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Klara
Klinik Berger Hof
Vier Monate zuvor
D
ie Nadel fand keinen Zugang, weswegen Daniel Kernik noch einmal ansetzen musste, was nicht ungewöhnlich war bei Klara. Sie hatte dünne Adern, auch erfahrene Krankenschwestern waren an ihren Armen gescheitert.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Assistenzarzt und setzte noch einmal an, diesmal mit Erfolg. Klara biss die Lippen zusammen und konzentrierte sich auf den Kunstdruck an der Wand des ebenso modern wie teuer eingerichteten Behandlungszimmers. Die Fotografie eines Leuchtturms, an dessen umtostem Fuß sich die Wellen des Pazifiks brachen.
Klara spürte den zweiten Einstich, sah aber nicht hin. Sie hatte Angst vor Spritzen, was in ihrem Beruf nicht von Vorteil war.
»Normalerweise ist das nicht meine Aufgabe. Kurz draufpressen.« Kernik reichte ihr einen Tupfer für den Einstich in ihrer Armbeuge, dann zog er sich einen Rollhocker heran. Klara saß auf der Kante der Behandlungsliege direkt unter dem Fenster zum Klinikpark.
»Und was verschafft mir dann die Ehre, Dr. Kernik?«, fragte sie ihn.
Hier in der luxuriösen Umgebung hätte sie sich im Grunde nicht einmal gewundert, wenn ihr der Chefarzt persönlich die Spritze gesetzt hätte. Die Patienten, die im Berger Hof für eine zweiwöchige »Kur« den Gegenwert eines voll ausgestatteten Kleinwagens hinblätterten, erwarteten, dass sie in dieser Klinik nichts an ein herkömmliches Krankenhaus erinnerte. Das zeigte sich auch in der Lage und der Architektur, die so manchem Fünf-Sterne-Hotelier vor Neid die Tränen in die Augen trieb.
Eine halbe Autostunde von Baden-Baden entfernt thronte die Anlage wie ein Adlernest auf einer Anhöhe im Schwarzwald. Die Patienten, die hier meist wegen Ehekrisen, Burn-outs und psychosomatischen Störungen in Behandlung waren, genossen zwischen ihren Gruppen- und Einzeltherapiesitzungen eine Postkartenaussicht von der Café-Terrasse direkt in das bewaldete Tal, Menüs vom Sternekoch und Thalasso-Anwendungen im Spa.
Die Krankenzimmer waren ausschließlich Einzelsuiten mit Klimaanlage, Kamin, Jacuzzi und Internetfernsehen. Trotz all des Schickimicki-Gedönses genoss die Klinik in Fachkreisen einen hervorragenden Ruf, was hauptsächlich an Prof. Dr. Ivan Corzon, ihrem Leiter, lag.
Der in Barcelona geborene Psychiater war der Herausgeber des renommiertesten Lehrbuchs über klinische Psychiatrie und gefragter Gast auf Expertenkongressen in der ganzen Welt. Dass Kernik hier unter ihm als Assistenzarzt arbeiten durfte, machte sich in seinem Lebenslauf etwa so wie für einen Software-Entwickler eine persönliche Empfehlung von Bill Gates.
»Ich wollte alleine mit Ihnen sein, Frau Vernet«, sagte der Assistenzarzt mit einem seltsamen Lächeln im Gesicht.
Klara legte den Kopf schräg und spielte unbewusst mit ihrem Ehering. Wollte der Kerl etwa mit ihr flirten? Kernik hatte schöne braune Augen und ein entwaffnendes Lächeln, war aber alles andere als ihr Typ. Mit seinem solariumgebräunten Gesicht, dem La-Martina-Hemd und seinen Troddel-Segelschuhen entsprach er dem Klischee eines Golf spielenden Porschefahrers.
»Und weshalb wollten Sie mit mir alleine sein, Dr. Kernik?«
»Sie sind keine Ärztin, Frau Vernet. Sie können das hier nicht abschätzen. Ich fürchte, Sie brauchen meinen Rat.«
Klara erhob sich von der Liege und suchte nach einem Mülleimer für den Tupfer. Es hatte aufgehört zu bluten. Sie würde kein Pflaster benötigen.
