25
Jules
J ules war zurück ins Wohnzimmer gegangen, verzweifelt bemüht, aus dem Rascheln und Rauschen in der Leitung einen sinnvollen Schluss zu ziehen, als ihm Klaras Worte wieder in den Sinn kamen.
»Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, aber es ist die Wahrheit. Sobald er herausfindet, dass wir Kontakt hatten, etwa weil er Ihre Nummer in meinem Handy findet, wird er Sie suchen und ebenfalls eliminieren wollen.«
Und auf einmal ließ ihm das Schlüsselbund keine Ruhe mehr. Jetzt wirst du auch noch paranoid.
Kopfschüttelnd ging Jules zurück zur Haustür und zog es ab.
Vorsorglich.
Für den im Grunde unvorstellbaren Fall, dass es tatsächlich jemand geschafft hatte, zu ihm in die Wohnung einzudringen, wollte er der Person nicht die Möglichkeit geben, sie hier zusammen einzuschließen. Schwer und kalt lag das Bund in seiner Hand, mit viel zu vielen Schlüsseln für eine einfache Wohnung. Eine schmerzhafte Erinnerung überkam ihn. Dajana hatte sich immer über ihn lustig gemacht, dass er wie ein Hausmeister herumlaufen würde. Er legte es auf die Anrichte neben der Tür und ging zum Schreibtisch.
»Hallo?«
Keine Antwort. Er meinte, Klara aufstöhnen gehört zu haben, dann schien sie sich zu bewegen. Aber das Knarren und Klappern konnte alles Mögliche bedeuten, zumal der Empfang anscheinend minütlich schlechter wurde.
Er ließ sich auf den Schreibtischsessel fallen und zog die Schublade auf, in der sich Kabel für Kleinstelektrogeräte befanden. Vergeblich suchte er nach einem Aufladekabel, das er mit einer Steckdose und seinem Mobiltelefon verbinden konnte, dessen Akku sich bald dem roten Bereich nähern würde. Er schaltete sein Mikrofon auf stumm, löste den linken Kopfhörer des Headsets vom Ohr und rief über Handy seinen Vater an. Der nahm das Gespräch schon an, bevor Jules es hatte läuten hören.
»Erklärst du mir jetzt endlich mal, was Phase ist?«
Jules rollte mit den Augen. Hans-Christian Tannberg merkte nicht, wie lächerlich er sich machte, wenn er Wörter für cool hielt, die in Wahrheit schon seit Jahren nicht mehr aktuell waren. Und die schon damals, als sie noch zum Jugendslang zählten, aus seinem Munde komplett albern geklungen hätten.
»Du musst etwas für mich herausfinden.«
»Hm, eigentlich wollte ich ja Nein sagen, aber wo du mich so lieb darum bittest.«
»Lass das Gequatsche, wir haben keine Zeit zu verlieren. Du hast ja mitbekommen, worum es geht.«
»Anscheinend um Leben und Tod.«
»Ganz genau. Die Frau, mit der ich gerade rede …«
»Was ich schon mal nicht verstehe«, fiel sein Vater ihm ins Wort, ungeachtet dessen, dass Jules sich genau das gerade erst verbeten hatte, »du arbeitest doch gar nicht mehr bei der 112?«
Jules musste sich beherrschen, den Briefbeschwerer nicht in den Fernseher zu werfen. Sein Vater hatte die Gabe, ihn in weniger als zehn Sekunden zur Weißglut zu treiben.
»Ich hab für Caesar die Schicht am Begleittelefon übernommen«, zischte er.
»Was ist ein Begleittelefon?«
Jules erklärte es ihm so knapp wie möglich.
