13
Klara
K
lara fühlte sich, als wütete ein stumpfer Handbohrer direkt zwischen ihren Augen im Inneren ihres Schädels. Sie war ohnehin lärmempfindlich, allein das garagenverstärkte Röhren des Motors hätte unter normalen Umständen ausgereicht, um Kopfschmerzen bei ihr auszulösen. Da bedurfte es keiner Kohlenmonoxid-Anreicherung ihrer Atemluft. Und jetzt verpestete noch dieser hartnäckige Jules den Äther mit seinen ungeheuerlichen, geradezu absurden Behauptungen.
»Das haben Sie sich doch ausgedacht!«, sagte sie. »Sie kennen diese Klinik nicht, geschweige denn war Ihre Frau dort vor Ort, falls es die überhaupt gibt. Sie wollen mich nur hinhalten.« Klara schluckte trocken. »Leiten Sie den Anruf gerade um zur Polizei? Sind die schon auf dem Weg?«
»Nein. Ich kann Sie mit meinen Mitteln von zu Hause aus nicht orten. Außerdem wäre es das Letzte, was ich tun würde.«
»Weshalb?«
»Weil die Polizei Ihnen nicht helfen kann, Klara. Ich kenne Opfer häuslicher Gewalt. Ich hatte sie häufig auf der 112 und habe sie oft genug am Begleittelefon. Sie brauchen keinen Arzt, keinen Beamten oder gar jemanden von der Fürsorge.«
»Stimmt genau. Aber jemanden, der mich nicht kennt und meint, er könne mich am Telefon aus dem Auto quatschen, brauche ich erst recht nicht.«
Jules schien wütend. »Ich quatsche Sie nicht voll! Sie sind es, die nur labert und nicht handelt. Mein Gott, wie viele von Ihrer Sorte hatte ich am Notruftelefon? Wöchentlich musste ich Einsatzkräfte zu Frauen schicken, die von ihren Männern krankenhausreif geprügelt worden waren, doch kaum waren unsere Leute vor Ort, war alles doch nicht so schlimm, und ihr habt heulend gefleht und gebettelt, dass wir den Schläger bloß nicht mitnehmen.« Jules stöhnte auf. »Alles nur halbherzig. Der Hilferuf, der Wunsch zu entkommen, auch Ihr Suizidversuch, Klara, einfach nur lächerlich.«
»Lächerlich?« Klara hustete. Ihr war klar, dass er sie provozieren wollte, um die emotionale Bindung zwischen ihnen zu verstärken. Um es ihr schwerer zu machen, an ihrem Entschluss festzuhalten.
»Ja. Nahezu kindisch. Von mir aus können Sie in Ihrer Karre so lange hocken, wie Sie wollen. Sie haben ohnehin keinen ausgeprägten Todeswunsch.«
Klara war versucht, sich an den dröhnenden Kopf zu fassen. »Nicht ausgeprägt? Ich leite mir gerade über einen Schlauch Autoabgase ein!«
»Und Ihr Wagen ist mit Sicherheit nicht vor 1999 gebaut und hat daher einen Katalysator, weswegen er kaum noch Kohlenmonoxid abgibt«, schoss Jules zurück. »Ich war bei der Feuerwehr, Klara. Ich ziehe mein Wissen nicht aus dem Tatort
am Sonntag. Es ist fast unmöglich, sich heute noch mit Autoabgasen umzubringen. Schön, Ihr Wagen ist kalt, da funktioniert der Kat gerade im Winter erst mit Verzögerung, weswegen ich anfangs etwas nervös war. Aber mittlerweile unterhalten wir uns viel zu lange. Zudem kann ich hören, das Sie die Fenster geschlossen halten. Ein weit verbreiteter Irrtum. Sie hätten die ganze Garage mit Abgasen fluten müssen. Und all das wüssten Sie, wenn es Ihnen wirklich ernst wäre, heute Ihr Leben zu beenden. Dann hätten Sie das nämlich recherchiert. Himmel, Sie haben ein Kind, Klara! Ich weiß, Sie sind verzweifelt. Ich weiß, Sie haben die dunkelsten Gedanken und sehen keinen Ausweg. Aber im Grunde Ihres Herzens wollen Sie Ihre Tochter niemals mit Ihrem Mann alleine lassen!«
Du verdammtes Arschloch,
dachte Klara. Sie starrte das Armaturenbrett an, in dessen Plexiglasverkleidung sich ihr Gesicht fratzengleich spiegelte. Mit einem Mal fiel es ihr schwer, die Widerrede zu führen.
»Vielen Dank, Sie haben mir gerade einen weiteren Grund geliefert, dieses Gespräch zu beenden«, flüsterte sie, nun zutiefst erschöpft. Die Möglichkeit, dass Jules recht hatte, lähmte sie regelrecht. Dennoch sagte sie: »Wenn das stimmt, was Sie sagen, muss ich die wenige Zeit nutzen, die mir bleibt, um etwas anderes auszuprobieren.«
»Okay, dann lassen Sie uns einen Deal machen«, schlug Jules vor, er klang besänftigend.