Kernik stand ebenfalls auf und hob entschuldigend die Hand. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, nichts liegt mir ferner, als Ihre Stellung als medizinisch-technische Assistentin herabzuwürdigen. Ich weiß, Sie leisten Ihrer Berliner Praxis große Dienste. Ihr Chef sieht Sie zu Höherem berufen und will Ihre Ambitionen, Psychologie zu studieren, sogar fördern. Aber das wissen Sie ja sicher selbst. Wenn Sie nicht so talentiert und klug wären, hätte Ihr Boss Ihrem Antrag auf Teilnahme hier sicher nicht zugestimmt.«
Wenn er flirtet, dann auf eine sehr merkwürdige Tour,
dachte Klara und wunderte sich über Kerniks besorgten Blick. Für einen Moment empfand sie Wut, denn im Grunde hatte sie sich auf den Besuch der Privatklinik eingelassen, um wenigstens für ein paar Tage weg von ihrem Mann zu sein. Fort von all den Sorgen und Ängsten. Und nun gab es schon wieder einen Kerl, der sie verunsicherte.
»Sie müssen gehen.« Kernik senkte seine Stimme zu einem eindringlichen Raunen.
»Gehen? Ich dachte, das Vorgespräch mit Professor Corzon findet hier statt.«
Klara deutete auf eine mit grauem Kunstveloursleder überzogene Sitzecke. Corzon war Veganer und lehnte jedes tierische Produkt ab, auch bei Sofas und Sesseln.
»Sie verstehen nicht. Sie müssen so schnell wie möglich fort von hier und …«
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Klara spürte den Luftzug als kalten Hauch im Nacken und bekam eine Gänsehaut. Oder lag das an Kerniks Worten?
… so schnell wie möglich fort von hier …
Wie ein ertapptes Kind schnellte der Arzt zu dem Mann herum, der gerade in das Behandlungs- und Besprechungszimmer getreten war.
»Hola, qué tal?«
Der Spanier hätte den schneeweißen Kittel nicht gebraucht, um seine Autorität zu demonstrieren. Corzon war kleiner, als man es aus dem Webauftritt und den Hochglanzbroschüren der Privatklinik erahnen konnte. Etwas untersetzt mit einem üppigen Bauch, und sein dem Kopfhaar entsprechender, leicht rötlich schimmernder Bart hätte für die Konturen schon vor Tagen einen Trimmer benötigt. Neben ihm sah Kernik aus wie aus dem Ei gepellt, und dennoch verfügte der Professor über eine weitaus stärkere Ausstrahlung.
»Soy Ivan«, stellte er sich mit einem breiten Lächeln und nur mit dem Vornamen vor, was Klara guttat. Nach den verunsichernden Worten Kerniks sehnte sie sich nach Kompetenz, Zuspruch und Vertrauen.
»Muchas gracias por participar en este importante experimento. Con su colaboración está haciendo un servicio extraordinario a la ciencia.«
Klara nickte lächelnd. Das Experiment, zu dem sie sich bereit erklärt hatte, war wirklich außergewöhnlich. Sie hatte neben ihrer Ausbildung drei Jahre lang Spanisch gelernt und verstand im Großen und Ganzen, was der Mediziner ihr sagen wollte. Dennoch war sie froh, als Corzon ihr mit den Worten »Mi colega actuará de intérprete« einen Dolmetscher ankündigte. Die Freude wich der Ernüchterung, als ihr klar wurde, dass Kernik diese Rolle ausfüllen sollte.
»Er wünscht, dass wir beide auf der Couch Platz nehmen«, übersetzte der Assistenzarzt die Worte seines Chefs, der keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, dass das keine Bitte, sondern ein Befehl war. Auf dem Couchtisch zwischen Sessel und Sofa lag eine Plastikschatulle, die Corzon öffnete. Er entnahm ihr einen Gegenstand, der wie eine Virtual-Reality-Brille für ein Computerspiel aussah.
»Para inducir los delirios, hay que ponerse estas gafas con auriculares, lo que provoca una sobreestimulación por medio de varias señales ópticas y acústicas. Un agente intravenoso adicional refuerza los delirios que causan.«
»Um die Wahnvorstellungen hervorzurufen, benutzen wir diese Brille hier«, übersetzte Kernik. »Sie wird Sie mit optischen und akustischen Reizen überfluten. Eben gerade haben Sie einen von uns entwickelten Wirkstoff intravenös gespritzt bekommen, der die durch die Brille ausgelösten Halluzinationen verstärken wird.«
Klara nickte. So hatte es in den Formularen gestanden, die sie beim Einchecken in der Klinik an der Rezeption ausgehändigt bekommen hatte. Und natürlich hatte sie dem Krankenhaus eine Haftungsfreistellung erteilt für den Fall, dass sie während ihres Aufenthalts psychotisch wurde. Das war ja der Sinn des Experiments.
