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ie wenigsten Menschen steigen in eine Achterbahn mit der Hoffnung, während der Fahrt aus dem Waggon geschleudert zu werden. Die meisten stellen sich diesem Höllenritt in der Absicht, am Ende der überlebten Nahtoderfahrung in einem Endorphinrausch der Erleichterung zu baden.
Auch Jules zog eine kontrollierte Angstexposition der direkten, realen Konfrontation mit dem Tod vor. Doch jetzt hatte er keine Wahl. Er musste sich dem stellen, was auch immer vor der Tür stand. Hitzköpfig, wie er war, wenn die Vernunft in einem Adrenalinstrom ertränkt wurde, hätte er am liebsten sofort die Tür aufgerissen. Immerhin spähte er zuvor erst einmal durch den Spion und sah etwas, das noch sehr viel beunruhigender war als ein bewaffneter Mann im Hausflur. Und das war: nichts!
Dunkelheit, alles umfassende Schwärze. Nicht einmal ein Schatten, und damit kam das Klimpern des Schlüsselbunds einer übernatürlichen Erfahrung gleich. Wer hatte es bewegt? Welches körperlose Wesen war in der Lage gewesen, durch das Treppenhaus zu gehen und einen Schlüssel (wo immer es den auch herhatte), einen Dietrich oder ein anderes Werkzeug von außen ins Schloss zu stecken, ohne dabei den Bewegungsmelder im Flur auszulösen?
Er schloss die Augen, den Kopf ans Türblatt gepresst.
In einem irrationalen, fast übersinnlichen Moment hatte Jules die Befürchtung, ganz alleine auf der Welt zu sein und ebenjene Dunkelheit selbst dann um sich herum zu sehen, wenn er die Augen wieder öffnete. Und so war es zum Teil auch die Sorge, sein wirrer Gedankengang könnte der Wahrheit entsprechen, die ihn das Gespräch mit Klara wieder aktiv schalten ließ. Er betätigte den Regler am Headset und fragte: »Sind Sie noch dran?«
Ein Knistern. Dann eine atmosphärische Störung. Schließlich: »Ja, bin ich. Aber fragen Sie mich nicht, weshalb.«
Gott sei Dank.
Jules blinzelte, dann riss er das rechte Augenlid wieder weit auf. Hinter dem Spion erstreckte sich noch immer der finstere Hausflur, doch das Licht in der Küche brannte und beleuchtete den Flur, in dem er stand und der so real war wie die Kommode, das Bild mit der gezeichneten Kreidefelsenküste über der Kommode und dem Schlüsselbund an der Tür, das sich jedoch nicht mehr bewegte.
Habe ich mir das am Ende alles nur eingebildet?