»Hab ich begriffen. Aber wer in drei Teufels Namen ist Caesar?«
»Mein alter Schulfreund, wohnte damals direkt im Haus nebenan. Bevor wir in die Stadt gezogen sind. Du solltest ihn noch kennen. Er hat dich oft brüllen hören, wenn du nach Hause gekommen bist.«
»Ich erinnere mich gut an die Kaisers. Komplette Arschlochfamilie, ständig neue Autos und Malediven-Urlaube auf Pump. Und dieser lange, picklige Magnus war der Nervigste von allen. Der mit dem dämlichen Paragrafen-Tattoo auf dem Stinkefinger, richtig? Ich verstehe bis heute nicht, weshalb du dir solche Loser-Freunde angeln musstest, ich …«
»Schluss jetzt, hör mir zu: Die Frau, die mich angerufen hat, behauptet, Kontakt zum Kalender-Killer zu haben, sie befürchtet, sein nächstes Opfer zu sein. Bring alles über sie in Erfahrung, was du aus dem Personal beim Berger Hof rausfinden kannst. Ihr Name ist Klara.«
»Und weiter?«
»Will sie nicht sagen.«
»Na prima.«
»Aber ich hab andere Namen für dich: Daniel Kernik, Johannes Kiefer, Ivan Corzon. Angeblich Ärzte und Klinikleiter im Berger Hof.«
Jules zog einen karierten Schreibblock zu sich heran, riss das oberste, benutzte Blatt ab und testete die schwarze Mine eines Kugelschreibers. Während er seinem Vater kurz erklärte, dass Klara an einem psychiatrischen Experiment teilgenommen hatte, bei dem es um die künstliche Herbeiführung von Wahnvorstellungen ging, hielt er einzelne Begriffe für sich selbst auf dem Papierblock fest:
Klara, Nichtmedizinerin, vermutlich medizinisch-technische Assistentin, Paranoia???
»Corzon kenne ich«, stellte sein Vater fest. »Ich hab ihn schon nach Dajanas Tod durchleuchtet. Er ist unauffällig.«
Jules nickte. Der Name war auch ihm bekannt vorgekommen. Unmittelbar nach Dajanas Selbstmord hatte sein Vater aus eigenem Antrieb heraus recherchiert und im Berger Hof jeden Stein umgedreht für den Fall, dass die Klinik etwas mit der Tragödie zu tun hatte. Aber H. C. Tannberg hatte nach eigenen Aussagen nichts finden können. Keine Unregelmäßigkeit, kein Fehlverhalten der Ärzte und Pfleger, und das, obwohl er seine besten Leute im Team auf den Berger Hof angesetzt hatte.
»Kiefer und Kernik sagen mir nichts, aber ich häng mich morgen an den Apparillo.«
»Bist du taub oder blöd? Wie kommst du auf die Idee, das hätte Zeit bis morgen?«
»Wie kommst du auf die Idee, so mit mir sprechen zu dürfen?«
Jules lachte bitter auf. »Vielleicht, weil ich ein Video habe, das zeigt, wie du Mama die Scheiße aus dem Leib prügelst?«
Was gelogen war. Der einzige Film, der bewies, wie gewalttätig Hans-Christian Tannberg seiner Frau gegenüber gewesen war, war der, der in Jules’ Albträumen in Endlosschleife lief. Immer und immer wieder, seit er denken konnte.
»Wieso kannst du mir nicht so verzeihen wie deine Schwester?«
»Becci hat dir nicht verziehen. Sie ist nur höflicher als ich.«
Rebecca, Jules’ jüngere Schwester, war an der Gewalt zu Hause fast zerbrochen. Es hatte ein Schlüsselereignis gegeben. Da war ihr Vater bereits am helllichten Tag völlig betrunken vom Tennisclub nach Hause gekommen. Er hatte ein frühmorgendliches Match gegen einen wesentlich schlechteren Spieler verloren und war im Clubcasino gehänselt worden. Als geeignete Maßnahme, um sein Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, kam ihm in den Sinn, seinen Lieben zu Hause mittags eine ganz besondere »Eintopf-Kreation« zu servieren.
Sonntag war der einzige Tag in der Woche, an dem gemeinsam gegessen wurde. Gerade als Rebecca und Jules den ersten Löffel zum Mund geführt und sich über den salzigen Geschmack gewundert hatten, fing ihr Vater wie ein Wahnsinniger an zu lachen: »Seht euch eure Mutter an, dieses Wrack. Sie ist so schwach und so feige.«
Tatsächlich sah Jules’ Mutter noch blasser aus als sonst, ihre tief in den Höhlen liegenden Augen waren fahrig. Sie selbst hatte sich noch nichts aufgetan, was nicht ungewöhnlich war; sie hatte ohnehin nur selten Appetit und bekam oftmals tagelang keinen Bissen herunter.
»SEHT SIE EUCH AN !«, schrie Hans-Christian Tannberg und deutete mit einer Gabel auf die jämmerliche Gestalt, die auf dem Hochzeitsfoto auf dem Kaminsims noch zwanzig Kilo mehr gewogen hatte.