»Wie soll der aussehen?«
»Sie sagen mir, was im Berger Hof passiert ist. Und ich verrate Ihnen eine schmerzfreie, schnelle Suizidmethode, wenn Sie danach immer noch aus dem Leben scheiden wollen.«
Sie schlug wütend auf das Lenkrad und wurde laut. »Das Wollen
ist hier nicht die Frage. Ich werde
sterben. So oder so.«
Ihre Stimme zitterte, auch weil Jules sie verunsichert hatte. Dennoch sagte sie beinahe trotzig: »Ich sehe keinen anderen Weg. Mein Leben ist ohnehin verkorkst, das meiner Tochter muss ich nicht auch noch ruinieren. Nur, wenn ich schon aus dem Leben scheide, dann hatte ich wenigstens die Hoffnung, es etwas humaner zu gestalten.«
»Sie wollen also Suizid begehen, weil Ihre Angst vor einem schrecklichen Tod durch Yannick so groß ist. Stimmt das?«
Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Klara schloss die Augen, wodurch das Dröhnen im Wageninneren ihr noch lauter erschien. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, worauf Sie sich mit diesem Gespräch einlassen«, warnte sie ihn nun schon zum wiederholten Male, doch Jules ließ nicht locker.
»Egal, was Ihnen dieser Yannick androht. Es kann nicht schlimmer sein als das, was ich bereits erlebt habe.«
Klara nickte. »Das stimmt. Es gibt vermutlich nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind vor den Eltern stirbt.«
Scheiß drauf, die Abgase scheinen tatsächlich nichts zu bringen. Außer Migräne und Übelkeit.
Klara schaltete den Motor aus und öffnete mit eingeschlafenen Fingern die Fahrertür.
Die kalte Garagenluft traf sie wie ein Schwall Eiswasser. Gierig saugte sie den Sauerstoff ein, so schnell, dass sie husten musste.
Jules erkundigte sich, ob alles okay sei, was Klara bejahte, obwohl es natürlich kaum einen Moment in ihrem Leben gegeben hatte, der weniger okay war. Abgesehen vielleicht von dem Dammriss nach der Vergewaltigung im Ehebett, den sie nicht hatte nähen lassen können, weil in der Notaufnahme zu viele Fragen gestellt worden wären. Noch heute tat es ihr manchmal beim Wasserlassen weh. Vom Sex ganz zu schweigen.
»Sie irren sich«, hörte sie Jules sagen.
»Womit?« Ihr Schädel dröhnte. Das Einzige, was sie geschafft hatte, war, ihr Kurzzeitgedächtnis umzubringen. Sie konnte sich jetzt schon nicht mehr an das erinnern, was sie vor zehn Sekunden gesagt hatte.
»Dass es nichts Schlimmeres gibt als ein Kind, das vor den Eltern stirbt.«
»Nicht?«
»Noch schlimmer ist es, seinem Kind beim Sterben zuzusehen und nichts dagegen tun zu können.«
Klara stieg aus dem Wagen. Ihre Knie drohten nachzugeben, sodass sie sich am Autodach festhalten musste. »Das mag sein, aber ich verstehe nicht …«
»… weshalb ich das gerade jetzt erwähne?«
»Richtig.«
Sie löste sich vom Fahrzeug und machte sich auf den Weg. Die Tür, die die Garage mit dem Bungalow verband, befand sich direkt vor ihr, nur fünf Schritte entfernt. Wobei »Bungalow« eine etwas hochtrabende Bezeichnung für das Wochenendhäuschen in der Kleingartenkolonie der Heerstraßensiedlung war. Martin war es peinlich gewesen, von einer Laube oder Datsche zu sprechen, und hatte nie Freunde hierher eingeladen, obwohl das Gebäude das schönste und größte der ganzen Siedlung war, ausgebaut zu einer Ganzjahresunterkunft mit Garage, auch wenn das nicht offiziell genehmigt war.
»Ich habe beides erlebt«, sagte Jules.
»Beides?« Klara fragte sich, woher sie die Kraft nahm, sich aus der Garage in den Übergang zum Bungalow zu schleppen. Auf jeden Fall verhinderte der Schmerz in ihrem Bein, dessen Knöchel zum Glück wohl nur angeknackst war, dass sie das Bewusstsein verlor.
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Klara schloss die Verbindungstür und fragte sich, ob sie das Licht einschalten sollte. Die hochmodern renovierte Anderthalbzimmer-Laube mit Parkettboden, Fußbodenheizung, Klimaanlage und italienischen Designermöbeln roch noch immer nach Malerarbeiten und Umzug, so selten waren sie hier draußen gewesen. Und wenn, dann ohne Amelie, die im Falle des Falles beim Babysitter abgegeben werden musste, da ihr Papa nicht wollte, dass sie mit Fettfingern und Sabbermund das helle Futon-Sofa beschmutzte. Klaras Blut auf dem Polster hingegen hatte ihn da weniger gestört.
