspieler, der seine beruhigende Stimme wie eine Maske trug und sie so einsetzte, dass man ihr alles glauben wollte, wie unwahrscheinlich das auch war.
»Niemand kann mich verstehen.« Klara richtete sich wieder auf und lockerte das Haargummi, mit dem sie ihre dichten braunen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wohl wissend, dass der Druck in ihrem Kopf nicht von einem zu streng gebundenen Zopf rührte.
Klara sog die frische, feuchte Waldluft ein. Das Geäst dicht stehender Kiefern formte einen natürlichen Schneeschutz-Baldachin. Dank der kurzfristigen Windstille war es gefühlt etwas wärmer geworden, dennoch konnte sie nicht aufhören zu zittern. Ihre vor dem Aufbruch hastig über den Norwegerpulli geworfene Wetterjacke und die mittlerweile durchgefeuchtete und aufgerissene Jeans konnten der Kälte nicht viel entgegensetzen. Selbst für einen Herbstspaziergang hätte sie eine ungeeignete Bekleidung gewählt.
Spaziergänge, dachte sie mit einem Anflug von Melancholie, für den sie sich selbst nicht leiden konnte. Hab ich in den vierunddreißig Jahren meines Lebens viel zu selten gemacht. Ich dachte, es wäre Zeitverschwendung, einfach loszulaufen, ohne eine konkrete Notwendigkeit, ohne ein Ziel, an dem es etwas zu erledigen galt. Und nun stehe ich hier, blutend und mit weniger Hoffnung als ein zum Tode Verurteilter im Moment des Festschnallens auf den elektrischen Stuhl, und vermisse all die Waldspaziergänge, die ich niemals machen wollte.
»Meine Angst fällt in keine Kategorie. Also beleidigen Sie bitte nicht meine Intelligenz, indem Sie mir erklären wollen, Sie würden mich verstehen, obwohl wir uns nicht einmal im Ansatz kennen.«
Sie tastete nach ihrer Stirn, zufrieden, dass das Blut getrocknet war, doch ihr Schädel dröhnte wie eine Kirchenglocke, gegen die von außen ein Hammer geschlagen wurde. Die Strafe dafür, wenn man mitten in der Nacht auf einen Felsen kletterte, von dem die wenigsten Berliner wussten, dass es ihn überhaupt gab. Ein Geheimtipp ohne Adresse, acht, neun und zehn Meter hohe künstliche Türme aus Spritzbeton, an deren Kanten, Vorsprüngen und Vertiefungen sich eigentlich nur die Mitglieder des Deutschen Alpenvereins zum Gipfelkreuz ziehen durften.
Aber wer kontrolliert nachts im Schneesturm schon einen DAV -Ausweis?
»Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen, aber ich weiß, wie Sie sich benehmen, und das ist eher wie ein trotziges Kind als wie eine erwachsene Frau.« Jules gab schon wieder die richtige Antwort. Verdammt. Hatte sie zufällig den besttrainierten Mitarbeiter beim Begleittelefon erwischt, oder waren in letzter Zeit alle geschult worden? Bei ihrem letzten Anruf hatte sie ein nettes, aber viel zu junges Mädchen am Apparat gehabt, das ihre Sätze ständig mit der Floskel »Wie schon gesagt …« einleitete, obwohl sie davor noch gar nichts gesagt hatte.
Bestimmt mussten sich mittlerweile alle Begleiter regelmäßig Kursen unterziehen und Fortbildungsseminare besuchen, mit kreativen Titeln wie »Krisenintervention – Sie sind allein, du bringst sie heim«, bei denen sie dann Mitschnitte von Telefonaten wie diesem hier analysierten.
Klara verließ den Wind- und Schneeschutz unter den Kiefern und stapfte weiter den schmalen Pfad hinunter, der sich durch den Wald vom Teufelsberg zur Teufelsseechaussee schraubte. Die Lichtverschmutzung der Großstadt, an deren Rändern sie sich befand, reichte aus, um für so etwas wie Dämmerlicht zwischen den umherwirbelnden Schneekonfetti-Wolken zu sorgen.
Sie zog das Bein nach, hoffentlich war der Knöchel nicht sogar angebrochen, aber das war jetzt eigentlich auch egal. Im Grunde tat der Schmerz gut. So heftig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, und das hielt sie wach auf den letzten Metern.
»Was hat Sie vom Weg abgebracht?«, fragte Jules.
Klara schloss kurz die Augen. Die Dunkelheit, die sie dadurch umgab, passte zu der weltallgleichen Kälte hier draußen.
Verdammt, wieso lege ich nicht einfach auf?
