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Klara
Z
ittrige Hände, Herzrasen, Schweißausbruch. Hätte Klara ihre Symptome gegoogelt, wäre sie wohl zu dem Ergebnis gekommen, dass sie sich die Mühe eines Suizids nicht mehr machen müsse, da sie kurz vor einem tödlichen Herzinfarkt stand. Aber sie kannte ihren Körper und wusste, dass sie einfach unterzuckert war und dringend etwas essen musste, am besten etwas Süßes.
Zum Glück gab es im Küchenschrank noch einige unverwüstliche Müsliriegel, die zwar trocken schmeckten, jedoch den Blutzuckerspiegel fürs Erste wieder ins Lot brachten.
»Ich bin nur am Apparat geblieben, weil Sie mir Ihren Teil der Abmachung noch schuldig sind.«
»Die gewaltfreie Suizidmethode?«, fragte Jules.
Klara räusperte sich. Ihre Kehle schmerzte noch immer. »Ja.«
»Wenn ich es Ihnen jetzt sage, könnten Sie damit sowieso nichts anfangen.«
»Weil Sie mich für zu schwach halten?«
»Weil die Baumärkte geschlossen haben. Das, was Sie für Ihren Suizid brauchen, kostet nur wenige Euro, aber Sie kriegen es nicht mitten in der Nacht.«
»Sie sind ein Arschloch.«
»Und Sie sind das, was der Kalender-Killer Ihnen auf den Kopf zugesagt hat.«
»Und das wäre?«
»Schwach. Sie sind ein schwacher Mensch, Klara. Das meine ich nicht als Vorwurf. Ich bin es auch. Meine Schwäche hat mich das Wichtigste in meinem Leben gekostet.«
Ihre Familie,
dachte Klara, ohne es auszusprechen, wobei sie es besser hätte tun sollen, denn dann würde ihr Begleiter sie vielleicht mit seinen Vorträgen verschonen.
»Viele neigen dazu, sich selbst zu verleugnen und es allen recht machen zu wollen. Meine Mutter zum Beispiel hat jahrelang die Eskapaden meines Vaters ertragen. Wenn er besoffen von der Arbeit kam, hat sie ihm lächelnd das Essen hingestellt. Wenn er sich beschwerte, dass es aufgewärmt war, hat sie kein Wort darüber verloren, dass er drei Stunden zu spät kam, weil er noch in der Kneipe abhängen musste. Und wenn er sie schlug, erklärte sie uns Kindern, es wäre ihre Schuld; sie hätte wissen müssen, dass er nach so einem anstrengenden Tag ihr Parfum nicht ertrug, das sie extra für ihn aufgelegt hatte. Viele Menschen sind so wie meine Mutter. Sie verbiegen sich so sehr, dass sie am Ende eher den eigenen Tod in Kauf nehmen, als aktiv zu handeln.«
Klara seufzte ärgerlich. »Noch mal: Mein Mann hat Geld, Macht, Einfluss. Sein bester Freund ist die rechte Hand des Polizeipräsidenten. Mit dem Bürgermeister spielt er einmal die Woche Squash. Und er ist so beliebt und charmant in der Öffentlichkeit – nicht einmal meine Freundinnen glauben mir, dass er eine dunkle Seite hat. Und die kommt ja auch nicht immer zum Vorschein. Nach seinen Exzessen ist er manchmal wochenlang der einfühlsamste, sensibelste Ehemann auf Erden. So liebevoll, dass ich selbst fast vergessen könnte, wie er wirklich ist.«
»Die Honeymoon-Phase«, bestätigte Jules. Auf die Schläge folgten standardmäßig Entschuldigungen und Geschenke.
»Ganz genau. Und in solch einer Honeymoon-Phase ist er charismatischer als George Clooney. Wenn Martin meinen gesamten Freundeskreis täuschen kann, wie soll ich dann eine fremde Familienrichterin überzeugen?«
»Aber denken Sie gar nicht daran, welche Wirkung das auf Ihr Kind hat? Gerade in jungen Jahren bekommt sie viel mehr mit, als Sie denken. Das wird, wie heißt sie noch mal …?«
»Amelie.«
»… das wird Amelie fürs Leben prägen. Wollen Sie sie wirklich mit diesem Monster alleine lassen?«
»Ich hab doch keine Wahl! Ich kann Martin nicht verlassen und Amelie mitnehmen. Egal, auf welche Art ich fortgehe, Amelie wird bei Martin bleiben. Sie wird das selbst wollen, wenn ein Richter sie fragt, denn zu ihr war er nie ein Monster.«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Doch, das zwischen Martin und mir ist eine ganz besondere Machtsituation. Zu Beginn unserer Beziehung war ich ihm zu stark und zu selbstbewusst. Es bringt ihm nichts, ein kleines Kind zu dominieren. Martin bekommt den Kick davon, eine erwachsene, starke Frau zu brechen.«
»Was er ja wohl geschafft hat«, sagte Jules.
Unschwer zu erkennen,
dachte Klara resigniert. Wieder kämpfte sie mit den Tränen. »Ich hab nur noch eine Sache selbst in der Hand, und das ist mein Tod. Schauen Sie, mein Leben ist doch ohnehin schon die Hölle. Selbstmord ist da das kleinere Übel mit derselben Folge, dass ich mein Kind verliere. Nur eben ohne die ununterbrochen andauernden Seelenqualen, die ich am eigenen Leib erfahre, wenn er mir Amelie wegnimmt und mich ein Leben lang leiden lässt, weil ich es gewagt habe, gegen ihn aufzubegehren.«
»Das ist Quatsch, und das wissen Sie. Alles Ausreden einer schwachen Frau. Sie haben doch nicht nur die Alternative zwischen Selbstmord und Frauenhaus.«
»Was bleibt mir denn sonst?«, blaffte sie zurück.
