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G anzkörperkrampf.
So hatte ihre beste Freundin Anne ihr einmal den Zustand während der Hochphase einer akuten Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr von schlechtem Sushi beschrieben. Klara meinte zu verstehen, wie Anne sich gefühlt haben musste, als die Keime, die in ihren Organismus gelangt waren, ihrem Körper befahlen, sein Innerstes nach außen zu stülpen.
(Großer Gott, Anne, ich wünschte, wir hätten uns nicht aus den Augen verloren, seitdem du mit deiner großen Liebe nach Saarlouis gezogen bist.)
Das Wort »Ganzkörperkrampf« passte hervorragend auch auf ihre Verfassung, nur dass es viel zu harmlos war. Der Ekel, den sie jetzt, nach dem Aufwachen, empfand, war größer und intensiver als jedes andere negative Gefühl, das sie bislang in ihrem Leben hatte empfinden müssen. Was einerseits an den Nachwehen des Betäubungsmittels lag, aber vor allen Dingen an der Erkenntnis, vom Fegefeuer direkt in die Hölle gesprungen zu sein.
Bei dem Versuch, ihrem Ehemartyrium wenigstens für einige Stunden zu entfliehen, war Klara in die Fänge eines Sadisten geraten, der ihrem Mann im Fach »Perversion und Gewalt« noch Unterricht hätte geben können. Und seine erste Schulstunde würde vermutlich mit der Vorführung jenes Videos beginnen, das sie nun gezwungen war, sich anzuschauen.
»Sieh genau hin«, hörte sie den Mann hinter sich sagen, der eine umgekehrte Metamorphose hinter sich hatte. Vom liebenswerten Schmetterling zur hässlichen Raupe.
Von Kiefer zu Yannick.
Er stand neben ihr. Den japanischen Dolch von der Schlafzimmerwand in der Hand.
Sie saß auf einem Küchenstuhl, die Hände in den hölzernen Armlehnen verkrallt, um nicht vornüberzukippen in Richtung Fernseher, wo sie gerade von drei Männern mit Masken zusammengeschlagen wurde.
Das Le Zen -Video. Ein weiterer Grund, weshalb sie sich wünschte, erneut das Bewusstsein zu verlieren.
Immerhin würde sie weich fallen, ein dicker Teppich mit silbrigen Fasern lag ihr zu Füßen auf dem Parkett. Klara fröstelte, als ihr bewusst wurde, dass sie nackt war und Yannick sie vom Bett ins Wohnzimmer getragen haben musste.
Das Bett!
Ruckartig, viel zu schnell, drehte sie sich zum Schlafzimmer zurück, obwohl sie das illuminierte Wasserbett und das, was darin schwamm, auf keinen Fall noch einmal sehen wollte. Es war eher der Wunsch, sich die Leichenteile unter der durchsichtigen Matratze nur eingebildet zu haben, weshalb sie den Kopf verdrehte. Bis Yannick ihr eine Ohrfeige versetzte, die ihr Kinn wieder in die entgegengesetzte Richtung schnellen ließ. Zurück zu dem Fernseher, der im Grunde ihr Spiegelbild zeigte, denn so wie in dem Video war sie auch jetzt wieder nackt und gequält und wollte nicht mehr leben.
»Warum?«, fragte sie die alles zusammenfassende Frage.
Warum tust du mir das an?
Warum hast du mich über deine Identität getäuscht?
Warum muss ich mir das Video der Schande noch einmal ansehen?
Warum hast du mich in deiner Gewalt?
»Wie du dir vorstellen kannst, ist das alles hier kein Zufall, Klara. Ich habe in deinem Fall lange recherchiert. Dein Mann Martin, und damit sage ich dir nichts Neues, ist ein Schwein.«
Klara wagte es nicht, zu nicken. Weder wusste sie, ob ihr eine Reaktion gestattet war. Noch, ob eine weitere Kopfbewegung eine noch stärkere Welle der Übelkeit in ihr auslösen würde, deretwegen sie sich übergeben müsste. Und sich diese zusätzliche Blöße zu geben, nicht nur nackt, sondern auch noch vollgekotzt vor diesem Wahnsinnigen zu sitzen, wäre unerträglich.
»Er vertreibt dieses Video von dir im Netz, auf einschlägigen Portalen. Leicht zu finden für jemanden, der weiß, wonach er sucht.«
Ohne den Kopf zu bewegen, verdrehte Klara die Augen so weit, dass sie Teile von Yannicks Gesicht im Blick hatte. Er sah noch genauso attraktiv aus wie der Mann, der sie im Klinikpark angesprochen hatte. Und ganz bestimmt roch er auch noch so gut wie der Liebhaber, der vor Kurzem auf ihr gelegen und in sie eingedrungen war. Doch er hatte seine warme, weiche Stimme gegen die eines Teufels getauscht.