Sie humpelte zu dem maßgefertigten Küchentisch, der die winzige offene Küche von Wohn- und Esszimmer trennte, setzte sich auf einen Holzstuhl und entschied sich für die Dunkelheit. Auch wenn die Gefahr gering war, dass einer ihrer Nachbarn um diese Jahreszeit anwesend und um diese Uhrzeit noch wach war und sich wunderte, weshalb im Bungalow der Vernets nach wochenlangem Leerstand so spät auf einmal Licht brannte.
»Valentin war kein Einzelkind«, sagte Jules, und während sie die Tragweite dieser Information begriff, vibrierte ihr Handy in ihrer Hand wie ein elektrischer Rasierapparat. Sie sah auf das Display und las eine weitere Nachricht von Martin.
WO BIST DU????
Klara löschte die Nachricht und fragte Jules: »Sie hatten ein zweites Kind?«
»Fabienne, Valentins Schwester.«
»Und war sie …?«
»Ja. Sie war auch in dem Zimmer. Sie hatte sich im Schrank versteckt, während Valentin versuchte, die Tür aufzumachen. Sie lebte noch, als wir sie fanden.«
»Gott, wie schrecklich«, hörte sie sich ihren Gedanken aussprechen. »Sind Sie sich sicher, dass Dajana das nicht …«
»… absichtlich getan hat?«, fragte Jules scharf.
Klara biss sich auf die Zunge. »Vergessen Sie es. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Er sog hörbar die Luft ein. »Ehrlich gesagt, ich habe mich das natürlich auch gefragt. Denn es gab starke Spannungen zwischen ihr und den Kindern. Fabienne war schon immer eine Papa-Tochter gewesen. Und als Dajana den Burn-out bekam, wurde auch das Verhältnis zu Valentin immer schwieriger. Nur war das völlig im Bereich des Normalen. Bei allen Differenzen, nie und nimmer hätte Dajana ihren Kindern etwas angetan.«
Danach herrschte betretenes Schweigen, bis Jules sie fragte: »Und? Steht unser Deal?«
»Meine Geschichte gegen eine schmerzfreie Suizidmethode?« Klara nickte. »Ja, er steht noch.«
Sie begann in dem kühlen, unbeheizten Bungalow zu schwitzen. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Herz ihren Brustkorb als Paukenkessel missbrauchte.
»Gut.« Jules sprach so neutral und nüchtern, als würde er ihr anbieten, den Müll runterzubringen, wenn sie den Abwasch übernähme: »Dann erweitere ich meinen Teil der Abmachung und verrate Ihnen, was mit Fabienne passiert ist. Aber nur, wenn Sie mir sofort sagen, wer dieser Yannick ist und was er gegen Sie in der Hand hat.«
Klara hustete den letzten Rest der Abgase aus ihrer Lunge, dann begann sie: »Yannick hat mir bis Mitternacht Zeit gegeben. Wenn ich bis dahin die Ehe mit meinem Mann nicht beendet habe, wird er mich qualvoll ermorden.«
Sie zog die Nase hoch und blinzelte Tränen weg, von denen sie nicht wusste, woher sie überhaupt noch kamen.
»Und wenn er herausfindet, dass ich Ihnen alles erzählt habe … falsch, wenn er auch nur den leisesten Eindruck gewinnt, ich könnte mich Ihnen anvertraut haben, erleiden Sie dasselbe schmerzhafte Schicksal wie ich, Jules. Ist Ihnen das die Wahrheit wert?«
»Ja.« Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Die Wahrheit einer Unbekannten, die sich lediglich verwählt hat?«
»Das Risiko gehe ich ein.«
»Sie ahnungsloser Trottel.« Sie lachte, vermutlich das letzte Lachen ihres Lebens. »Mein Telefon ist verwanzt, er hat eine Spyware draufgespielt. Vermutlich weiß Yannick jetzt schon, dass wir miteinander reden.«
»Sie klingen paranoid.«
»Und Sie wie ein Idiot. Aber egal. Wir sprechen eh schon zu lange. Wenn er nach meinem Tod die Handydaten auswertet, wird er nicht ruhen, bis er herausfindet, mit wem ich gesprochen habe. Und dann wird er wissen, dass wir uns ausgetauscht haben.«
»Und was dann? Sagen Sie es mir.«
»Okay, dann hören Sie gut zu. Aber tun Sie mir einen Gefallen. Verfluchen Sie nicht meinen Namen, wenn Sie in wenigen Stunden wünschten, Ihre Qualen würden aufhören und Yannick würde auch Sie endlich erlösen.«