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Klara
D
as Cockpit ihres Mini Cooper hatte Klara schon immer das Gefühl gegeben, in einem Flugzeug zu sitzen. Auch jetzt leuchteten die unterschiedlichen kreisrunden Aluminiumarmaturen in der Dunkelheit der Garage in einem matten Orange. Durchaus passend für ihren letzten »Abflug« ins Ungewisse.
Klara schluckte, doch das Kratzen wurde nicht besser. Sie griff sich an den Hals und ertastete unter dem Norwegerpulli die Kette mit dem kleinen, silbernen Kreuz, das sie seit ihrer Erstkommunion trug.
Drehzahl- und Geschwindigkeitsmesser verschwammen vor ihren tränenden Augen. Sie musste husten, und ihre Nase lief, der Reiz an den Schleimhäuten kam schneller, als sie erwartet hatte, allerdings war es ja auch ein winziger Wagen, den sie für ihre letzte Reise präpariert hatte. Die Luft schmeckte bereits nach Kohlenstaub, vielleicht auch nur in ihrer Einbildung, und Klara kam der überflüssige Gedanke, ob Martin den Mini jemals wieder würde verkaufen können, wenn sie sich im Todeskampf aufs Polster entleerte. Vielleicht sickerten sogar Fäulnisflüssigkeiten aus ihrem Körper, je nachdem, wie spät man ihre Überreste entdeckte. Dann würde es noch schlimmer stinken als in Papas Omega, den er jedes Wochenende liebevoll gepflegt hatte, bis Mama eines Abends in den Fußraum gekotzt hatte.
Das war auf dem Rückweg von einem Lehrertreffen im Loretta am Wannsee
geschehen, wo sich das Kollegium des Döblin-Gymnasiums regelmäßig zu Besäufnisrunden einfand, zu denen einmal im Monat auch die Ehepartner mitgebracht werden durften. Klaras Mutter vertrug nicht viel, dennoch zwang ihr Mann sie, »nicht die Spielverderberin zu sein«
und ihn »wie einen Trottel dastehen zu lassen, mit einer verklemmten Tusse, die keinen Spaß versteht«.
Nun, ihr Versuch, sich an das »spaßige« Trinkverhalten der versoffenen Lehrerrunde anzupassen, endete nach einem einzigen Campari O. mit der Entleerung der magensäuregetränkten Reste des Gurkensalats auf der Fußmatte. Klara konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie in jener Nacht aufgewacht war, als sie um kurz nach elf die Eingangstür ins Schloss fallen hörte. Sie sprang aus dem Bett, öffnete ihre Kinderzimmertür im Dachgeschoss und achtete auf die Schritte. Denn die waren ihr Indikator. Ihr seismografisches Frühwarnsystem, das sie seit frühester Kindheit trainiert hatte und das jetzt, im Alter von vierzehn Jahren, nahezu perfekt funktionierte.
Besonders das Stampfen ihres Vaters, wenn er ihrer Mutter folgte, nachdem diese bereits nach oben gehuscht war, war ein verlässlicher Gradmesser seiner Wut. Bei Papa war das Knarzen der dritten Stufe entlarvend, die nur schwerfällig reagierte. Ihr Vater musste also ordentlich auftreten, sein ganzes Gewicht darauf verlagern, damit sie ein Geräusch von sich gab. Eindeutiges Indiz aber war die Geschwindigkeit. Wenn er voller ungezähmter Wut war, schritt Papa eher bedächtig nach oben zum ehelichen Schlafzimmer. Langsam, wie das Grollen eines aufziehenden Gewitters, dem man nichts entgegensetzen kann, um das Unvermeidliche zu verhindern. Wenn Klara diesen stampfend behäbigen Gang ihres Vaters hörte, wusste sie: Es war zu spät! Dann brauchte sie auch nicht mehr nach unten in die elterliche Etage zu gehen und vor der verschlossenen Schlafzimmertür darauf zu warten, dass ihre Mutter stöhnte. Röchelte. Sich würgend übergab. Es gab nichts mehr, was Klara tun konnte, um es
zu verhindern. Und dennoch hatte sie es an jenem Abend nach dem Loretta-Besäufnis versucht. War barfuß hinuntergetapst, an der verhassten Rembrandt-Kopie des Soldaten mit Goldhelm vorbei, dessen strenger Blick sie an ihren Vater erinnerte.