»Und obwohl er dir das antut, Klara. Obwohl Martin dich missbraucht und seine Verbrechen dann auch noch mit der Welt teilt, um dich immer und immer wieder zu demütigen, verlässt du ihn nicht. Im Gegenteil: Du kommst, von heute mal abgesehen, pünktlich nach Hause. Kochst ihm sein Leibgericht, wäschst seine Socken, bügelst seine Hemden, befriedigst seine Gelüste.«
Yannick hielt inne und stellte ihr die Frage, die sie selbst gerade gestellt hatte.
»Warum?«
Er stellte sich direkt vor ihren Stuhl, sodass sie den Fernseher nicht mehr sehen konnte (eine Erleichterung), und ging vor ihr auf die Knie. Zeigte ihr die Klinge des Samuraidolchs, in der sich ihr Blick brach. »Egal, wie hart er schlägt, egal, wie oft er dich vergewaltigt. Du gehst immer und immer wieder zu ihm zurück. Wieso?«
Nun nickte Klara doch, sie konnte nicht anders.
»Dunedin«, sagte sie mit trockener Stimme. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser, fast so sehr, wie sie sich danach sehnte, aus diesem Albtraum zu erwachen.
»Wie war das?«
»Ich hab es mal ausgerechnet. Dunedin ist die zweitgrößte Stadt der Südinsel Neuseelands. Und der am weitesten von Berlin entfernte Ort. Über achtzehntausendzweihundert Kilometer.« Eine größere Distanz könnte sie auf Erden nicht zwischen sich und Martin bringen. »Dahin wäre ich gerne geflohen.«
»Und wieso hast du es nicht getan?«
Klara schüttelte den Kopf. Yannick wusste die Antwort, so dumm war er nicht, dass er nicht darauf kam. Aber sie tat ihm den Gefallen und beantwortete seine rhetorische Frage.
»Amelie«, flüsterte sie. Ihr Ein und Alles. Der einzige Grund, weshalb sie nicht schon längst einen Ausgang aus ihrem Elend gesucht hatte.
»Ausrede!«, bellte Yannick. »Und eine ganz billige noch dazu.«
»Du …« Klara stockte.
Es widerstrebte ihr auf einmal, diesen Mann zu duzen, der entweder ein begnadeter Schauspieler oder tatsächlich eine multiple Persönlichkeit war. Kiefer, der einfühlsame, liebenswerte und duzwürdige Mann, war verschwunden. Vor ihr stand ein Ungeheuer, ein Neutrum.
»Mein Mann ist stark. Er hat Geld und Macht und Freunde. Man kann ihn nicht so einfach verlassen.«
»Doch, das kann man. Du kannst das. Du musst endlich aufhören, dich in die Opferrolle zu fügen. Oder gefällt sie dir?«
Klara schüttelte den Kopf.
»Und wieso übernimmst du sie dann ohne Widerspruch? Himmel, diese Opferrolle, die ihr Frauen euch immer wieder selbst gebt, ist die Quelle allen Übels.«
Yannick stand auf, atmete so schwer, als würde er sich darauf vorbereiten, ohne Hilfsmittel längere Zeit unter Wasser zu tauchen. »Die meisten Kinder werden von Frauen erzogen. Emanzipation hin oder her, von der Mutter über die Erzieherin bis zur Grundschullehrerin, fast immer treffen Kinder in ihren wichtigsten Prägejahren auf Frauen. Weißt du, wie viele Kindergärtner es gibt?«
Er lachte unfroh auf. »Drei Prozent. Was für ein Witz. Lachhaft wenige Männer gehen in Elternzeit, die Kinder sind noch immer Müttersache. Ihr also habt es in der Hand, doch ihr lasst eure Mädchen verweichlichen und beschwert euch später über die Unterdrückung durch die Männer. Dabei seid ihr es doch. Ihr Frauen kauft den Mädchen rosa Klamotten und lila Puppen. Ihr seid es, die sie beim Ballett und nicht beim Kampfsport anmelden. Damit lehrt ihr sie, wenn auch vielleicht nicht bewusst, dann aber unterschwellig, sich zu fügen und alles zu ertragen. Weil Jungs nun mal Jungs sind, richtig?«
Klara schüttelte den Kopf, wollte widersprechen, aber selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, die richtigen Worte zu finden, hätte Yannick ihr keine Lücke gelassen.