Hätte er schlicht gefragt »Was ist passiert?« oder »Erzählen Sie es mir!« gefordert, dann hätte sie ihn weggedrückt. Doch seine Frage zeugte davon, dass er sie richtig einschätzte. Dass sie einst eine Frau mit einem Ziel gewesen war. Auf einer langen Reise, die sie mit der Hoffnung auf Zufriedenheit und womöglich sogar auf Liebe angetreten hatte und deren Pfade, wie sie lernen musste, mit Landminen gepflastert waren, denen man nur mit sehr viel Glück ausweichen konnte. Und Glück, nun ja, das war der erste Freund, der sich von ihr verabschiedet und sein Mitfahrticket zerrissen hatte – und das schon vor verdammt langer Zeit.
»Kennen Sie das Le Zen am Tauentzien?«, fragte sie ihn.
»Das Luxushotel?«
»Genau.«
»Selbst der Kaffee dort liegt außerhalb meiner Gehaltsstufe, aber ja, ich hab davon gehört.«
»Auch von dem Speakeasy-Fahrstuhl?«
»Speak was?«
»Also nein.«
Klara schob einen Zweig beiseite, der sie am Weitergehen hinderte. »Von der Lobby aus hat man eine gute Sicht auf die Aufzüge. Am besten sitzt man auf dem schmalen Futon-Sofa, direkt neben den Vasen mit den violetten Orchideen. Wenn man nur flüchtig hinschaut, erkennt man drei verchromte Lifttüren, schön verziert mit asiatischen Schriftzeichen, so wie ja alles in dem Schuppen auf Nippon und Co. getrimmt ist.«
»Aber?«
»Aber wenn man exakt um dreiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig am letzten Samstagabend des Monats auf jenem Futon-Sofa sitzt und durch die Orchideen hindurch eine schmale Tür im Auge behält, direkt neben der Aufzugsgruppe, stellt man fest, dass diese mit Seidenpapier bezogene Tür kein Ein- oder Ausgang zu einem Wirtschaftsraum oder Ähnlichem ist.«
»Sondern ebenfalls ein Aufzug.«
Sie hätte beinahe gelächelt. Unter normalen Umständen hätte sie sich mit Jules gerne über Alltägliches unterhalten. Über Politik, Kunst, Reisen oder die Ansichten zu Erziehungsmethoden, wenn er denn Kinder hatte. Er klang wie ein Vater, der es schaffte, gleichzeitig liebevoll, aber auch bestimmt zu sein. Wie oft traf man auf Männer, die mitdachten und sogar die Sätze korrekt vollendeten, weil sie die richtigen Schlüsse aus dem Gesagten zogen?
»Ganz genau. Es ist ein vierter Lift.«
»Wieso Speakeasy?«, fragte er.
»In den Zeiten der Prohibition gab es Alkohol in Bars nur in den Hinterzimmern der Kneipen. Und die versteckten Geheimtüren zu diesen Räumen öffneten sich, wenn man dem Barkeeper leise ein Codewort zuraunte, daher speak easy, für flüstern.«
»Welches Codewort öffnet den Fahrstuhl?«
Gut. Er zögerte die eigentliche Frage hinaus: Und wohin fährt der Lift?
Er wusste, sie würde sich verschließen, wenn er zu schnell zum Kern der Sache kam. Dass sie sich dann billig und benutzt fühlte, wie ein Mädchen, das ihrem Date zu schnell erlaubte, die Hände beim Küssen auf Wanderschaft gehen zu lassen.
»Mittlerweile hat sich in der Szene Speakeasy als Begriff für jedes geheime Etablissement eingebürgert.«
»Von welcher Szene reden wir?«
Sie hörte ein Rascheln neben sich, vielleicht ein Fuchs oder ein Wildschwein, das im Schnee nach Nahrung suchte.
»Von einer, in der Schmerzen verehrt werden.«
»Sind Sie in diesen Fahrstuhl eingestiegen?«
Jules tastete sich mit seinen Fragen weiter voran, während Klara mit stechenden Schmerzen in der Milz und im Knöchel den Weg weiter nach unten stakste, nur noch wenige Meter von der Teufelsseechaussee entfernt, auf der zum Glück kein einziges Auto fuhr. Nur ein komplett asoziales Arschloch hätte bei diesem Wetter und ihrem Anblick nicht angehalten, und was hätte sie sagen sollen? »Alles in Ordnung, mir geht’s gut. Ich geh gerne blutend mit angeknackstem Knöchel im Schneesturm spazieren.«
»Ja. Bin ich«, beantwortete sie Jules’ letzte Frage.
Ich bin eingestiegen.
»Um dreiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig, so wie Martin es mir gesagt hatte, öffnete sich die Tür. Lautlos.«
»Wer ist Martin?«
»Warten Sie ab. Sie werden ihn gleich kennenlernen«, sagte Klara und begann Jules jene Geschichte zu erzählen, mit der nicht alles anfing. Die vielleicht noch nicht einmal den Anfang von ihrem Ende eingeläutet hatte. Die aber mit Sicherheit einen Wendepunkt markierte, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Damals, als sie die Schwelle des Bösen überschritt und den dunklen Fahrstuhl betrat, der sie in eine Welt katapultierte, die noch schlimmer war, als sie es sich in ihren schlimmsten Albträumen ausgemalt hatte.