17
Klara
S ie sprach jetzt sehr leise, wie so oft, wenn sie längere Zeit in gewohnter Umgebung war. Das hatte sie sich als überängstliche Mutter angeeignet. Sobald Amelie im Bett war, ging sie nur noch auf Zehenspitzen durch die Wohnung, stellte den Fernseher auf Flüsterlautstärke und verzichtete nach dem Toilettengang sogar auf die Spülung, sofern sie nur hatte pinkeln müssen. Dabei hatte ihre Tochter einen gesunden, festen Schlaf, wenn sie erst einmal ins Drachen- und Einhornland entglitten war. Allein der Gedanke jedoch, sie könnte aufgeschreckt werden und zu ihrem Vater tapsen, war ihr immer unerträglich gewesen. An Amelie hätte er die Wut über die Störung nie ausgelassen, wohl aber an ihr.
Offiziell gab Martin vor, sich mit Patientenabrechnungen zu beschäftigen, aber Klara wusste, dass er damit eine Agentur beauftragt hatte. Sie hatte es nie gewagt, ihn am Schreibtisch auch nur anzusprechen. Wenn, dann hätte sie es mit einer langen Leidensnacht bezahlen müssen, mindestens. Und das galt zweifellos auch für Störungen durch seine Tochter, also hatte Klara sich angewöhnt zu flüstern und nahezu geräuschlos auf dicken Socken über die knarzenden Parkettbohlen zu gleiten. Irgendwann musste ihr dieses Verhalten so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass sie in den eigenen vier Wänden flüsterte, so wie jetzt in der Laube, obwohl ihr Mann nicht einmal in ihrer Nähe war.
Und es hoffentlich nie wieder sein würde.
»Ich war klinisch tot«, wiederholte sie die schockierende Enthüllung, als könne sie es noch immer nicht glauben.
»Glauben Sie, Dr. Kiefer hat Ihnen die Wahrheit gesagt?«
»Wieso hätte ich daran zweifeln sollen?«
Sie war sich sicher, Jules entging nicht, dass sie ihm mit dieser Antwort auswich.
Und wieder einmal war ihr ungewollter Begleiter so einfühlsam, nicht weiter nachzubohren. »Hat er verraten, was Ihren Herzstillstand ausgelöst hat?«, wollte Jules wissen. Er schien in einem großen Raum zu stehen mit hohen Wänden.
»Er sagte, es wäre eine Art anaphylaktischer Schock gewesen, eine heftige Reaktion auf das Triggermittel.«
»Sie waren fünf Minuten ohne Vitalzeichen? Haben Sie bleibende Schäden davongetragen?«
»Bleibende Schäden?«, wiederholte Klara und musste beinahe lachen. »Fragen Sie das ernsthaft eine Frau, die gerade versucht hat, sich mit Autoabgasen das Leben zu nehmen?«
Paradoxerweise sehnte Klara sich zum ersten Mal seit Jahren nach einer Zigarette. Vor der Schwangerschaft war sie eine Gelegenheitsraucherin gewesen. Sie hatte nie eigene Zigaretten gehabt, sondern sich bei Freunden, Kollegen und auf Partys durchgeschnorrt. Martin war das stets ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte sie für ihr »Aschenbecher-Gebiss« kritisiert, obwohl Klaras Zähne nicht weniger weiß waren als die ihres Zahnarztgatten. Manchmal dachte Klara, Martin habe sie nur deshalb geschwängert, damit sie mit dem Rauchen aufhörte. Denn er wusste, wie verantwortungsbewusst sie war und dass sie keinem schutzlosen Lebewesen einen Nikotinentzug unmittelbar nach der Geburt zumuten würde.
»Aber ja, ich fühlte mich unmittelbar nach dem ersten Erwachen wie von einer Abrissbirne geküsst«, beantwortete sie Jules’ Frage, ob sie die Folgen der Wiederbelebung gespürt habe. »Die Nächte nach meinem Beinahetod litt ich unter heftigem Nachtschweiß. Ich hätte mit meinem Nachthemd einmal das KaDeWe feucht durchwedeln können, kein Scherz. Corzon hatte mir erklärt, das sei eine typische Nebenwirkung des Triggermittels. Jo erst klärte mich darüber auf, dass es eher ein Zeichen dafür war, dass mein Herz massiv aus dem Rhythmus gekommen war.«
»Hm.«
Jules schien das Gesagte erst einmal verdauen zu müssen. Oder ist er abgelenkt?
Wieder meldete sich in Klara der Argwohn, ihr Begleiter könnte ein doppeltes Spiel spielen. Dass er versuchte, sie vom Suizid abzuhalten, war klar. Doch wie weit würde Jules dafür gehen? Und welche Möglichkeiten hatte er, ihren Aufenthaltsort vielleicht doch ausfindig zu machen?