Im ersten Stock roch es grundsätzlich nach Staub, selbst wenn frisch gewischt war, das alte Haus schien ihn unentwegt neu zu produzieren, als würde es sich pausenlos häuten. Er fand sich auf dem Treppengeländer, im Teppich, selbst an den Wänden, ganz besonders auf dem Bild, das an der Wand zwischen Badezimmer- und Schlafzimmertür hing.
Eine Schwarz-Weiß-Fotografie hinter Glas. Papa selbst hatte das Bild aufgenommen. Die Binzer Seebrücke im Winter. Menschenleer, die Wellen, die sich am Pier brachen, wirkten wie auf ihrem Höhepunkt zu Eis gefroren. Betrachter lobten oft das gute Auge ihres Vaters, ohne zu wissen, dass seine besondere Gabe sich nicht darin erschöpfte, schöne Momente der Rügener Natur einzufangen. Sein Haupttalent war sein seelischer Röntgenblick. In Sekundenschnelle konnte er die emotionalen Schwachstellen eines Menschen erkennen. Die aber fotografierte er nicht. Er nutzte sie, indem er sie entblößte, bis sie wie eine offene Wunde vor ihm lagen, in die er genüsslich Salz, Säure oder Schlimmeres kippte.
»Jeder Mensch hat eine Achillesferse«,
hatte er Klara einmal auf dem Spielplatz erklärt und sie in den Arm genommen. Sie hatte vor Freude fast geweint, so selten kam es vor, dass er ihr diese Nähe gewährte. »Deine Schwachstelle ist dein Einfühlungsvermögen, Klara. Du nimmst dir die Dinge viel zu sehr zu Herzen. Du musst härter werden, sonst tritt dir irgendwann das Leben mit Anlauf in den Arsch.«
Dabei hatte er ihr ein Zweieurostück gegeben, das für jeden Fluch in der Familie fällig war, und sie hatte gelacht. Später hatte Klara sich gefragt, ob er Mama auch etwas zusteckte, wenn er eine verbotene Grenze überschritt. Fünfzig Euro für ein blaues Auge? Hundert für einen ausgeschlagenen Zahn?
Als sie an jenem Abend vor der verschlossenen Schlafzimmertür stand und das verzweifelte Lachen ihrer Mutter hörte, diese paradoxe Übersprungshandlung, bevor er sie vergewaltigte, wurde Klara zum ersten Mal der wunde Punkt ihres Vaters bewusst. Sie hatte die Hand schon an der Türklinke gehabt, ohne genau zu wissen, weshalb, ohne einen Plan zu haben. Da begriff sie, was sie tun musste.
Klara trat an die Fotografie heran, packte das Bild, auf das ihr Vater so stolz war, mit beiden Händen an den Kanten des Glasrahmens – und riss die Wellenlandschaft von der Wand, um sie zu Boden zu schmeißen.
Danach hatte sie die Schlafzimmertür nicht mehr selbst öffnen müssen. Aufgeschreckt von dem ohrenbetäubenden Krach des zersplitternden Glases, riss ihr Vater die Tür auf. Mit nacktem Oberkörper, nur noch mit der Anzughose bekleidet, die ihm Mama am Morgen für die Schule rausgelegt hatte, den Gürtel wie eine Hundeleine in der Hand.
»Was zum Teufel …?« Seine Augen weiteten sich, als er sah, was Klara angerichtet hatte.
»Es tut mir leid, ich …«
Sie hatte sich keine Erklärung zurechtgelegt. Es war unmöglich, dass dieser Akt scheinbar sinnloser Zerstörung aus Versehen passiert sein konnte. Doch ihr Vater verlangte nach keinem plausiblen Grund. Er schlug zu. Nicht zum ersten Mal in Klaras Leben, wohl aber zum ersten Mal mit einem Gürtel, zum ersten Mal ins Gesicht und zum ersten Mal mit der Wirkung, die sie sich erhofft hatte: Er nutzte sie als Blitzableiter. Das Gewitter, das sich mit dem Knarzen der Treppenstufe angekündigt hatte, entlud sich. Jedoch auf ihr und nicht im Körper ihrer Mutter.
