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K lara wollte auflegen, doch dann zögerte sie. Sie hatte das Gefühl, sie kappe ihre einzige Rettungsleine, wenn sie das Telefonat beendete. Wobei sie sich in dem Moment, als sie draußen eine schwere Autotür zuschlagen hörte, fragte, für welches Leben sie auf einmal gerettet werden wollte. Immerhin hatte sie es ja selbst gerade erst beenden wollen.
Und allein deshalb, weil dir Jules ins Gewissen geredet hat, soll sich alles verändern? Blödsinn, Klara!
Statt erhobenen Hauptes zur Tür zu gehen, um sich ihrem Schicksal zu stellen, wich sie zurück und belastete dabei ihren geschwollenen Fuß so ungünstig, dass sie am liebsten aufgeschrien hätte. Ihr Knöchel fühlte sich an, als wäre er auf Kürbisgröße angeschwollen.
»Wieso humpelst du nicht einfach deinem Ende entgegen? Du willst doch gar nicht mehr!«, fragte die dunkle innere Stimme, die ihr in den letzten Tagen zugesetzt und sie in ihrem Selbstmordplan bestärkt hatte.
»Weil es nicht mehr selbstbestimmt ist«, gab die hellere Stimme in ihrem Kopf dem dunklen Teufel die erklärende Antwort: Es war eine Sache, selbst den letzten Schritt zu gehen. Eine völlig andere, sich einem anderen auszuliefern. Noch dazu einem Mann, der Spaß daran hatte, Frauen zu quälen, und der ihr keinen schmerzlosen Tod bereiten würde.
Wie hat er mich nur so schnell gefunden?
Sie hatte ihr Telefon in einem Kreuzberger Handyshop auf Spyware überprüfen lassen, und der fetthaarige Student hatte ihr versichert, dass es sauber wäre. Doch sie glaubte ihm nicht. Ihre Angst war stärker als ihr Vertrauen in die Technikkenntnisse eines ungepflegten Handy-Nerds.
Oder hat dieser Jules mich etwa doch geortet?
Draußen brachten schwere Schritte die Dielen vor dem Eingang zum Knarzen. Zielstrebig näherten sie sich der Tür des Wochenenddomizils; eine einfache Baumarkttür, etwas robuster als die Spanholztüren der anderen Lauben, aber kein unüberwindbares Hindernis für einen gewaltsamen Eindringling.
»Hallo?«
Die Männerstimme klang dumpf – trug er eine Maske? –, doch das war nicht so bedrohlich wie die Richtung, aus der sie kam. Der Killer stand nicht etwa draußen vor der Tür, sondern direkt neben ihr.
Klara fuhr herum und biss sich in der Dunkelheit der Hütte auf die Lippe, um vor Schreck nicht laut aufzuschreien. Sie blutete schon, als sie begriff, dass die Anspannung ihr einen Streich gespielt hatte.
Nicht der Eindringling hatte es auf wundersame Weise geschafft, durch die verschlossene Tür zu ihr in die Hütte zu kommen. Es war Jules, dessen Stimme sie hörte, denn ihr Handy war noch im Freisprechmodus.
»Klara, reden Sie mit mir!«
Zum Glück lag das Telefon nicht mehr auf dem Tisch, sondern steckte in ihrer Hosentasche, deren Futter Jules’ Stimme dämpfte. Wobei Klara befürchtete, der Killer könnte sie trotzdem gehört haben.
Sie erwartete jeden Moment, dass stahlkappenbewehrte Stiefel die Tür aus den Angeln treten würden, doch zu ihrem ungläubigen Staunen öffnete sie sich ohne hör- oder sichtbaren Krafteinsatz. Wie von Zauberhand bewegt, schwang die Eingangstür nach innen auf, und mit dem Licht des vor der Hütte parkenden Fahrzeugs drang ein kalter, schneedurchsetzter Wind herein.
Der Killer stand in der Tür wie ein Schauspieler beim großen Bühnenauftritt. Das Gesicht lag vollständig im Verborgenen, die Statur wirkte überlebensgroß durch den Schatten, den sie auf die Holzdielen warf. Er sagte kein Wort, auch nicht, als Klara aus ihrer Starre erwachte und den gellenden Schmerzen in ihrem Bein zum Trotz nach hinten rannte.
Zum Gartenausgang hinter der Speisekammer.
Sogleich begriff sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt, wenn sie nach vorne gespurtet und zurück zur Garagenverbindung gerannt wäre, bevor Yannick sie zu fassen bekam. Stattdessen stand sie vor dem verschlossenen Hinterausgang, hinter dem kein Fluchtfahrzeug auf sie wartete, sollte sie es überhaupt schaffen, die Tür mit dem in ihr eingelassenen Glasfenster zu öffnen.