»Warum hat Corzon Ihnen verschwiegen, dass Sie klinisch tot waren?«, fragte Jules. »Hatte man Angst, Sie würden die Klinik verklagen?«
»Ich vermute es. Wäre das ruchbar geworden, hätte der Berger Hof so schnell wohl niemanden mehr als Probanden für die Tests gefunden.«
Hinter ihrem Rücken krachte es, und Klara erschrak so, dass sie sich um die eigene Achse drehte und aufsprang, dem imaginären Einbrecher das Handy wie ein Messer entgegenstreckend. Doch da war niemand. Nur der Flügeltürkühlschrank in der Nische neben der Vorratskammer, dessen Eiswürfelproduktion gerade wieder eingesetzt hatte.
Himmel, bist du ein Weichei. Schreckhaft bis in den Tod.
Klara nahm den Hörer wieder ans Ohr und verstand nur noch den letzten Fetzen einer offenbar längeren Frage von Jules.
»… welcher Verbindung stehen nun die Erlebnisse mit Dr. Kiefer zu Yannick?«
Yannick.
Klaras Magen zog sich zusammen. »Das werden Sie gleich begreifen«, flüsterte sie und wartete einen weiteren Schwall Eiswürfel ab, die sich im Inneren des Kühlschranks in das Vorratsgefäß entluden. Sie schloss die Augen. Mit großer Anstrengung gelang es ihr, sich das Gesicht des Oberarztes in Erinnerung zu rufen. Die Klug- und Klarheit in den großen, lachfaltenumrandeten Augen. Und wie sie hatte zusehen müssen, wie von einem Moment auf den anderen diese warmherzigen Augen nicht mehr existierten.
Klara schüttelte sich vor Ekel. »Bevor ich Ihnen die grausamen Details verrate, will ich Ihnen kurz von dem Wunderschönen berichten, was mir unmittelbar davor widerfahren ist.«
»Mit Dr. Kiefer?«
»Ganz genau. Ich weiß, noch verstehen Sie die Zusammenhänge nicht. Aber wenn Sie mir fünf Minuten geben, werden Sie begreifen, weshalb Yannick diese Todesmacht über mich hat. Und weshalb Sie keine andere Wahl haben, als Ihren Deal einzuhalten.«
»Ihnen zu helfen, diese Welt zu verlassen«, sagte Jules, und tatsächlich freute es Klara, dass er das offen aussprach und sich offenbar daran halten wollte.
»Aber keine Sorge«, beschwichtigte sie ihn. »Die Erinnerungen, in denen ich schwelge und die ich gleich mit Ihnen teile, hören sich nur anfangs an wie eine romantische Lovestory zwischen mir und Dr. Kiefer. Tatsächlich hab ich die kurze Zeit mit ihm sehr genossen.«
Trotz unserer Gesprächsthemen.
Zunächst hatte sie noch versucht, Kiefer zu täuschen, so wie all die anderen, die sie nach den blauen Flecken auf den Armen, am Hals oder anderen Verletzungen gefragt hatten. Doch Jo hatte sich nicht mit ihrer Standardausrede zufriedengegeben, sie neige eben generell zu Hämatomen. Schließlich war es weniger seine Hartnäckigkeit als ein einziger Satz, mit dem er die Dämme bei ihr einriss. Noch im Park der Klinik sagte er zu ihr: »Ich kann Sie nicht wieder unvergewaltigen, das geht nicht, Klara.« Danach hätte er gar nicht mehr weiterreden müssen, doch er ergänzte noch: »Aber ich kann Ihnen zuhören, und ich bin an das Arztgeheimnis gebunden.«
Damit hatte Jo ihr ein Geschenk gemacht. Er hatte sie nicht mit falschen Hoffnungen abgespeist, er könne an ihrer Situation etwas ändern. Hatte sich nicht als weißer Ritter in edler Gestalt geriert. Aber er hatte in ihr das Gefühl geweckt, sie nicht für das zu verurteilen, was sie mit sich hatte machen lassen. Im Hotel Le Zen etwa. Dass Klara ihm bereits bei ihrem zweiten Zusammentreffen im Klinikpark von der als »Spiel« getarnten Gruppenmisshandlung erzählt hatte, machte ihn zum einzigen Menschen in ihrem Leben, der über die bislang dunkelste Stunde ihres Daseins Bescheid wusste.
Von dem Mann mit der Maske.
Den Kabelbindern.
Der Maulsperre in ihrem Mund.
Und von den Männern. Vielen Männern.
»Sie haben sich in Dr. Kiefer verliebt?«, hörte sie Jules vermuten.
»Mit Haut und Haaren.«
»Und dann trat Yannick in Ihr Leben?«
Klara öffnete die Augen, und um sie herum blieb alles von einer dichten, durchdringenden Schwärze, wie sie sie sich damals gewünscht hätte, als Yannick plötzlich vor ihr stand. Groß. Nackt. Und psychotisch.
»Ganz genau«, antwortete sie Jules und wiederholte seine Worte: »Bis Yannick in mein Leben trat und den Wunsch in mir auslöste, mich von dieser Welt zu verabschieden, in der so etwas Schreckliches geschehen kann wie das, was ich mit ihm erleiden musste.«