Als Klara am nächsten Tag zur Schule ging und ihrer besten Freundin davon erzählte, wie sie vom Fahrrad gestürzt sei und sich dabei das halbe Gesicht aufgeschlagen hätte, freute sie sich, sodass ihr beim einfachen Lächeln vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen. Endlich,
dachte sie und lächelte noch breiter. Endlich habe ich einen Weg gefunden, Mama zu schützen und mich …
Der Signalton einer eingehenden SMS
riss sie aus ihrem vermutlich letzten Erinnerungstraum in die abgasgeschwängerte Realität der Garage zurück.
WO BIST DU????
Martin. Natürlich. Immer vorwurfsvoll, immer mit vier Fragezeichen.
Verlässlich bis in den Tod hinein.
ICH HAB VERSUCHT, DICH ZU ERREICHEN. DU GEHST NICHT RAN.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und las den Rest der Nachricht.
ODER BIST DU NICHT ZU HAUSE?
HAST DU AMELIE ETWA ALLEINE GELASSEN????
Klara wurde übel. Martin hatte das gleiche Talent wie ihr Vater. Den gleichen psychologischen Röntgenblick.
Mit unfehlbarer Sicherheit konnte er den Finger in ihre Wunden legen, wobei es natürlich kein großes Kunststück war, in dem leiblichen Kind die seelische Achillesferse einer Mutter zu sehen.
»Nein, du Arschloch«, flüsterte sie. »Ich habe Amelie NICHT
alleine gelassen. Vigo ist bei ihr. Der Babysitter, den du so hasst, weil er schwul ist. Weil er Klimaaktivist ist, weil er Handys und Autos ablehnt, einfach weil er ein guter Junge ist und damit das komplette Gegenteil von dir selbst.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Vernet«,
hatte der Sechzehnjährige ihr beim Abschied an der Wohnungstür gesagt. »Amelie ist so pflegeleicht, im Grunde müsste ich Ihnen Geld dafür zahlen, dass ich bei Ihnen meine Bücher lesen darf. Sollte etwas sein, gehe ich nach unten und melde mich von dort.«
Praktischerweise lebte er im Hinterhaus, nur einmal über den Hof, bei seiner alleinerziehenden Mutter.
Und dann hatte Vigo noch ergänzt, sie könne sich ruhig Zeit lassen, es wäre ja Wochenende, er habe sonntags nichts vor. Später würde er sich ins Gästezimmer legen, direkt neben dem Kinderzimmer. »Ich warte so lange, bis Sie zurückkommen.«
Also für immer.
Klara schluchzte und hatte plötzlich wieder das ekelerregende, jähzornverzerrte Gesicht ihres Mannes vor Augen, den sie in Gedanken anschrie: »Weißt du, weshalb ich nicht wiederkomme? Weshalb ich meine Tochter alleine zurücklasse? Um sie zu schützen!
Damit sie nicht eines Tages auf die gleiche Idee kommt wie ich selbst. Damit sie sich nicht als Ventil hergibt und versucht, deinen Zorn zu erregen, damit du deine Wut an ihr und nicht an mir auslässt.«
Denn dessen war sie sich sicher: dass Martin der beschissenste Ehemann der Welt war, aber dennoch ein guter Vater. Er würde seiner Tochter niemals etwas antun, es sei denn, er würde eines Tages von ihr herausgefordert, weil sie sich ihm als Blitzableiter andiente, so wie Klara es über all die Jahre ihrer verlorenen Kindheit bei ihrem Vater getan hatte.
Mit Erfolg. Seit dem »Tag des zerstörten Bildes« (wie sie ihn in Gedanken nannte) hatte ihr Vater nie mehr Hand an die Mutter gelegt. Hatte sie nie mehr geschlagen, geprügelt oder vergewaltigt, wie ihre Mutter ihr Jahre später, als sie schon lange nicht mehr zu Hause wohnte, bestätigt hatte. Wieso auch? Er hatte ja ein neues Opfer gefunden. Seine Tochter.