»Ihr vergiftet das Selbstbewusstsein über viele Jahre hinweg, bis eure Mädchen ihre Rolle als schwaches Geschlecht komplett verinnerlicht haben. So sehr, dass sie keinen Mut und keine Willensstärke mehr aufbringen, um dem eigenen Kopf zu folgen. Am Ende suchen sie sich die widerlichsten Arschlöcher als Ehemann aus und kehren immer und immer wieder zu ihnen zurück, so wie du.«
»Bitte, ich verstehe nicht.« Klara verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Ihr Schamgefühl war zurückgekehrt, jetzt versuchte sie sich, so gut es ging, zu bedecken. »Was wollen Sie von mir?«
Die Antwort gab Yannick ihr mit dem Dolch, dessen Spitze blitzschnell in ihrem linken Nasenloch verschwand.
Und es zerfetzte.
»Lass deine Hände unten«, brüllte Yannick gegen Klaras Schmerzensschreie an. Reflexartig hatte sie beide Hände vors Gesicht gerissen in dem untauglichen Versuch, die Blutung zu stoppen.
»Ich schwöre, ich schneide dir deine Titten ab, wenn du nicht ruhig sitzen bleibst.«
Er streckte ihr den Zeigefinger entgegen wie ein Schulmeister einem ungezogenen Kind.
Klara flehte: »Bitte, bitte, töten Sie mich nicht.«
»Das habe ich nicht vor. Noch nicht.« Er trat näher. »Im Moment brauche ich nur eine winzige Menge von deinem Blut. Deshalb habe ich dir eine unbedeutende, harmlose Verletzung beigebracht, um dir etwas zu verdeutlichen.«
Klara schauderte, als Yannick sie fast behutsam berührte und die Finger unter ihrem aufgeschlitzten Nasenloch in den Blutstrom hielt, der ihr über das Kinn, den Hals und die Brüste hinab über den Bauch bis zur Scham tropfte. Einen nach dem anderen – erst den Daumen, dann Zeigefinger bis Ringfinger und den kleinen Finger – besudelte er auf diese Art.
Als Nächstes trat er an die Wand und nutzte die Finger als Blutpinsel. Mit raschen Bewegungen schrieb er in roten, an den Enden ausdünnenden Ziffern vier Zahlen auf den weißen Putz direkt neben dem TV -Gerät.
30.11.
Dann wandte er sich wieder zu Klara, reichte ihr ein Stofftaschentuch, das sie sich sofort auf die brennende Nase presste, und fragte sie: »Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Sie schloss die Augen und schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf. Der Schock, die Kälte und womöglich der Blutverlust ließen sie am ganzen Körper zittern.
»Das ist ein Datum. Präg es dir ein. Hast du es bis zum dreißigsten November nicht geschafft, die Ehe mit deinem Mann zu beenden, werde ich dich töten, sobald der Tag anbricht. Und zwar qualvoller, als du es dir vorstellen kannst.«
Klara lachte. Ihren Schmerzen und aller Ohnmacht zum Trotz. Ein Lachen der Verzweiflung und Hilflosigkeit, in dem der Zorn deutlich zu hören war, den die unmögliche Forderung des Wahnsinnigen in ihr ausgelöst hatte.
»Man kann eine Ehe mit Martin Vernet nicht einfach so beenden. Das Frauenhaus, in dem ich vor ihm sicher bin, wurde noch nicht gebaut. Und das Land, in dem ich mich vor ihm und einer Armada von hochbezahlten Privatdetektiven verstecken könnte, hat noch keine Flagge. Dafür hat Martin viel zu viel Geld, Macht und Energie. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht er es durch. Und er lässt sich niemals etwas wegnehmen, das er als sein Eigentum betrachtet. Schon gar nicht seine Frau.«
»Du hast mir nicht zugehört. Ich habe nicht von einer Trennung, Scheidung oder Flucht gesprochen.«
»Sondern?«
»Vom Ende. Beende das mit deinem Mann. Und zwar auf die einzige Art, die in solchen Fällen möglich ist. Mit der einzigen Sprache, die feige Arschlöcher, die ihre Frauen quälen, verstehen.«
»Und die wäre?«
»Mord.«
Klara verschluckte sich an ihrem eigenen Atem und musste husten. »Sie meinen …?«
»Ganz genau. Töte deinen Mann. Du hast dafür noch einige Wochen Zeit. Schaffst du es nicht bis zum 30.11., weißt du, was passiert.«
»Sie töten mich.«
»Ganz genau. Und komm nicht auf die Idee, dich an die Polizei zu wenden oder dir sonst Hilfe zu holen. Wenn du mit jemandem über diesen Abend sprichst, verhängst du über ihn ein Todesurteil. Hast du das verstanden?«
Klara nickte.
»Du hast es in der Hand. Tu das Richtige! Sonst endest du wie all die anderen Frauen, die dafür zu schwach waren.«
Yannick machte eine Handbewegung in Richtung Schlafzimmer.
»Teile von ihnen hast du in meinem Bett gesehen.«