Nein, nein, nein ...
Ihre schweißnasse Hand rutschte an dem runden Drehknauf ab, der sich keinen Millimeter weit bewegen ließ. Als sie sich erinnerte, dass sie in seinem Zentrum einen winzigen Druckknopf lösen musste, um die Verriegelung zu entsperren, war es zu spät.
Die Kälte wurde schneidend, Angstschweiß schien ihre Kleidung zu durchdringen, sie fühlte eine knochige, eisige Hand im Nacken, die sie mit aller Gewalt zurückriss. Roch den fauligen Atem des Todes …
Zum Glück nur in ihren Gedanken.
Vorerst.
Klara hörte ein Keuchen, und das war, anders als ihre Todesvision, überaus real und extrem nah. Sie hörte die Schritte des weiterhin stummen Eindringlings, dem es sicher Spaß machte, sein Opfer so in Bedrängnis zu sehen. Der sich womöglich darüber amüsierte, dass es ihr zwar gelungen war, die Hintertür endlich zu öffnen, dass sie dann aber auf der Holztreppe dahinter strauchelte und die Stufen hinab in die Schneeverwehung fiel.
Blitze stoben wie Funken beim Schweißen vor Klaras Augen.
»Ahhhh …«
Sie biss sich in die Hand, um ihren Schmerz nicht in die Dunkelheit zu schreien. Für einen Moment hockte sie in vollständiger Finsternis. Bis in den Gemüsegarten der Laube reichte das Licht des vorne noch mit laufendem Motor parkenden Wagens nicht.
Trotzdem meinte sie den Schatten über sich zu spüren, während sie versuchte, sich aus dem Vierfüßlerstand wieder aufzurichten.
Als sie es geschafft hatte und den Kopf zurück zur Laube wandte, konnte sie kaum etwas sehen, so dicht war das Schneetreiben.
Dichte, feuchte Flocken, die in ihrem Gesicht zu Eiskristallen zu explodieren schienen. Angeleuchtet von einer Taschenlampe, mit der der Killer die Umgebung absuchte. Sie spürte den Lichtstrahl wie eine Pistolenkugel. Von ihm getroffen, ließ sie sich fallen, auch wenn das eher lächerlich und komplett sinnlos war.
Wie ein Kind, das denkt, es würde nicht gesehen, wenn es sich die Augen zuhält.
Zu allem Übel hatte sie sich auf eine Pfütze geworfen, die nur von einer dünnen Eisschicht bedeckt war. Ihre Kleidung sog die Feuchtigkeit auf wie ein Schwamm. Die Kälte stach mit tausend Nadeln. Dann, als sie den Kopf hob und zurück zu dem Strahl der Taschenlampe sah, geschah das Unglaubliche.
Der Schatten des Killers schien ihr zuzunicken, ganz sicher war sie sich nicht. Doch dann kam er nicht etwa heraus, er richtete auch keine Schusswaffe auf sie. Tatsächlich schloss er die Tür.
Von innen!
Im nächsten Moment erlosch seine Taschenlampe, und damit verschwand auch die Silhouette hinter der Glasscheibe in der Tür.
Und mit der Dunkelheit schob sich die Kälte vollends in Klaras Bewusstsein, dieses Mal mit einer unbarmherzigen Wucht. Sie merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte, und das nicht allein vor Angst.
Großer Gott, bitte nicht …
Sie hatte etwas Entscheidendes vergessen.
Meine Jacke!
Sie hing noch über dem Stuhl in der Küche. Samt Portemonnaie und Schlüsseln.
Gottverdammt!
Kein Wunder, dass der Killer sich entspannt zurücklehnen konnte. Sie war verletzt, panisch und schon jetzt unterkühlt.
Und sie hatte nur zwei Optionen: zurück ins Haus, in die Höhle des Frauen mordenden Raubtiers. Oder spärlich bekleidet, mit einem angeknacksten Knöchel im Schneetreiben durch den Wald, der an ihre Laube grenzte. Sollte sie es überhaupt schaffen, ihn zu durchqueren, würde sie am Teufelssee landen, den Klara niemals würde überwinden können. Im Wasser wäre sie nach vier Minuten tot, und der Uferweg war viel zu weit.
Hinzu kam: Sobald der Killer merkte, dass sie sich für die Flucht durch den Wald entschieden hatte, konnte er dort einfach auf sie warten und sie einsammeln – zu Tode erschöpft, wie sie jetzt schon war.
Ich sitze in der Falle, dachte Klara.
Und machte sich auf den Weg noch tiefer in sie hinein.