Dazu darf es in unserer Familie niemals kommen,
dachte Klara.
Ich schütze mein Kind vor Martin, indem ich es mit ihm alleine lasse.
Sie schloss die Augen in dem Bewusstsein, dass dieser zweifelsfrei paradoxe Gedankengang nur die halbe Wahrheit war, mit der sie, die ehemalige Schülerin einer katholischen Mädchenschule, versuchte, ihre »Todsünde« zu rechtfertigen. Denn Martin war nicht das Hauptproblem.
Sondern Yannick.
Ihn fürchtete sie mehr als das Fegefeuer, das ihr Pfarrer ihr in den Kommunionsstunden in gleißenden Farben ausgemalt hatte.
Dennoch.
Jetzt, nachdem sie den Point of no Return überschritten hatte, kamen ihr natürlich Zweifel. Nicht an ihrem Willen zu sterben, der stand felsenfest. Wohl aber, ob sie richtig in der Annahme ging, ihre Tochter würde ohne sie gefahrloser aufwachsen können.
Ohne mich. Und ohne Yannick.
Klara dröhnte der Schädel, was sie auf die Abgase zurückführte, die eine immer größere Giftkonzentration im Wageninneren erzeugen mussten. Sie hatte davon gehört, dass es kurz vor dem Verlust des Bewusstseins zu Halluzinationen kommen könne, und tatsächlich erlebte sie gerade eine akustische Täuschung. Ihr Mann begann zu sprechen. Sagte ihren Namen. Erst leise, dann immer lauter, bis sie ihn deutlich verstehen konnte, obwohl sie das Telefon gar nicht am Ohr hatte.
»Klara?«, rief ihr Mann, der gar nicht ihr Mann war und sich auch nicht im Entferntesten wie Martin anhörte, und dennoch war ihr die Stimme seltsam vertraut.
Jules?
Das Handy in ihrem Schoß wog auf einmal mehrere Kilo.
Verdammt.
Sie hatte gedacht, sie hätte ihn weggedrückt, aber offenbar hing der Typ vom Begleittelefon noch immer in der Leitung.
Sie wischte fahrig auf dem Touchscreen des Handys herum, doch anstatt das Telefon auszuschalten, aktivierte sie die Freisprechfunktion.
»… schon erklärt habe«, hörte sie ihn sagen. »Tun Sie mir das nicht an. Ich ertrage es nicht noch einmal. Nicht schon wieder!«
Wieder?
Sie seufzte. Verdammt, wieso nur?
Weshalb nur hatte Jules ausgerechnet wieder
gesagt und damit erneut den richtigen Ton getroffen. Sein Flehen hatte etwas in ihr geweckt, was ihr weder Martin noch Yannick im Leben hatten nehmen können, so viel sie auch in ihr zerstört hatten: ihre Neugier.
Gott, war ich früher neugierig. Auf das Leben, auf die Reisen, die es für mich bereithält. Darauf, mein Kind groß werden zu sehen.
»Was meinen Sie mit schon wieder?
«, fragte sie mit einer Stimme, die in ihren Ohren schon völlig belegt und damit fremd klang.
Sie sah auf die Uhr im Armaturenbrett, aber die Anzeige verschwamm vor ihren Augen. Sie konnte sie nicht mehr entziffern, 22.59 oder 23.09 Uhr. Sie wusste nur, bald brach ein Tag an, den sie nicht mehr erleben wollte. Nicht mehr erleben durfte,
denn dann war das Ultimatum abgelaufen.
»Ich erzähle es, wenn Sie den Motor abschalten«, bat Jules.
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe einen besseren Vorschlag.« Klara hustete trocken, dann sagte sie: »Ich lasse die Abgase weiter einlaufen. Und Sie beeilen sich mit dem Sprechen, Jules. Vielleicht schaffen Sie es ja und haben mir Ihre Geschichte erzählt, bevor ich vollends das Bewusstsein verliere.«
Sie keuchte asthmatisch, so laut, dass sie kaum die ersten Worte verstand, mit denen Jules ihr den schrecklichsten Tag seines Lebens schilderte.