»Sie vergiftet lieber ihre Kinder, als einmal den Arsch in der Hose zu haben.«
Und dann gestand er, was er getan hatte. Kaum dass er nach Hause gekommen war, hatte er sich den Topf vom Herd gegriffen, hineingepinkelt und seine Frau gezwungen, das »Essen« zu servieren.
Es war drei Tage vor Rebeccas zwölftem Geburtstag. Der Tag, als sie wieder mit dem Bettnässen anfing. Es hörte erst auf, als ihre Mutter eines Nachts verschwunden war und Hans-Christian Tannberg sein Opfer verloren hatte, das er drangsalieren konnte.
»Kannst du mir wirklich nicht vergeben?«, fragte er seinen Sohn heute, Jahrzehnte später.
»Ich überleg’s mir, sobald du ein besserer Mensch geworden bist.«
Ohne Wochenendbesäufnisse. Ohne ständig wechselnde Bettgeschichten. Wenn Jules darüber nachdachte, war er sich fast sicher, dass es nicht allein die Schläge gewesen waren, die Mama hatten frühzeitig altern lassen. Hinzu kam die Demütigung, regelmäßig von ihrem Mann betrogen zu werden, dessen gutes Aussehen vom vielen Alkohol in seinem Blut geradezu konserviert wurde. Von Jahr zu Jahr hatte H. C. mehr getrunken und sich durch mehr fremde Betten gevögelt, und von Jahr zu Jahr alterte er nicht einen Tag, während Mama immer mehr in sich zerfiel.
»Und dennoch war sie zäh genug, uns einfach zu verlassen. Weiß der Geier, wo sie verreckt ist«, hatte sein Vater ihm einmal als »Gutenachtgeschichte« mit in den Schlaf gegeben. Da war Mutter seit einem halben Jahr fort. Anders als Becci hatte Jules nicht um sie geweint. Natürlich hatte die ganze Sache auch ihm das Herz zerrissen, aber im Unterschied zu seiner jüngeren Schwester begriff er, dass es die einzige Möglichkeit gewesen war, um der Spirale der Gewalt zu entkommen. Zudem war er heute davon überzeugt, dass aus Becci niemals eine selbstbewusste, lebensbejahende Frau geworden wäre. Kinder versuchen, ihre Eltern nachzuahmen, gerade in den Prägejahren. Bis zu dem Tag des Verschwindens hatte Becci in ihrer Mutter kein Vorbild, sondern nur eine schwache, willenlose Frau gesehen. Als sie jedoch nicht mehr wiederkam, erfuhr Rebecca, dass es kein Gesetz des Schicksals gibt, dem man sich fügen muss, sondern dass eine Frau sich auch lösen und ihren eigenen Weg gehen kann. Einen Weg, der Rebecca bis nach Málaga führte, wo sie heute glücklich verheiratet mit zwei Kindern am Meer lebte und eine atemberaubende Karriere als Immobilienrechtsanwältin hinlegte.
»Melde dich, sobald du etwas herausgefunden hast«, sagte Jules zu seinem Vater. »Ich muss wissen, wo diese Klara wohnt. Sie hat ein Kind, etwa sieben Jahre alt, die Tochter heißt Amelie. Ihr Mann ist vermögend, viel mehr hab ich nicht.«
Jules war beim Sprechen aufgestanden, erst unbewusst, dann trieb ihn der Gedanke nach etwas Essbarem in die Küche. Mittlerweile schaffte es nicht einmal mehr die durch Klaras Telefonat ausgelöste Anspannung, ihn von dem Knurren seines Magens abzulenken. Mit dem Handy am linken und dem Headset am rechten Ohr, als wäre er die Karikatur eines durchgeknallten Managers, ging Jules durch den Flur zur Küche zurück. Auf Klaras Leitung hörte er weiterhin nur kaltes Rauschen, und auch sein Vater sagte keinen Ton mehr. Vermutlich war er damit beschäftigt, sich Jules’ Anweisungen zu notieren.
»Hast du das alles?«
»Ich denke ja. Viel ist es ja nicht.«
»Bitte tu dein Bestes.«
»Oh, du hast bitte gesagt«, stellte Hans-Christian fest. Diesmal legte er auf, bevor sein Sohn ihm zuvorkommen konnte.
Die plötzliche Stille im Ohr war unangenehm. Die Erinnerungen, die jedes Gespräch mit seinem Vater hervorrief, hinterließen einen dumpfen Schmerz.
Jules fühlte sich beim Betreten der Küche wie verprügelt, was zu den Geräuschen passte, die in Klaras Leitung einsetzten.