»No se preocupe, todo se dosifica de tal manera que las halucinaciones persistirán sólamente durante unos minutos después de que las gafas se hayan apagado. Luego seguiremos ampliando el intervalo lentamente cada día.«
»Dieses Experiment ist extrem gefährlich und kann für Sie tödliche Konsequenzen haben«, hörte sie Kernik völlig falsch übersetzen. Tatsächlich hatte Corzon in etwa gesagt, dass sie keine Sorge haben müsse, die Wahnvorstellungen wären nur wenige Minuten nach dem Absetzen der Brille wieder abgeklungen.
»Nicht die Stirn krausziehen. Corzon geht gerade die Nebenwirkungen mit Ihnen durch, die er herunterspielt«, sagte Kernik und steigerte damit Klaras Verwirrung noch weiter.
»Ich weiß, ich bringe Sie hier in eine heikle Lage«, fuhr Kernik mit seiner Scheinübersetzung fort. Dabei betonte er seine Sätze so sachlich wie nur irgend möglich. »Aber Sie dürfen die Brille nicht aufsetzen. Niemals. Unter gar keinen Umständen.«
Er wartete drei weitere Sätze Corzons ab, dann sagte er: »Schauen Sie bitte nicht so erschrocken, wenn ich rede. Sonst merkt der Professor, dass ich Sie warnen will. Und jetzt nicken Sie. Corzon hat Ihnen nämlich die Frage gestellt, ob Sie sich hier wohlfühlen.«
Klara tat, wie ihr geheißen.
»Noch mal: Ich weiß, ich bringe Sie in eine unmögliche Situation. Und das tut mir leid. Aber Sie haben ein kleines Kind, so wie ich.« Mittlerweile schaffte es Klara nicht mehr, sich auf die freundliche Stimme des Klinikleiters zu konzentrieren. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt nun Kernik, der als Nächstes sagte: »Ich flehe Sie an, setzen Sie die Brille nicht auf. Sonst geschieht etwas Schreckliches. Es kann passieren, dass Sie die Klinik nie wieder verlassen.«
Nie wieder?
Klara schüttelte unbewusst den Kopf, was ihr ein missfälliges Augenrollen von Kernik einbrachte in der Sekunde, in der Corzon erneut die Brille in die Hand nahm.
Paradoxerweise lösten die letzten Worte des Assistenzarztes einen zaghaften Glücksmoment in ihr aus.
Für immer im Berger Hof? Nie wieder zurück zu Martin?
Selbst die Tatsache, dass sie dann von ihrem Kind getrennt wäre, wog nicht so schwer, wofür sie sich im nächsten Atemzug schämte. Aber sie war sich im Grunde sicher, Martin würde sich liebevoll um Amelie kümmern.
Oder machte sie sich hier etwas vor?
Nein.
Seine Fehler lagen ganz sicher nicht im Umgang mit seinem Kind. Niemals würde er die Hand gegen sein kleines Mädchen erheben.
»Ich werde jetzt so tun, als würde ich auf meiner Station gebraucht«, sagte Kernik. »Kommen Sie fünf Minuten später nach.«
»Aber …«, setzte Klara an, doch Kerniks eindringlicher Blick brachte sie zum Schweigen.
Corzon ging zu seinem Schreibtisch und schien etwas in der obersten Schublade zu suchen.
»Sie tun jetzt Folgendes, Klara!«, flüsterte Kernik. »Sie sagen, dass Sie vor Beginn der ersten Versuchsreihe noch einmal auf die Toilette müssen. Wir treffen uns am Ende des Flurs im Treppenhaus.«
Unmittelbar danach klingelte sein Handy, und Kernik setzte seinen Teil des Plans in die Tat um. Nach einer kurzen Verabschiedung von Corzon, der von seinem Schreibtisch aus verständnisvoll nickte, war Klara mit dem Klinikleiter allein.
»Comencemos con la primera etapa del experimento«, sagte er und deutete auf eine Tür, die sein Behandlungszimmer mit einem Nebenraum verband, in den er sie jetzt bitten wollte. Anders konnte Klara seine Worte nicht verstehen:
»Lassen Sie uns mit der ersten Stufe des Experiments beginnen.«