»Ich rate Ihnen, an Ihre Wut zu denken. Sie zerfrisst Sie, richtig?«
»Ja.«
»Dann machen Sie es wie beim Tennis. Spielen Sie volley. Nutzen Sie die Kraft des Gegners, weichen Sie nicht zurück, sondern halten Sie den Schläger hin und richten Sie seine Kraft ungefiltert gegen ihn selbst, um ihn zu vernichten.«
Klaras Stimme klang fassungslos, regelrecht entrückt, als sie zu Jules sagte: »Allen Ernstes? Das ist Ihr Rat? Sie meinen also auch wie Yannick, ich soll Martin töten?«
Sie hörte am Rascheln in der Leitung, wie der Begleiter am anderen Ende den Kopf schüttelte. »Ihr Mann ist im Moment nicht Ihr größter Gegner. Er will Sie quälen. Töten hingegen will Sie jemand anderes.«
Yannick …
»Hören Sie auf, so passiv zu sein, Klara. Was haben Sie denn zu verlieren? Ihren Tod haben Sie doch schon einkalkuliert. Holen Sie sich Ihr Leben zurück. Ein Leben mit Ihrer Tochter. Ohne Angst. Doch das schaffen Sie nur, wenn Sie Prioritäten setzen und sich zunächst um die größere Lebensgefahr kümmern.«
Klara schüttelte den Kopf. Wie oft hatte sie diesen Gedankengang schon durchgespielt und war immer wieder zu dem Ergebnis gekommen, dass ihr Leben längst vorbei war und nicht »zurückgeholt« werden konnte.
»Was genau schlagen Sie vor, soll ich tun?«, fragte sie, ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen.
»Zunächst mal müssen Sie Yannick zuvorkommen. Sie dürfen nicht wie das Kaninchen im Bau auf das Raubtier warten. Sie müssen seine Identität aufklären.«
»Noch mal: Ich weiß nicht, wo er sich aufhält!«
»Aber er weiß anscheinend, wo Sie sich versteckt halten, wenn das alles stimmt, was Sie mir erzählt haben. Sagen Sie mir, wo Sie sind. Ich versuche, Sie zu beschützen, sobald er bei Ihnen auftaucht.«
»So ein Schwachsinn. Wie wollen Sie das anstellen? Meinen Sie etwa, Sie sind einem Menschen gewachsen, der zerstückelte Leichen in seinem Wasserbett aufbewahrt?«
»Ich nicht, aber die Polizei.«
»Die erst tätig wird, wenn ich Beweise habe.«
Klaras ohnehin trockener Hals fühlte sich vom vielen Reden ganz wund an. Sie ging zum Kühlschrank, um sich ein Mineralwasser zu nehmen.
»Wenn Yannick oder wie auch immer der Kerl heißt, auf frischer Tat ertappt wird, gibt es Beweise genug«, stellte Jules fest.
»Was, wenn er mich einfach erschießt? Wer sagt Ihnen, dass Ihnen genügend Zeit bleibt, mir zu helfen, sobald er auf der Bildfläche erscheint?«
Sie öffnete die Kühlschranktür und schloss, vom Innenraumlicht geblendet, die Augen, doch das half nicht, die Bilder zu verdrängen, die ihr als Antwort auf die eigene Frage in den Sinn gekommen waren. Wenn Yannick wirklich der Kalender-Killer war, woran sie keinen Zweifel hatte, würde er sie abstechen und mit ihrem Blut das Datum ihres Todes an die Wand malen.
»Die Polizei wird rechtzeitig eingreifen, wenn sie weiß, wohin sie kommen muss.«
»Und wenn nicht? Wenn sie zu früh einschreitet? Dann haben sie nichts gegen ihn in der Hand. Ich hab das alles Tausende Male durchgespielt. Es ist sinnlos.«
»Sie irren sich …«, setzte Jules an, doch sie nahm das Telefon vom Ohr, als sie die Geräusche vor der Laube hörte.
Das Knirschen und Brummen.
Sofort schloss Klara den Kühlschrank wieder, vermutlich zu spät. Von draußen in der Dunkelheit war das Licht bestimmt wie das Leuchtsignal eines Schiffes in Seenot zu sehen gewesen.
Sie senkte automatisch die Stimme und zog die Schultern zusammen, als müsste sie sich schon jetzt vor der Gefahr ducken, die sich der Hütte näherte.
»Wir verschwenden unsere Zeit. Es gibt nichts mehr zu diskutieren«, flüsterte sie.
»Klara, bitte hören Sie mir zu.«
»Nein. Sie hören mir zu. Es ist zu spät. Ich bekomme Besuch.«
Klara richtete ihr Handy auf das Fenster, das, von einem Lichtkegel gestreift, matt silbern aufblitzte. Wenige Sekunden später hielt der Wagen an.
»Von wem?«, hörte sie Jules unnötigerweise fragen.
»Es ist kurz nach Mitternacht.«
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»Das Ultimatum ist abgelaufen. Wir beide wissen also, von wem«, flüsterte Klara. »Und was er mit mir vorhat. Und danach mit Ihnen, wenn er mit mir fertig ist.«