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W ie bitte?«
Sie zog beide Wörter ungläubig in die Länge. Fehlte nur noch, dass sie ironisch auflachte, aber dazu hatte sie vermutlich keine Kraft mehr.
Jules vibrierte vor Anspannung. Auf dem Weg zur Küche hatte er das drängende Gefühl, sich beeilen zu müssen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren und musste Klara unter emotionalen Druck setzen. Daher spielte er seinen Joker aus in der Hoffnung, ihre Neugier so weit anzustacheln, dass sie ihren Lebenswillen zurückgewann. Zumindest kurzfristig. Und so sagte er: »Meine Lebensgefährtin Dajana hatte große psychische Probleme, deren Ursache ich bis heute nicht kenne. Deswegen war sie in der Klinik Berger Hof. In derselben psychiatrischen Einrichtung, in der auch Sie waren, Klara.«
Er tastete wieder nach dem Brief, dessen Wortlaut ihn bis in seine Träume verfolgte.
Leb wohl, mein liebster Jules. Ich werde mir jetzt die Pulsadern aufschneiden. Vielleicht schaffe ich es noch, Dich ein letztes Mal auf der 112 anzurufen, bevor meine Kräfte schwinden. Ein letztes Mal Deine Stimme zu hören, die mir früher Halt, Zuversicht und Hoffnung gegeben hat. Vielleicht kann ich mich an ihr festhalten, und Du begleitest mich auf meinem letzten Weg.
Die Wut der Verzweiflung loderte erneut in Jules auf. Er ballte die Fäuste.
»Wann waren Sie dort?«, fragte er Klara.
»Ende Juli.«
Zur selben Zeit?
»Wie meine Frau.«
Eigentlich hatte die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für diese Luxusklinik nicht übernehmen wollen. Aber Dajana hatte ein schmeichelhaftes Porträt über den Vorstandsvorsitzenden ihrer Kasse geschrieben, und der revanchierte sich, indem er höchstpersönlich die Kostenübernahme für die Burn-out-Behandlung absegnete.
»Ihr Beruf und die Familie hatten sie an den Rand der Belastungsfähigkeit gebracht. Sie brauchte eine Auszeit mit professioneller Unterstützung. Kurz nach der Behandlung tötete Dajana sich selbst und unseren Sohn Valentin. Er war erst fünf.«
Und dennoch hatten sich seine Finger mit der Verzweiflung eines Erwachsenen in das Holz der Kinderzimmertür gegraben.
Hat er dabei geschrien, geweint? Oder nur röchelnd gehustet? An wen hat er während seines letzten, rußgequälten Atemzugs gedacht?
Jules stand mittlerweile in der Küche, die geradezu absurd groß war, was aber zu dem Rest der geräumigen Wohnung passte. Obwohl ein gewaltiger Küchenblock mit Barhockern in der Mitte des Raums stand, gab es zusätzlich einen Esstisch mit sechs Sitzplätzen, und noch immer hätte ein Sofa gegenüber der Einbauzeile Platz gefunden.
Jules öffnete den chromfarbenen Flügeltürkühlschrank und nahm eine Flasche Orangensaft aus dem Getränkefach.
»Sind Sie noch dran, Klara?«
Er hörte ein dumpfes Klopfen in der Leitung, war sich aber nicht sicher. Klara sagte nichts. Er wusste nicht, ob sie nachdachte, ihn ignorierte oder vielleicht schon das Bewusstsein verloren hatte.
Dennoch, in der Hoffnung, dass die Verbindung zu ihr noch bestand, stellte er die Saftflasche auf die Arbeitsfläche des Küchenblocks, zog sich einen Barhocker heran und legte sein Privathandy daneben.
Es dauerte einen Moment, bis er das Smartphone mit der Gesichtserkennung entsperrt hatte, dann tippte er eine kurze WhatsApp:
Rufe dich gleich an. Nimm ab. Aber sag kein Wort!
Dann sagte er zu Klara: »Ich bitte Sie. Nein, ich flehe Sie an: Schalten Sie den Motor aus! Reden Sie mit mir! Und verraten Sie mir: Was zum Teufel haben Sie im Berger Hof gemacht? Was ist Ihnen an jenem Ort widerfahren, der bereits meine Familie zerstört hat?«
Jules öffnete die nur noch zu einem Drittel gefüllte Saftflasche, ohne einen Schluck daraus zu trinken.
»Meine Frau hat sich das Leben genommen, Klara. Und Sie wollen nun das Gleiche tun. Ebenfalls nach einem Aufenthalt in dieser Klinik. Das kann doch kein Zufall sein!«
Mit dieser beunruhigenden Feststellung schickte er die Textnachricht an die Nummer seines Vaters ab.
Dann rief er ihn an und stellte das Telefon auf laut, damit er mithören konnte.